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Für einen kurzen Augenblick
19.50 Uhr
Es herrschte reges Treiben in der Zentralen Notaufnahme an diesem regnerischen und kalten Donnerstagabend Ende November. Scheinbar pausenlos klingelte das Telefon. Die leitende Oberschwester Karin Barth nahm den Hörer und unterbrach den dringenden und nervtötenden Klingelton für einen Moment.
„Städtisches Klinikum, Barth, Guten Abend, einen Augenblick bitte!“ Sie legte den Hörer auf die Seite und griff nach einem Stift der unter einem Stapel Papiere lag. „So, wie kann Ich Ihnen helfen?“ Schwester Karin kritzelte ein paar Zeilen auf ihren Block. „Ja, ist gut, wann seid ihr Jungs da?“. Sie tippte ein paar Zeichen auf ihre Tastatur. „Ich bereite dann mal alles vor, bis gleich!“. Schwester Sarah nahm ihren Platz an der Rezeption ein und griff nach dem Telefon das wieder klingelte. „Städtisches Klinikum, Linder, einen Augenblick bitte!
30 Minuten vorher
Polizeiobermeister Barth bot sich an der Unfallstelle ein Bild der Verwüstung. Unzählige Teile lagen verstreut auf einer Wiese, davor ein zerknülltes Auto dessen Fabrikat nur vage zu erahnen war, umwickelt um einen Baum. Notarzt und Sanitäter hatten den Fahrer bereits aus seinem Fahrzeug geborgen und leisteten Erste Hilfe. So wie das hier aussah hatte der Fahrer in der Kurve die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Dem Aufprall nach zu urteilen war er einfach zu schnell gefahren. Das passierte oft bei dieser Witterung, einen Augenblick unachtsam oder abgelenkt sein und schon war es vorbei.
Stunden später
Oberarzt Frank Werners Schicht war bald zu Ende, die letzte OP an dem Unfallfahrer hatte viel Kraft gekostet, doch sie hatten letztendlich sein Leben retten können. Er und sein Team hatten den Blutverlust zwar stoppen können und auch die inneren Organe waren nicht so sehr verletzt wie anfänglich vermutet – und doch wäre er ihnen beinahe entglitten. Er hatte ihn gerade zugemacht als sein Herz aufhörte zu schlagen. Sie konnten ihn zwar schließlich reanimieren doch für einen kurzen Augenblick hatte er gedacht, der schafft das nicht.
Er schnappte sich die Akte Norman Bader und ging auf die Intensivstation. Bevor er sich aufs Ohr legte wollte er nach seinem Patienten sehen. Er blickte kurz auf die Anzeigen der Monitore und beugte sich schließlich über Normans Bett. „Norman, Norman, können Sie mich hören? Sie werden wieder gesund! Es ist alles gutgegangen......!
Stunden vorher
Norman spürte einen leichten Sog, ähnlich einer kühlen Brise, der erst leicht und dann immer energischer an ihm zerrte. Er hatte das Gefühl nach oben oder nach hinten gezogen zu werden. Langsam klärte sich sein Blick und er sah wie mehrere Leute in weißen Kitteln sich um einen leblosen Körper scharten. Norman fand dies sehr verwirrend, und dieser Leblose kam ihm seltsam vertraut vor. Was passierte hier?
Er entfernte sich zunehmend von dieser Szene und schon bald darauf sah er unter sich ein ausgedehntes Lichtermeer. Häuser, Straßen und ganze Städte. Unter sich konnte er die Umrisse des italienischen Stiefels erkennen und wenige Augenblicke später sogar Europa in seiner Gesamtheit. Der Abstand vergrößerte sich zunehmend, die Lichtpunkte wurden kleiner und kurz darauf konnte Norman die dunklen Konturen einer Kugel sehen. Die Erde, bei Nacht! Welch erhebender Anblick. Norman war fasziniert und gleichzeitig sehr verwirrt. War er dieser leblose Körper da weit unten auf dem Kliniktisch? Starb er gerade oder war er schon tot? Norman fühlte sich seltsam leicht und sogar etwas euphorisch. Immer weiter zog es ihn weg von der ihm vertrauten Erde, die inzwischen schon fast nicht mehr sichtbar war. Dafür schob sich die Sonne langsam in sein Blickfeld. Er konnte, obwohl er, wie ihm jetzt auffiel, offenbar keinen Körper hatte, die Hitze deutlich spüren. Die Sonne, die Quelle des irdischen Lebens. Die Sonne wurde zu einem kleinen gelben Punkt in einem riesigen Lichtermeer. Wie imposant die Milchstraße von hier oben aussah. Norman wurde sich der Tatsache bewusst dass bisher kein Mensch die Milchstraße aus dieser Perspektive gesehen haben konnte. Die Abermilliarden funkelnden Sterne erhellten den Raum und blendeten ihn schier in ihrer leuchtenden Pracht. Norman versuchte den Sog, der weiter an ihm zerrte, zu vermindern oder zu stoppen. Ohne Erfolg. Eine zweite Galaxis rückte in sein Blickfeld, das musste Andromeda sein, nicht weniger imposant als die eigene Milchstraße. Unzählige blinkende leuchtende Lichter, eingebettet in einem Band aus glühendem Staub. Norman stockte der Atem, zumindest in übertragendem Sinn. Wie schön dieser Anblick war! Diese Farben! Nach einer kurzen Zeit wurden viele weitere Galaxien sichtbar die scheinbar strukturlos im Raum verteilt schienen. Erst nach und nach wurden die Ausmaße des Galaxienhaufens sichtbar, drei Dutzend Milchstraßen in allen möglichen Größen bildeten die sogenannte „Lokale Gruppe“. Weitere Haufen gruppierten sich zu einem Superhaufen, dessen Durchmesser viele Hundert Millionen Lichtjahre betragen musste. Norman versuchte die Eindrücke zu verarbeiten, schon jetzt hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Und so wie jede Struktur im All in einer weiteren Struktur aufging, so verteilten sich die unzähligen Superhaufen mit ihren tausenden von Galaxien wie Spinnweben auf einem Dachboden. Plötzlich setzte der Sog aus und Norman trieb antriebslos in einem „Void“ , dem Zwischenraum zwischen den Supergalaxienhaufen. Wohin er auch blickte sah Norman die feinen leuchtenden und filigranen Fäden ungezählter Galaxien und die noch größeren Zwischenräumen zwischen Ihnen. Auch wenn seine Reise zum Stillstand gekommen war, so bewegte sich doch etwas in sein Blickfeld. Das Weltall dehnte sich weiter aus, die feinen Fäden zwischen den Galaxienhaufen rissen auf und die Dynamik der Expansion des Alls geriet ins Stocken. Für einen Augenblick herrschte Stillstand, ein kurzer Augenblick für Norman, Millionen Jahre für die Bewohner einer dieser unendlich kleinen Welten.......! Norman wurde Zeuge des beginnenden Untergangs des Universums, die Entropie hatte ein bestimmtes Maß überschritten und das All begann wieder zu kontrahieren, es fiel wieder in sich zusammen. War Norman bisher durch den Raum gereist so schien es als würde er jetzt eine Zeitreise unternehmen – zum Ende der Zeit.
Rasend schnell stürzten die Galaxien aufeinander zu, in wenigen Augenblicken vergingen im Universum Jahrmilliarden um Jahrmilliarden. Sterne stürzten in schwarze Löcher, die immer größer und gefräßiger wurden und den gesamten interstellaren Staub wie einen Staubsauger in sich hineinsaugten. Jahrmilliarden später fraßen sich die Schwarzen Löcher schließlich selbst.
Norman fand keine Worte für diesen imposanten Anblick, ehrfürchtig verfolgte er wie die gefrässigen Monster sich erst gegenseitig anzogen um dann, die Raumzeit krümmend und starke Gravitationswellen aussendend, sich vereinten und weitere Schwarze Löcher in ihren Bann zogen. Erst nachdem das letzte Schwarze Loch den letzten Rest Materie aufgenommen hatte, der Raum zu einem mikroskopisch kleinen eindimensionalem Punkt geschrumpft war, hatte Norman das Ende der Zeit erreicht.
Norman begriff langsam die kosmischen Zusammenhänge. Er hatte Sterne entstehen und vergehen sehen, erlebt wie groß das Universum war, und jetzt, jetzt sah er das Ende der Welt, des gesamten Universums. Einen kurzen Augenblick lang war es ruhig, dunkel. Und er war alleine, nur seine Gedanken waren existent. Es gab keine Zeit mehr und keinen Raum, keine Energie und keine Materie. Nur Norman, den Fernmeldehandwerker. Schmerzhaft erinnerte er sich an ein früheres Dasein das er schon fast vergessen hatte. Norman Bader. Sein eigener Name kam ihm fremd vor, er war jetzt eins mit dem Universum, er spürte den Puls der Zeit, hatte gesehen was keiner vor ihm je gesehen hatte. Außer Gott vielleicht. Doch was würde jetzt passieren?
Gerade als er darüber nachdachte hörte er leise das Echo seines Namen, Noooormaaaaan, ganz dezent und unaufdringlich. Kaum hatte er es gehört da war es schon wieder weg. Norman schob den Gedanken auf die Seite und konzentrierte sich wieder auf die Singularität die einmal ein Universum gewesen war. Er hatte zunehmend das Gefühl nicht nur ein passiver Zuschauer zu sein. Was jetzt? Ihm fielen unter anderem die Schöpfungsgeschichte und ein Monty-Python-Film ein, auf einmal wusste er was zu tun war. Ein absurder Einfall, sicher, aber was konnte schon passieren? Norman konzentrierte sich auf einen Gedanken, einen finalen Satz: ES WERDE LICHT!
Und es passierte! Ein lautloser heller Blitz, ein Urknall, und die tiefe Schwärze wich einem hellen Weiß, das ihn einhüllte und nach wenigen Augenblicken einem roten Hintergrund wich. Das Universum entstand. Norman sah wie aus dem Ur-Plasma die Elemente entstanden, sich gruppierten, anzogen oder abstießen und schließlich miteinander reagierten. Die ersten Sterne entstanden.
Und wieder meinte Norman seinen Namen zu hören, „Noooormaaaaan“. Dringender, fordernder als zuvor. Der Sog zerrte wieder an ihm. Norman wehrte sich, jedoch ohne Ergebnis. Das neue Universum blieb als kleine expandierende Blase zurück, weitere Blasen wurden sichtbar. Alle Blasen schienen um einen zentralen Punkt zu rotieren. Norman musste an Atomkerne und all die Elementarteilchen denken die, so hatte er in der Schule gelernt, um einen Kern rasten und dabei so schnell unterwegs waren dass die Illusion einer Schale entstand. „Noooormaaaaan“. Der Sog verstärkte sich und die Bewegung nahm deutlich zu, an seinem geistigen Auge rasten namenlose Teilchen, Atome, Elektronen und Moleküle an ihm vorbei, verdichteten sich zu Strukturen, dann zu Stoffen und zu Farben. Und plötzlich, von einem Augenblick auf den anderen, herrschte Stillstand. Ein kurzer Moment der Ruhe, dann durchflutete Schmerz seinen regungslosen Körper. „Noooormaaaaan“. Die Stimme dröhnte in seinem Kopf, und er versuchte seine verklebten Augen zu öffnen. Helles Licht explodierte in seinen Augen und füllten sie mit Tränen. Norman blinzelte. Ein Mann sprach zu ihm: „........ hören? ... werden wieder gesund! ….. ist …... gutgegangen......! Auch wenn Sie für einen Augenblick so gut wie tot waren........! Das wird wieder!
Norman blinzelte und wollte etwas sagen, aber seine Stimme gehorchte ihm nicht. Das Gesicht vor ihm verschwand und Norman fing an zu weinen, und weinte, und weinte....!
(Alle Rechte bei Daniele Dell`Toro, 2014)