- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Für immer
Als sie so vor mir stand, so aufgelöst, so traurig, so wunderschön, war ich mehr als verwirrt. Ich sah sie an, sah ihr Gesicht, das ich schon so oft in all den Jahren gesehen hatte. Sah ihre Tränen, die ich so oft in letzter Zeit gesehen hatte. Und dann, dann sah ich ihre Augen, zum wahrscheinlich 648. Mal. Aber doch scheinbar zum 1. Mal wirklich.
Diese Augen – so groß, so hilflos, so traurig und doch - oder gerade deswegen? - so wunderschön.
Ich hatte immer geglaubt, die beiden seien das perfekte Paar. Füreinander bestimmt, füreinander geschaffen – ohne jeglichen Zweifel. Es war diese Mischung aus Vertrautheit, Zusammengehörigkeit und doch vollkommener Selbstständigkeit von zwei einzelnen Personen. Keiner war vom anderen in irgendeiner Form abhängig, sie lebten gemeinsam ihr Leben ohne sich jeweils selbst dabei aufzugeben. Das war bewundernswert, hatte ich doch schon mehr als genug Paare gesehen, die im ersten halben Jahr sehr ineinander verliebt waren und die kleinen und größeren vermeintlichen Fehler des anderen als >süß< oder >authentisch< beschrieben. Nachdem die erste Verliebtheit dann vorbei war, begannen sie sich Stück für Stück gegenseitig zurecht zu biegen, jeder der Partner >arbeitete an sich selbst<, um am Ende den Idealen des anderen zu entsprechen und vermeintlich glücklich zu sein. Nur, um irgendwann festzustellen, dass man selbst nicht mehr wusste, wer man war und der andere sein Interesse bereits verloren hatte.
Bei ihr war das anders gewesen. Wir waren bereits befreundet, bevor sie ihn kennen lernte, aus diesem Grund kann ich wirklich beurteilen, dass sie sich von ihrem Wesen und ihren Interessen her ihm in keinster Art und Weise angepasst hätte.
Und er vergötterte sie dafür – ich konnte es sehen. Jedes Mal, wenn wir etwas gemeinsam unternahmen, bemerkte ich, wie er sie ansah, wie er sie berührte.
Und sie? Sie liebte ihn dafür, dass er sie so sein ließ, wie sie war.
Bestimmt gab es auch noch andere Gründe für ihre Liebe zu ihm aber über so etwas sprachen wir nicht. Dies war eher ein Thema für Gespräche unter Frauen.
Warum dann alles so kam, wie es gekommen ist, kann ich nicht sagen. Die genauen Details hat sie mir nie erzählt. Ich glaube, sie selbst wollte das alles so genau auch nicht wissen – wozu auch? Es tat weh, sie litt – wozu Details, die alles doch eh nur noch schlimmer machten?
Jetzt stand sie vor mir, genauso aufgelöst wie an diesem Donnerstag vor zwei Monaten, an dem ihre Welt von einem Moment auf den nächsten zusammenbrach. Dabei hatte ich angenommen, dass es ihr schon etwas besser ging. Zumindest hatte es in den letzten drei Wochen so ausgesehen. Zwar war da immer noch dieser gehetzte, verwundete Ausdruck in ihren Augen, aber sie hatte zumindestens zeitweise wieder lachen können. Was war geschehen, das sie um die Fortschritte der vergangenen Wochen so zurück warf?
Ich trat zur Seite, ließ sie wortlos in meine Wohnung und sie ging an mir vorbei. Drei Schritte, dann blieb sie stehen und drehte sich zu mir um, während ich die Wohnungstür schloss und sie dann ebenfalls ansah.
„Er stand vor meiner Tür. Stand einfach vor meiner Tür und ...“ stammelte sie ungläubig ohne zum Ende zu kommen, während sich ihr Blick gedankenverloren auf den Fußboden richtete. Sie schwieg. Es schien, als ob sie die Geschehnisse noch einmal Revue passieren ließ, also gab ich ihr die Zeit, die sie benötigte, bevor sie weiterreden konnte.
Sie hob ihren Blick, sah mich an und ich sah Trauer, Verunsicherung – aber ich sah noch etwas. Und das ließ mich doch noch hoffen, dass die Fortschritte nicht vollends zunichte gemacht worden waren. Ich sah Wut!
Dann sprach sie weiter: „Er stand vor meiner Tür und sagte, dass es ihm leid tut. Dass es ihm leid tut und dass er leidet. Er LEIDET! ER!“ Die letzten beiden Worte spie sie mir ungläubig entgegen. Und damit schien ihre gesamte Kraft aufgebraucht und ihre Wut verflogen zu sein, denn sie schluchzte: „Wie kann er nur?“
Und damit brach sie in Tränen aus und ich ging die drei Schritte auf sie zu, fing sie auf und hielt sie fest. Sie weinte, weinte eine gefühlte Ewigkeit lang und ich wusste nicht genau, was ich sagen sollte. Ich strich ihr über den Rücken und irgendwann beruhigte sie sich, schluchzte in länger werdenden Abständen an mein Shirt und irgendwann fragte ich sie: „Und was hast du gesagt?“
Sie löste sich langsam von mir und ging einen Schritt zurück, wischte sich die Tränen von den Wangen und flüsterte: „Ich hab ihn einfach stehen lassen.“ Sie dachte noch einmal kurz darüber nach, dann kicherte sie – ein wenig wahnsinnig, wie ich fand – während sie noch einmal sagte: „Ich hab ihn einfach stehen lassen.“
Und mir fiel nichts Besseres ein als das: „Er ist ein mieses Arschloch!“
Kaum hatten diese Worte meinen Mund verlassen, tat es mir leid, denn sofort füllten sich ihre Augen erneut mit Tränen.
Er hatte ihr weh getan, so weh getan wie man es in einer 4 Jahre andauernden Beziehung mit Plänen für eine gemensame Zukunft nur tun konnte und dennoch liebte sie ihn. Liebte ihn und konnte es nicht ertragen, wenn jemand abfällig über ihn sprach.
Und dann, als ich mich für das gesagte – halbherzig, denn schließlich war es meine Meinung – entschuldigen wollte, in genau diesem Moment geschah es:
Als sie so vor mir stand, so aufgelöst, so traurig, so wunderschön, war ich mehr als verwirrt. Ich sah sie an, sah ihr Gesicht, das ich schon so oft in all den Jahren gesehen hatte. Sah ihre Tränen, die ich so oft in letzter Zeit gesehen hatte. Und dann, dann sah ich ihre Augen, zum wahrscheinlich 648. Mal. Aber doch scheinbar zum 1. Mal wirklich.
Diese Augen – so groß, so hilflos, so traurig und doch - oder gerade deswegen? - so wunderschön.
Sie sah mich an und ich konnte sehen, nein, ich konnte spüren, wie sie unter der Last des Schmerzes und der Verzweiflung fast zusammen brach. Und in diesem Moment blinzelte sie und zwei Tränen bahnten sich den Weg über ihr schönes Gesicht.
Noch immer standen wir uns gegenüber und noch immer sah sie mich an. Sah mir in meine Augen und ich hatte das Gefühl auch in meine Seele. Und da, da war plötzlich noch etwas anderes in ihrem Blick – es blitzte kurz, sehr kurz auf und es wirkte auf mich wie eine Frage. Eine Frage, die ich nicht verstand und auf die ich aus diesem Grund auch keine Antwort wusste. Alles, was ich in diesem Moment tun konnte, tun musste, war, den einen Schritt, den sie sich von mir entfernt hatte, auf sie zuzugehen. Aufmerksam sah sie mich an, ließ mein Gesicht dabei keine Sekunde unbeobachtet.
Mein Herz schlug schneller.
Als ich so nah vor ihr stand, konnte ich sie spüren. Und doch nicht wirklich, nicht ihren Körper. Aber ihre Wärme. Ihre Körperhaltung hatte sich verändert, nun eher neugierig abwartend, ihr Kopf war ganz leicht schräg gelegt und ihr Blick weiterhin fragend auf mein Gesicht gerichtet, keine weiteren Tränen mehr in diesem Moment.
Überwältigt von meinen plötzlichen Gefühlen zu ihr, hob ich vorsichtig meine rechte Hand, winkelte meine Finger leicht an, um mit der Rückseite meiner Finger ihre Wange zu berühren. Sie schloss ihre Augen, schmiegte sich gegen meine Hand und ich spürte, wie sich ihre Anspannung ein wenig von ihr löste.
Ihre Haut war zart und ihre Wimpern ragten lang und schwarz und dicht an ihren geschlossenen Lidern hervor. Ihre Lippen waren ein kleines Stück geöffnet und ich konnte ihren Atem spüren – warm und stoßweise.
Als ich ihre andere Wange mit meiner linken Hand berührte, öffnete sie langsam ihre Augen und sah mich an. Sämtliche Hiflosigkeit und Trauer, die vorher noch da gewesen waren, waren voll und ganz einem anderen Ausdruck gewichen. Ein Ausdruck, den ich so bisher noch bei niemandem gesehen hatte. Ein Ausdruck, den ich mit Worten nicht beschreiben kann. Dieser Ausdruck war es, der mich mich selbst verlieren und alles um mich herum vergessen ließ. Alles bis auf eine Frage, die sich mir ins Bewusstsein brannte.
Und dann, mit einem Mal war ich nicht mehr hier, nicht mehr in diesem Zimmer, in diesem Haus, in diesem Universum. Ich war weg, weit weg und das einzige was bei mir war, war sie.
Vorsichtig beugte ich mich zu ihr herunter, während sie sich mir ein kleines Stück entgegen streckte. Ansonsten hielt sie ganz still, als meine Fingerkuppen sanft ihren Hals und ihren Nacken berührten, während ich ihrem Gesicht immer näher kam und dabei ihren neugierig-fragenden Blick nicht loslassen konnte. Nur für einen kurzen Moment, eine kleine Sekunde ließ ich mich ablenken - und zwar von ihrem Mund.
Leicht geöffnet und sehr verlockend sah er aus und ich konnte ihren warmen Atem spüren bevor unsere Lippen sich fanden.
Weich, voll, zart und intensiv – das sind die Worte, die mir nach diesem Kuss durch den Kopf gingen. Während des Kusses konnte ich an nichts, an gar nichts denken.
Als sich unsere Lippen vorsichtig voneinander lösten, verharrte ich mit meinem Gesicht dicht vor ihrem, legte meine Stirn vorsichtig an ihre und mein Herz wusste in diesem Moment, was mein Verstand erst viel später – zu spät – erkennen sollte: ich war verloren. Für immer.
Mein Verstand war in diesem Moment nur mit dieser einen Frage beschäftigt: Er hatte sie betrogen. Wie um alles in der Welt hatte er sie in diesen Momenten des Hintergehens vergessen können?
#