Für immer und uns
Eine zarte Brise durchfuhr seine voluminöse braune Lockenpracht, als Jean Marie in sein Olivenbaguette biss. Genüsslich schmatzte er vor sich hin, als das gleißende Licht der Mittagssonne ihn zum Blinzeln brachte. Er roch an seinen unrasierten Achseln und richtete ein euphorisches Grinsen an seinen Gesprächspartner Gustave, der ungefähr zwei Köpfe größer als Jean Marie und mit einem großen, runden Bauch ausgestattet war.
„Ist das nicht herrlich?“
„Was meinst du? Etwa deinen Gestank?“, fragte Gustave, der etwas unbeholfen wirkte, mit einem kindlichen Lachen.
„Genau das! Ist das nicht wundervoll, Gustave?“
„Eigentlich nicht. Wieso?“
„Gustave, ich meine die Freiheit! Diesen einen winzigen Moment Freiheit, den wir seit Tagen erleben dürfen. Sowie diese Perfektion im Nichtperfekten“, sagte Jean Marie schmatzend als er beim Reden Teile seiner Nahrung unfreiwillig in das Gesicht Gustaves katapultierte.
„Ja. Ja schon… Irgendwie hast du recht.“
Danach trank Jean Marie einen Schluck.
„Hmm. Dieser Pinot Noir ist einfach exzellent. Und natürlich habe ich recht. Das hier ist unsere Heimat; unser Stück Bourgogne. Es sind diese Kindheits- und Jugendgefühle, die jede Schuppe meines Körpers durchfahren. Es ist genau dieser Moment, den ich komplett genieße. Es ist einen Augenblick so wie früher, wie damals in Frankreich.“
Jean Marie öffnete seine Brotdose und zeigte Gustave, der Jean Marie irritiert anschaute, deren Inhalt. Gustave verzog nur angeekelt sein Gesicht.
„Gustave, du Banause! Das sind Weinbergschnecken. Etwas so Köstliches habe ich schon lange nicht mehr gegessen! Du bist doch auch Franzose, so wie ich!“
„Jean Marie, du weißt doch gar nicht, was du sagst. Du siehst so glücklich aus. Lass mich diesen Augenblick festhalten!“
Als Gustave ein altes Smartphone aus seinem Jutebeutel zückte, sprang Jean Marie verängstigt auf und warf das Baguette nach ihm. Das Mobiltelefon fiel dabei auf den Boden der Waldlichtung.
„Du Idiot! Was soll das? Kein Wunder, dass dich die ganze Welt für einen naiven Trottel hält!“
Jean Marie rannte auf Gustave zu und sprang so oft mit voller Wucht auf das Mobiltelefon, bis es zerstört war.
„Ich wollte doch nur, dass dieser Moment unsterblich wird! Einen Moment, den wir nie vergessen“, jammerte Gustave.
„Und genau das…das will ich nicht. Ich will, dass dieser Moment in mir lebt und das bedeutet auch, dass ich ihn in vollen Zügen genieße, bis er wieder stirbt. Er soll nicht gefangen und künstlich am Leben gehalten werden! Er soll einzigartig sein. Du verschwendest qualitative Lebenszeit, indem du solch einen Moment durch ein Foto zerstörst. Der Moment soll auch nicht durch die Interpretationen anderer verfälscht werden. Es ist mein Moment! Ich will ihn nur mit dir teilen, weil ich ihn mit dir erlebe; nicht mit anderen. Du weißt doch genau, wozu dieser Bilderfluch in den letzten Monaten geführt hat!“, sagte Jean Marie erbost.
„Ja. Es tut mir leid. Zum Leben gehört immer der Tod. Alles andere ist unecht.“
Im Hintergrund ertönte das Geschrei eines Säuglings.
„Gustave, siehst du, was du angerichtet hast? Nun ist sie wach und durch dein Handy werden sie uns finden! Und dann werden sie ihr Leben zerstören! Wolltest du das, du Idiot?“
Beschämt schaute Gustave, dessen Gesicht, Hals und Nacken fast vollständig mit einem braunen bärtigen Flaum übersät waren, auf den Boden. Er trug zudem eine braune, mönchsähnliche Kutte.
„Natürlich nicht, Jean Marie. Ich bin auf deiner Seite. Du kennst doch meine Lebensgeschichte. In Frankreich hat alles angefangen und dann kannte mich bald die ganze Welt. Ich will nie wieder zurück, aber auch ich falle noch manchmal in alte Süchte und Muster zurück. Verzeih mir!“, traurig blickte Gustave auf den Boden, ehe er fortfuhr. „Außerdem ist das Handy aus. Dieses Teil hat seit Monaten keinen Akku mehr, aber irgendwie brauch ich es. Es fühlt sich gut an, wenn es in meiner Hand liegt. Ich lebe schon eine gefühlte Ewigkeit ohne jegliche Medien. Das weißt du doch. Aber dieses letzte Andenken hättest du mir ruhig gönnen können.“
Jean Marie rieb sich erschöpft die Augen seines zerkratzen Gesichts. Sein Körper war abgemagert. Er humpelte auf Gustave zu und umarmte ihn.
„Pardon. Ich wollte dich nicht anschreien und dich auch nicht beleidigen. Ich war nicht fair. Ich merke jetzt erst wieder, dass ich geträumt hatte. Es ist die Müdigkeit, die mich halluzinieren lässt. Wir sind gar nicht in der Bourgogne und wir essen auch keine Weinbergschnecken. Es sind nur Regenwürmer! Was mache ich Idiot hier eigentlich? Ich riskiere meine Mission!“
Jean Marie wirkte nachdenklich.
„Gustave, dies ist auch kein Pinot Noir. Es ist Trinkwasser, das sich mit meinem Blut vermischt hat. Wir sind komplett dehydriert. Es tut mir leid. Ich bin dir dankbar für all das, was du für mich tust. Das ist nicht selbstverständlich, obwohl wir beide zufälligerweise Franzosen sind. Ich kenne dich schließlich erst seit drei Tagen.“
Angewidert spuckte Jean Marie einen zerkauten Regenwurm aus und warf das trockene und längst verschimmelte Baguette auf den Boden. Misstrauisch ging er zu seinem großen, blauen Backpackerrucksack. Ein beißender Geruch entfleuchte, als er den Reißverschluss öffnete. Der Geruch zog Gustaves Aufmerksamkeit auf sich.
„Bah. Jean Marie. Sag doch endlich, was du da in deinem Rucksack hast. Es stinkt bestialisch. Es ist einfach nur widerlich!“
Jean Marie kramte eine weitere Trinkflasche hervor und zog den Reißverschluss des Rucksacks schnell zu.
„Das geht dich nichts an, mein Freund! Das ist meine Sache. Früher oder später wirst du es verstehen. Aber jetzt noch nicht.“
Jean Marie trank einen Schluck. Gustave wich Jean Maries leicht bedrohlich wirkendem Blick aus und senkte seinen Kopf. Danach nickte er resignierend. Jean Marie begab sich indes zu einem massiven Baum mit einer großen Einkerbung. Der Baum befand sich inmitten der Lichtung. Er griff dort hinein und zog einen kleinen selbstgeflochtenen Weidenkorb hervor. In dem Korb befand sich ein Säugling. Er war nackt; lediglich in ein weißes Leinentuch gewickelt. Es handelte sich um ein Mädchen, das nicht älter als ein paar Wochen war. Sie weinte ununterbrochen.
„Tsch. Tsch. Alles wird gut. Alles wird gut. Tsch. Tsch. Ich werde dafür sorgen, dass sie dich nicht finden. Ich weiß, du hast Angst, aber das brauchst du nicht. Papa ist da“, flüsterte Jean Marie in ihr Ohr.
Er versuchte sie zu beruhigen, indem er sie hin und her wiegte. Gerade als das Baby nach mehreren schaukelartigen Bewegungen entspannt seine Augen schloss, wurde Jean Marie nervös. Er schaute sich hektisch um, nachdem er ein wildes Rascheln vernommen hatte. Schnell legte er den Säugling zurück in den Korb und verdeckte sein ganzes Gesicht mit dem weißen Leinentuch, sodass das Baby gerade noch Luft bekam.
„Keine Sorge, Jean Marie! Das war nur der einsetzende Passat. Ich glaube nicht, dass dieser Scott uns gefolgt ist. Hier verirrt sich kaum einer hin.“
„Du weißt wie wertvoll sie ist. Ich denke nicht, dass Scott allein ist. Es geht um sehr viel Geld. Das weißt du. Er hat bestimmt Hilfe. Er wird niemals locker lassen.“
„Ich weiß. Ich war selber mal reich. Ich weiß, wozu diese Menschen im Stande sind. Ich war auch nicht besser, aber dieses Leben hat mich nicht erfüllt. Es ging nur um Geld und Ruhm. Weißt du, Jean Marie, ich weiß selber, dass ich nie die hellste Kerze auf der Torte war, aber ich hätte nie gedacht, dass ich aufgrund meines Aussehens und meiner anderen Art für alle nur eine Witzfigur mit vielen Klicks und Likes war, trotz des Geldes. Und jetzt wurde ich durch andere Freaks ersetzt. Das kannst du mir endlich mal glauben! Nun bin ich nichts mehr wert, aber ich war schon lange nicht mehr so glücklich wie mit dir und Epinette, auch wenn unsere Mission gerade anstrengend ist. Dank euch bin ich immerhin ein wertloser Glückspilz.“
Jean Marie hob noch einmal kurz das Leinentuch hoch und blickte in die kugelrunden und rehbraunen Augen des Säuglings. Das Baby war dunkelhäutig und hatte im Gegensatz zu Jean Marie einen exotischen Teint.
„Sie sieht aus wie Zarah!“, sagte Jean Marie und lächelte Gustave dabei an.
„Ich kannte sie nicht, aber nach all dem, was du mir erzählt hast, muss Zarah eine beeindruckende Frau gewesen sein.“
„Natürlich war sie das. Sie war feurig und stark, aber in intimen Momenten war sie auch liebevoll.“ Jean Marie wirkte einen Moment gedankenverloren ehe er fortfuhr.
„Wir beide haben für eine bessere Welt gekämpft. Sie hat sich für unsere Epinette geopfert. Aber ich muss zugeben, dass die Geburt im Wald eine dumme Idee war! Ich habe dabei Epinette gewonnen, aber so vieles…, so so vieles verloren. Ich hab mir das alles irgendwie anders vorgestellt“, sagte Jean Marie seufzend. „Aber nur so konnten wir garantieren, dass sie nicht registriert wird und sie so vor der möglichen Versklavung ihrer Seele retten. Als ich jung war, da haben Krankenhäuser noch keine Fotos von Neugeborenen gemacht und diese mit den zugehörigen Blut- und Speichelproben an Konzerne verschickt. Aber seit der Fusion der großen Internetmächte ist alles anders.“
Jean Marie wiegte das Baby gleichmäßig in seinen Armen und simulierte mit seiner schnalzenden Zunge den Takt eines Metronoms. Epinette schien sich zu beruhigen. Nachdem sie wieder eingeschlafen war, flüsterte er leise in ihr Ohr.
„Du bist meine Königin. Du bist etwas Besonderes, wie deine Mama. Epinette, du wirst selbstbestimmt aufwachsen, rein und ohne, dass du eine Ware bist. Keine Fotos wird es von dir geben!“ Jean Marie hielt einen kurzen Moment inne. „Es ist nun einmal so, dass schöne Blumen verwelken. Das ist der Lauf der Dinge. Und du gehörst wie Mama zu den schönsten Dingen, die die Natur hervorgebracht hat. Du bist besonders und nicht wie alle anderen.“