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29.09.2015
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Für immer

Für immer

Bleischwer lag sie auf diesem kalten, glatten Betonklotz. Arme und Beine sahen aus, als hätte sie jemand ganz zufällig neben ihrem Körper abgelegt. Sie war gerne hier. Hier war sie so sicher und vollständig wie an keinem anderen Ort. Kein einziger Gedanke in ihrem Kopf, keine Aufforderung, keine Ermutigung sich zu bewegen. Still, regungslos, ganz ruhig vertraute sie dem festen, harten Untergrund. Sie konzentrierte sich einzig und allein darauf zu atmen. Gleichmäßig ein- und ausatmen. Die Gleichmäßigkeit ihrer Atemzüge hielt sie hier auf dem Boden in Sicherheit. Die einzige Aufgabe, die das Leben an sie stellte. Ein- und Ausatmen. Nichts weiter. Das reichte für diesen Moment. „Kann ich etwas für Sie tun? Suchen sie etwas Bestimmtes?“ Die Frage kam unvermutet von links viel zu schnell, viel zu hoch. Nur nicht erschrecken, keine unüberlegten Bewegungen, ganz ruhig bleiben. Die andere hatte nichts bemerkt, hatte Anna nicht liegen sehen auf diesem kalten Stein, dessen Liegefläche sich langsam von ihrem Körper erwärmte. „Nein. Nein, vielen Dank. Ich schaue mich nur ein bisschen um. Wenn ich Hilfe benötige, dann melde ich mich.“ Annas Stimme kam von weit her. Als sie sich endlich hörte, war die Verkäuferin schon mit einer anderen Kundin im Gespräch. Lachen. Lautes, beinahe schrilles Lachen. So einfach ist das, wenn man sich bewegen kann.

Nach neun Jahren Bewegungslosigkeit waren Kopf und Glieder etwas lahm. Jeder Schritt ein Lernprozess. Erst waren es kleine Zuckungen mit Händen, Armen, Beinen und Füßen. Dann ein Tasten und Suchen bis sie irgendwann aufstand. Noch behielt sie den Betonklotz in Sichtweite für den Fall, dass sie müde wurde und sich doch noch einmal ausruhen wollte. Immerhin kannte sie sich dort gut aus und wusste, wie sie sich auf dem glatten Material festhalten konnte ohne abzurutschen. Das kann nicht jeder. Viele lassen irgendwann los und stürzen in die Tiefe. Anna hatte die besten Gründe gehabt, nicht zu rutschen. Ab und zu ausruhen, ab und zu müde werden, aber niemals stürzen. Die beiden Gründe waren damals fünf und drei Jahre alt und sie hatten alles Recht dieser Welt glücklich zu sein. Unbehelligt und glücklich. Und genau das war der eine Gedanke, der ihr immer wieder half aufzustehen und weiter zu gehen. Kleine Hände in großer Hand. Das Versprechen auf ein unbeschwertes Leben einlösen. Eine geplante Hoffnung. Erst streichholzgroß, dann ein fertiger Mensch. Eine Liebe so unerschütterlich wie der Betonklotz. Augen, die suchen, Hände, die finden. Langsam schob sie die Bügel von links nach rechts und begutachtete, was darauf angeboten wurde. Sie hatte keine Vorstellung von dem was sie suchte. Kramte in ihrer Erinnerung wie es sich anfühlte das Richtige in Händen zu halten. Die Neugier auf das eigene Spiegelbild. Den Mut hinzusehen ohne die Worte der anderen zu denken. Sich selbst zu begegnen. Außerhalb ihres kleinen Familienaquariums.

Das Leben ist eine Kette von Ereignissen, die passieren, damit wir uns selber entdecken. So einfach war Tims Sicht auf die Dinge. Es war auch gar nicht als Erklärung gemeint, sondern als Plädoyer für den Freispruch von Pflicht und Verantwortung für etwas, das nicht zu ihm gepasst hatte. Er wollte das Versprechen auf ein unbeschwertes Leben nicht einlösen. Wie hätte er wissen sollen, dass sie ihm Angst machten. Angst jemand anderes zu werden. Angst weniger geliebt zu werden. Angst seine Zeit zu verlieren. Ein Plädoyer für den Mut Freiheit mittendrin neu zu definieren. Also sammelte Tim seine Zeit so schnell ein, dass kein weiteres Wort dazwischen passte und nahm alle Stunden, Minuten und Sekunden mit an einen anderen Ort. Als Anna das erste Mal alleine auf das Meer blickte, lagen vor ihr die Möglichkeiten der Zukunft und hinter ihr stand die Vergangenheit. Beides wollte Ausschließlichkeit und ließ der Gegenwart keinen Platz. Kleine Hände in großer Hand, das war die Gegenwart. Und sie schuf einen Ort für die Gegenwart ihres neuen Lebens. Ein hocheffizientes Dreiergestirn verbunden durch eine Liebe, die noch nichts davon ahnte wie leicht und schwer es sein würde zu leben.

Anna traf sich mit Freunden im Theater zu der Vorstellung des jährlichen Tanzfestivals. Diesen Teil des Abends machten die anderen ihr zuliebe mit. Sie war es, die das Tanzen so sehr liebte, dass es sie für diesen einen Augenblick mit fort nahm. In eine Welt, die nur derjenige betreten kann, der weiß, wie es ist mit der Musik, Raum und Zeit zu verlassen. Nicht dem Körper die Bewegung zu befehlen, sondern den Bewegungen des Körpers im Rhythmus der Musik zu folgen. Tanzen, ein Dialog zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Wenn man etwas derart Wunderbares erlebt hat, werden große Dinge klein. Die Banalität des Lebens löst sich in neuer Lebendigkeit auf. In allem offenbart sich dieses Besondere, das erst vor wenigen Minuten die Seele erreicht hat. Mit einem Mal bewegen sich die Menschen langsamer, bewusster. Sie beobachtete so oft nach einer Vorstellung, wie sie ihre Mäntel abholten, ihre eigenen Bewegungen neu entdeckten. Spätestens an dieser Stelle stiegen die anderen jedes Mal aus und warteten mitfühlend auf den zweiten Teil des Abends. Den lebendigen, realen Lebensmoment. Der ihnen gemeinsame Geschichten hinterließ, geteilte Erinnerungen und das Gewicht der Vergangenheit durch die Leichtigkeit der Gegenwart abzulösen versuchte.

„Das sieht wirklich gut aus. Du kannst so gehen.“ Sammy wartete nicht auf die Antwort ihrer Mutter. Die Beratung war hiermit beendet. Mit fünfzehn ist der Maßstab für schön oder hässlich das Innenleben des eigenen Kleiderschranks. Und da dieser nichts mit ihrer Mutter zu tun hat, war dies ein ausreichend klärender Beitrag. Anna und Sammy waren keine Freundinnen geworden, darauf hatte Anna großen Wert gelegt. Sie war der Mensch im Leben ihrer Kinder, der die Leitplanken setzte, der immer da war, um zu trösten, zu ermutigen und zu helfen dem Leben die Tür zu öffnen, um es herein zulassen. Auch wenn ein Sturm sie mal zugeschlagen hatte. Sammy machte sich keine Gedanken um ihre Mutter. Sie hatte nicht das Gefühl, dass sie wirklich Unterstützung brauchte. Sie war eine Kämpferin. Sie hatte dafür gekämpft, dass sie zusammen bleiben konnten, sie hatte sich in einer Männerbranche in die erste Reihe gekämpft und sie hatte sich aus den gesellschaftlichen Zwangsvorstellungen ihrer Familie frei gekämpft. Außerdem ging sie nur mit Freunden ins Theater. Sammy kannte sie alle. Sie waren cool, jeder auf seine Art dem Alltäglichen entrückt. Etwas durchgeknallt, aber cool. Vor allem Marjorie und Marcel spielten eine wichtige Rolle. Marjorie, die moderne Fassung einer Johanna von Orleans. Die heute mit Mann, drei Pferden, vier Hunden, einer Katze und zahlreichen Maulwürfen einen großen Bauernhof in ein modernes Landhaus mit Stallungen verwandelt hatte und deren Tür immer offen stand. Sammy liebte Marjories Geschichten aus ihrer Jugend. Eine Punk Prinzessin, kompromisslos auf der Suche nach Wahrheiten jenseits der sicheren Bürgerlichkeit ihres Elternhauses. Und obwohl sie früh gelernt hatte zu fliegen, war Marjorie heute tief verwurzelt in ihrem Leben auf dem Land, in das sie mit großem Herzen viele Menschen einlud. Sie hatte ihre Wahrheit gefunden. Ein Leben nicht zum Zeitvertreib, sondern zum Teilen. Sie gehörten schon fast zur Familie. Hatten aus dem Dreiergestirn oft eine große Familie gemacht und die Abwesenheit des zweiten Elternteils leise und unbemerkt in Vergessenheit geraten lassen. Warum also schon Theater vor dem Theater? Sie verzog sich in ihr Zimmer und schloss die Tür. Ein sicheres Zeichen für den Rückzug in die Welt eines Teenagers, umhüllt von einem Schutzwall aus lauter Musik. Das Leben vor dieser Tür aktuell eine Folge von Ereignissen, die sie nichts angingen. Und wann immer sie wollte, konnte sie sich dem Fluss der Dinge in den Weg stellen. Jetzt wollte sie absolut nicht. Sie fing an ein Bild zu malen. Irgendwann würde es den Titel „Emptiness“ tragen.

Sie hatten sich im Foyer des Theaters verabredet. Es war ein kleines Gebäude und obwohl das Architektengremium ein klassisches Arenatheater modern gedacht hatte, schien es ihr immer wieder als lege sich das Gebäude stilistisch nicht eindeutig fest. Für moderne Klarheit war mit zu viel Plüsch und organischen Formen gearbeitet worden, für barocke Schwere mangelte es an royalen Insignien bezogen auf Architektur und Ausstattung. Allerdings verliehen die schwebenden Freitreppen und dünnen Rundstützen dem Gebäude eine beinahe schüchterne Eleganz, die sich nur schwer gegen den imposanten elliptischen Bühnenturm durchsetzen konnte. Und es gab einen Innenhof, der in den Pausen für nikotinbegeisterte Gäste geöffnet wurde. Zwei alte Buchen umrahmt von Steinskulpturen bildeten den Mittelpunkt und es schien, als würden sie mächtig und erhaben über die Kunst wachen. Anna liebte das Theater, reiste bekannten Ensembles in große Städte hinterher, kannte jedes Musical und jede Oper. Hier waren ihre Träume Zuhause. Hier konnte sie völlig frei die Sicherheitszone des Alltags verlassen, sich bewegen und davon träumen, wenn es soweit war. Marcel und Marjorie waren die ersten und hielten bereits ein Glas Sekt in der Hand. Korruptions- und Besänftigungsmittel für Marcel, der sein Mitkommen immer wieder gerne als reinen Liebesdienst auswies und bei der letzten Tanzveranstaltung nach einem langen Arbeitstag friedlich und - seiner bilderbuchmäßigen Nasenanatomie sei Dank - geräuschlos den größten Teil der Vorstellung verschlafen hatte. Da die zweite Hälfte des Abends aus spontan gewählten Bars und Kneipen bestehen würde, war er trotzdem wieder mitgekommen. Der Einfachheit halber. In Wirklichkeit hatte er nur Angst hinterher nicht angemessen mit lästern zu können. Außerdem gehörte er zu den wenigen Eingeweihten, die wussten, dass Anna heute tanzend ihren Lebensunterhalt verdienen würde, hätte sie früher die elterlich gezogenen Lebensbahnen verlassen. Allerdings hatte Marcels vom Alkohol entfesseltes Unterbewusstsein manchmal das Bedürfnis, Anna zu trösten. Am liebsten mit dem Hinweis, dass sie mit diesem Beruf ihre Kinder alleine nicht so hätte großziehen können. Anna hatte es aufgegeben, darauf zu reagieren. Zum einen weil sie nie wusste wie viel Verstand in solchen Momenten noch nicht weinschwer eingeschlafen war, zum anderen, weil sie spätestens bei der Formulierung „so gut“ böse geworden wäre. Und dann hätte Marjorie Partei ergreifen müssen und der Abend wäre gelaufen. Das war keine Sache wert, die nicht mehr zu ändern war. Nach und nach vervollständigte sich der Trupp, bis sie zu siebt die Treppe ins Parkett hoch stiegen und ihre Plätze fanden. Normalerweise ging sie nicht mit, wenn wirklich alle im Liebes-Duo auftraten. Sie konnte es immer noch nicht leiden. Ein gesellschaftlicher Makel entworfen von einer Welt, die alles kommentiert, ohne zu wissen. Doch Judith und Selma hatten gar nicht erst gefragt, sondern die Karten besorgt und ihre Bedenken mit dem Terminvermerk an die Pinwand in der Küche geheftet. Wie immer war Anna nervös, sie spürte die Aufregung hinter den Vorhängen und freute sich so sehr auf diesen Abend. Die eigene kleine Welt großer Dinge löste sich auf. Eingehüllt in die Dunkelheit des Theaters verließ sie Zeit und Raum und tauchte ein in die Musik und die Bewegungen der Tänzer.

Sie hatte nichts erwartet. Nur mal wieder durch ein Fenster schauen in eine Welt, die nicht ihre geworden war. Plötzlich stand sie mittendrin. Ganz ohne Vorankündigung. Zwei Tänzer, ein Mann und eine Frau verfingen sich miteinander in der Musik. Ein unsichtbares Netz aus Wut, Angst und Versprechen. Sie konnte die Musik sehen und in ihrem Körper spüren. Seit ihrem 13. Lebensjahr war Annas linkes Ohr taub. An einem Freitag war sie zu spät nach Hause gekommen. Ihre Ballettlehrerin hatte mit ihr noch ein paar Sprünge geübt. Sie hatten die Zeit total vergessen und sich am Ende beide schrecklich beeilen müssen. Die eine, weil Zuhause ein Kind auf sie wartete, die andere weil Regeln wichtig waren und sie nun das Abendessen verpasste. Als Anna nach Hause kam, war das Essen vorbei und die Familienrunde aufgelöst. Ihre Mutter beseitigte die letzten Spuren in der Küche, ihr Vater saß vor dem Kamin und las. Beide Geschwister hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Anna hatte den Schlag nicht vermutet und ihn darum ungebremst mit voller Wucht aufgefangen. Sicher platziert auf das linke Ohr. Ein Schrei, ein furchtbarer Schmerz. Das Ohr hatte nachgegeben und eine warme Flüssigkeit lief seitlich herab und tropfte auf das Parkett. Seit dem konnte sie bestimmte Töne in der Musik nur vage wahrnehmen. Erst hatten sie gedacht, sie würde das Tanzen aufgeben, doch Anna lernte schnell die Musik zu spüren, sie zu sehen. Ihre Ballettlehrerin, Mitwisserin und Freundin, versuchte nicht es zu erklären. „Du wirst lernen die Musik zu sehen.“ Natürlich konnte man es als eine Art Unfall betrachten. Ihr Vater hatte das nicht gewollt und es war ihm für den Rest ihrer gemeinsamen Zeit unangenehm, dass er nicht kontrollierter gehandelt hatte. Ein Zwischenfall, der nicht passiert wäre, hätte Anna die Regeln befolgt. Anna lernte trotzdem nicht, dass das Einhalten von Regeln wichtiger ist als glücklich sein. Aber sie lernte Angst zu haben. Angst vor den Dingen, die man nicht sieht.

Jetzt sah sie die Musik in den Bewegungen des Tänzers. Jeder Schritt löste etwas in ihr aus, jede Drehung, jeder Sprung. Seine Bewegungen schienen nicht mal technisch brillant, er stand nicht sekundenlang in der Luft oder verblüffte mit Drehungen, die endlos schienen. Technische Perfektion, die sich selbst wichtig nimmt, schaffte in Annas Augen eine Distanz zum Publikum. Sie wollte zu offensichtlich Bewunderung und Anerkennung. Nein, es war das Verweilen in seinen Bewegungen, das Eins sein mit dem was Hände, Arme, Beine, Kopf taten, ein Fließen von Emotionen durch die Musik hindurch bis zum Teilen mit dem Partner. Das Publikum eine Zufallsbegegnung. Ein Dialog der Seelen in der Sprache der Körper. Ganz tief in ihr sprang etwas auf, das frei sein wollte, um zu leben. Was immer auch gerade geschah, es erhöhte diesen ganz normalen Augenblick einer Tanzaufführung in einem kleinen Theater zu einem Schlüsselmoment in ihrem Leben. Etwas Großartiges geschah, etwas von dem Anna keine Ahnung hatte. Sammy würde mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit einer 15jährigen sagen: „Das Besondere passiert nicht in dir, sondern nur in deiner Vorstellung. Ein Trugbild deiner emotionalen Phantasie. Oder Ausdruck einer Kurzsichtigkeit deiner Seele. Morgen ist es weg, so dass du dir etwas ausdenken musst, was bleiben kann.“

„Und wo gehen wir jetzt hin? Ich habe Hunger.“ Marjorie machte als erstes den Mund auf und kam Marcel schnell zuvor. Sie wusste, dass Anna bei ihr nicht so streng sein würde und ihr den schnellen Themenwechsel nachsah. Ihr würde sie nicht gleich unterstellen, dass es jetzt genug war und der kulturelle Teil hiermit beendet. Sie würden noch ein paar lobende Worte über das eine oder andere Stück austauschen und sich dann dieser Nacht zuwenden. Anna hatte keinen Hunger, weder auf spanische Vorspeisen noch auf nächtliche Zerstreuung. Bis zur Enttäuschung ihrer Freunde würde sie heute nicht kommen. Und der Ärger über ihr plötzliches Nachhause gehen, blieb in der Luft hängen. Irgendwo zwischen Besorgnis und Unverständnis würde er verschwinden. Und spätestens beim ersten Bier oder Wein verflogen sein. Auch ohne sie. Allerdings hätte ohne sie auch dieser erste Teil des Abends nicht statt gefunden. Anna ging mit dem kleinen Spalt in ihrer Seele nach Hause und leistete sich etwas sehr Persönliches. Zumindest wurde es das, als sie entdeckt wurde. Sie räumte die Möbel zur Seite und betrat den Tanzsaal. Fand eine Musik und ignorierte die Hilflosigkeit ihres Körpers. Hände und Arme funktionierten gut und alles andere blieb unbemerkt zwischen der Erinnerung an gestern und dem Erkennen von heute. Sie spürte dem Gefühl nach, das die Darbietung des Tänzers in ihr ausgelöst hatte. Ein paar von den Tönen konnte sie immer noch sehen. „Mama? Was machst du da?“ Sammy stand im Türrahmen und hatte weder eine Idee noch Verständnis für das was da gerade in ihrem verwüsteten Wohnzimmer passierte. „Wieso bist du schon Zuhause? Wolltet ihr nach der Vorstellung nicht noch gemeinsam irgendwo hingehen?“ Anna erschrak gar nicht. Dieser wieder entdeckte Teil blieb mutig und antwortete: „Ich hatte keine Lust mehr. Es ist etwas passiert. Aber das ist noch Privatsache.“ Sammy hatte sowieso keine Lust auf tiefschürfende Verstrickungen. Ohne darüber zu lachen, ließ sie es einfach das sein, was es war: die Sache ihrer Mutter.

Die Sache wurde für Anna wichtig, so wichtig, dass sie sich in ihrem Büro abends online für einen Anfänger Kurs anmeldete. Es blieb erst mal nur eine Sache zwischen ihr und dem Computer. Einmal die Woche, das würde zeitlich schon irgendwie gehen. „Es stimmte: Auch die Dinge haben Tränen“, dachte Anna, als sie ihre alten Trikots aus der hintersten Ecke des Kleiderschranks fischte. Ihre eigene Angst war groß genug. Sie stopfte alles wieder zurück und machte sich in einer formlosen Jogginghose und einem T-Shirt unsichtbar auf den Weg. Unsichtbar oder lächerlich, das würde sich zeigen. Auf dem Weg zur ersten Stunde ließ sie es zu, dass die Illusion zu Gedanken wurden und der Traum vergangener Tage ein Ausrufezeichen in die Gegenwart setzte. Und neben diesem Ausrufezeichen stand plötzlich ein Tänzer. Ein Tänzer, der sie die Musik sehen ließ. Der Tänzer aus dem Theater, der die Mauer um ihre Seele einen Spalt breit geöffnet hatte. Und wenn alles Neue einen Anfang braucht, dann war es genau dieser Moment. Dieser Augenblick in dem sie nicht weg sah, sich nicht hinter einer Inszenierung, einem Schutzwall aus Gedanken versteckte, sondern einfach nur da war. Es gibt viele Arten, Menschen in die Augen zu schauen. Interessiert. Aufmerksam. Auffordernd. Je nach dem warum man sich begegnet. Als Anna ihrem Lehrer in die Augen sah, hatte diese Begegnung keine Richtung und kein Ziel. Doch ganz tief unten in ihr wurde es hell und warm. Etwas regte sich, dass größer war als ihre Angst. Das ihr half, Tim sein zu lassen was er war, ohne erst verstanden zu haben. Etwas, das ihr half, die Angst zu überwinden und durch ihn, den Fremden all die Liebe in ihr wieder zu finden, die zwischen gestern und heute verschüttet worden war. Aus ihr wurde keine Tänzerin mehr, doch sie tauschte den Wunsch nach Sicherheit durch Perfektion gegen die Freiheit zu fühlen.

Jahre später erzählte sie ihm, der ihr ein wichtiger Freund geworden war, von diesem Moment und dieser tiefen Liebe in ihr. Eine Liebe, die nie begehrt hatte und doch so groß gewesen war, dass sie tagelang nichts hatte essen können, dass sie zu Beginn jeden Tag alle Schritte geübt hatte, um sich nicht zu blamieren. Eine Liebe, die einen verschollenen Teil von ihr wieder ins Leben geholt hatte. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass er mit einem Tänzer zusammenlebte. Und war beinahe erleichtert darüber, weil das was sie fühlte kein Ziel suchen musste. Nachdem Sie ihm das alles erzählt hatte, tanzte er eine kleine Schrittfolge als wäre sie ein großes Publikum, verbeugte sich mit großer Geste und blieb für immer.

 

Liebe Maria,

vielen Dank für dein Feedback. Vielleicht ist die Idee zu schwierig. Alles geschieht in einem einzigen Augenblick und rollt sich wie ein hauchdünner Teppich aus bis zum Leser. Ich werde über die Distanz nachdenken. Und ja, der Text ist nicht einfach.

Ich danke dir.

Amalia

 

Hallo Amalia (übrigens ein Name, der mir gefällt),

deinen Text habe ich bis zu einem gewissen Grad gern gelesen. Manches an "Wortpreziosen", an Poesie habe ich gefunden und mit dem "Betonklotz" auch eine schöne Metapher für all das, was uns von einem Leben fernhält, das mehr ist als die Wiederkehr der Gewohnheiten. (zumindest lese ich es so)

Und ja, der Text ist nicht einfach.
Und darin liegt die Schwierigkeit deines Textes. Ich glaube nicht, dass der Leser dafür verantwortlich ist, wenn ein Text nicht "zündet" (und der Autor sich möglicherweise sagt: okay, dann ist der Leser eben zu blöd, das nicht ganz so einfach zu verstehen), sondern der Autor ist es, der das, was er sagen will (wenn er denn etwas sagen will und es sich nicht im Sprachrausch erschöpft), auch transportieren sollte.

So viel im Allgemeinen. Ich glaube, dass der Text um die Hälfte gekürzt und konzentriert auf die Botschaft, verpackt in eine kleine Geschichte (der Theaterbesuch) richtig gut sein könnte, ja richtig gut, so aber ist es leider nur ein wortverliebtes Stück, das sich in sich selbst verliert. Dabei ist da so viel drin !

Das zum Beispiel, dieser Schluss, das berührt mich:

Nachdem Sie ihm das alles erzählt hatte, tanzte er eine kleine Schrittfolge als wäre sie ein großes Publikum, verbeugte sich mit großer Geste und blieb für immer.

viele Grüße und herzlich willkommen hier
Isegrims

 

Hallo Isegrims,

so war das nicht gemeint, dass der Autor alles schreiben darf ungeachtet der Tatsache, ob es den Leser erreicht oder nicht. Ich bin froh über die ehrliche Kritik und werde den Text kritisch überarbeiten.

Danke schön für dieses willkommen heißen
Amalia

 

Hallo Amalia,

ich stimme Isegrims zu, ein wenig kürzen wäre schön. Den Anfang habe ich ehrlich gesagt überhaupt nicht wirklich verstanden. Ich dachte sie sei 9 Jahre im Koma gelegen, dazu passte allerdings der Betonklotz nicht. Dann kam da plötzlich die Verkäuferin. Alles bisschen viel für mich.

Trotzdem konnte ich mir ein sehr gutes Bild von Anna und der Beziehung zu ihrer Tochter machen. Oft hatte ich das Gefühl du sagst etwas ohne etwas zu sagen (z.B. das ihr Vater sie schlug), dass kann man jetzt auch negativ auslegen ich finde sowas allerdings ziemlich cool.
Dann war da allerdings plötzlich dieser Tim von dem ich gar nicht weiß was er in der Geschichte zu suchen hat, außer mir noch mehr Knoten ins Gehirn zu drehen. Am Ende hab ich es dann gerafft (denke ich zumindestens), dass er der ist der für immer bleibt?

Nichtsdestotrotz finde ich den Kern der Geschichte wirklich schön, der ja auch irgendwie Mut machen soll :)!

Ganz liebe Grüße,
Lasmiranda

 

Hallo,

ich habe nur die ersten zwei, drei Absätze gelesen, weil sich danach die Erzählperspektive plötzlich ändert, und danach wieder, und das fand ich schwierig. Man kann als Leser dem Erzähltem kaum folgen. Die ersten beiden Absätze fand ich in sich geschlossen schon sehr gut, das klingt oft etwas gestelzt, dick aufgetragen, aber es entwickelt doch einen eigenen Sound. Ich habe zuerst auf eine Schaufensterpuppe getippt, die zum Leben erweckt wird, so magischer Realismus irgendwie, aber dann brach diese zauberige Stimmung ab, und dann kam ein so erklärender Absatz, der auf mich drangeschoben und wenig organisch wirkt.

Konstruktiv: Die Erzählstimme straffen, auf alles an Möchtegern-Poesie verzichten, denn ein Text wird aus sich heraus poetisch. Du könntest die Empfindungen und Emotionen, die du erzählst, entpacken, sie als Szenen und Dialog schreiben - ich glaube, das würde viel "entwirren."

Gruss, Jimmy

 

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