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Für die Ehre
Für die Ehre
Für die Ehre, für das Land!
Alle Bürger im wehrfähigen Alter sind dringend aufgerufen, sich den örtlichen Verteidigungslinien anzuschließen. Uniformen und Waffen werden an allen Sammelstellen im Sektor ausgegeben.
Neue Anschläge erfordern sofortiges Handeln! Schützen Sie Ihre Kinder vor dem Feind!
Führung, Sektor 73
Der Mann im grauen Overall schlägt den letzten Nagel ein und geht zum nächsten Pfahl. Die Reste alter Plakate reißt er heraus, bevor er die neue Mobilmachung über den Unrat platziert. Schon seit langem liest er die Plakate, die er aufklebt, kaum noch. Die Bilder von voranstürmenden Soldaten lassen ihn kalt. Nicht einmal dieses hier lässt ihn noch aufsehen. Das Bild des fünfjährigen Kindes, das aus dem Plakat anklagend zu ihm herausstarrt, die hingeworfene Sprechblase: "Verteidige mich, verteidige das Land!", verfehlen bei ihm jede Wirkung. Er hat zu viele der Aufrufe gesehen. Hat sie verbreitet, hat zugesehen, wie die Menschen gefolgt sind.
Je spektakulärer die Bilder, je wilder die Slogans, desto mehr Menschen machen sich auf, der Verteidigung zur Seite zu stehen. Viele von ihnen sind nicht zurückgekehrt. Auch sein Bruder nicht und seine Mutter. Der Nachbar und dessen Vater. Und die Frau aus dem Laden an der Ecke. So wie viele andere. Auch sie war gegangen und nicht heimgekommen.
"Der Krieg fordert Opfer, fordern wir sie zurück!", hatte auf dem Plakat des letzten Monats gestanden. Er wäre beinahe selbst gegangen, aber sie hatten ihm gesagt, dass seine Arbeit wertvoller sei, wenn er bleibe. Niemand außer ihm wisse, wo die Plakate wirklich ihre Wirkung täten und wie viele man aufhängen müsse. Dass die Plakate wichtig waren, um die Verteidigung zu stützen. Ihm allein sei es zu verdanken, dass so viele Bürger den Aufrufen folgten und das Land verteidigten. Und die Kinder. Also fuhr er fort, die Proklamationen unter die Leute zu bringen und er erfüllte seine Aufgabe gut.
Am Samstag steht er wieder auf seinem Platz und gibt Handzettel aus, während das Rekrutierungsbüro Luftballons an Kinder verteilt und die Unterschriften von Bürgern über fünfzehn Jahren entgegen nimmt.
Die Rekrutierungsbögen samt Risikoeinwilligungen stapelen sich bereits bis zur Decke in alten Lagerhallen und dennoch scheint der Strom der Freiwilligen nicht abzureißen. Und immer wieder neue Anschläge. Jedes Mal, wenn wieder eine Bombe explodierte, scheint die Energie geradewegs in die Menschen zu schießen und sie heranzutreiben. Vielleicht liegt es wirklich daran, dass der Mann im grauen Overall durch die Straßen geht und Bilder der Toten an die Pfosten schlägt, Leichen in Stücke gerissen von den Terroristen, Kinder, die weinend über den Überresten ihrer Familie stehen. Es ist patriotisch, diese Bilder zu zeigen. Und patriotisch, in den Krieg gegen den Feind zu ziehen, denn die Anschläge nehmen Überhand.
Der Mann im grauen Overall denkt an seinen Bruder, der auch nicht älter war als die Kinder dort in der Schlange, als er zu einem der Stände ging. Er denkt daran, wie er winkte, als er auf den Laster stieg. Er hatte für die gute Sache gekämpft. Sicher hatte er große Erfolge gehabt. Aber er hatte nicht alt werden können. Nicht so wie der Mann im grauen Overall, an dem die Ströme vorbeigeschwemmt waren und der ihnen zugewinkt hatte, wenn sie fortgingen.
Es ist früh am Morgen. Früher als sonst, denn die Gedanken an seinen Bruder haben ihn nicht schlafen lassen. Ihm war es erspart geblieben, den Niedergang des ganzen Sektors zu erleben, die drohende Übernahme durch die Rebellen, den Hunger während der Belagerung, der viele dahingerafft hatte. Aber er hatte auch niemals die Chance gehabt, eine Frau zu finden. Auch der Mann im grauen Overall hatte keine Frau. Es gab nur noch wenige Frauen im Sektor. Viele von ihnen gingen an die Front. Sie brachten die Poster mit den Kindergesichtern und nahmen eine Waffe. Aber der Mann im grauen Overall hat immer noch die Chance, eine Frau zu finden, eines Tages. Vielleicht nach dem Krieg.
Er geht geradewegs ins Hauptquartier des Sektors, denn es ist Zeit, die Poster abzuholen und sich auf den Weg zu machen. Das Haupttor öffnet er mit seiner Zugangskarte, die von den Jahren bereits abgeschabt ist. Die Tür zum Druckerraum steht offen und er tritt hinein. Zwei Offiziere in blinkenden Uniformen stehen an der Maschine und unterhalten sich. Der Mann im grauen Overall kennt seinen Platz und bleibt respektvoll im Hintergrund, setzt sich auf eine der Bänke entlang der Wand. Solange die Maschine noch läuft, sind die Poster nicht fertig und er hat noch Zeit.
"Das sind die neuen", brummt der eine der beiden Offiziere. "Gib mal", antwortet der größere von beiden und zieht den Zettel herüber. Ein erstaunter Ausruf folgt und der Mann im grauen Overall reckt den Kopf, um vielleicht einen Blick zu erhaschen, aber er würde die Bilder früh genug und oft genug sehen. "Friedensvertrag? Ich dachte, dazu kommen wir erst im Winter." Der Offizier schüttelte den Kopf. "Die haben das vorgezogen. Die Planzahlen sind wohl wieder erreicht, wir können erst mal weitermachen. Die Demographie-Abteilung sagt, es passt insgesamt wieder und der Frauenquotient liegt sogar bei nur siebzehn Prozent. Und wenn die sich mal wieder vertan haben sollten, gibt es eben wieder einen Anschlag, ist ja kein Problem." Er knufft den anderen in die Seite und lacht. "Mir hat es besser gefallen, als sie noch Hormone rausgegeben haben, irgendwie hat das auch funktioniert." Beide schweigen einen Moment, dann neigt der andere den Kopf. "Ich hab lieber Platz als Kinder, aber so denken nicht alle. Die Bürger an sich sind da ignorant. Und für ihre Blagen tun die alles."
Langsam erhebt sich der Mann im grauen Overall und schleicht durch die Tür. Im Gehen hört er die Reste des Gesprächs. "Wissen die drüben in 74 Bescheid? Nicht dass die einfach weiterschießen." Die beiden sehen sich an. "Alles geklärt. War gestern selbst drüben. Die haben zwar noch einen hohen Bestand, aber sie werden es erst mal biologisch lösen. Trink kein Bier von da, wenn dir dein Leben lieb ist." Er lacht noch einmal, dieses Mal ein wenig lauter.
Vor der Tür beugt sich der Mann im grauen Overall über das Treppengeländer und übergibt sich, bevor er in den Raum zurückgeht. "Guten Morgen, die Herren, kann ich die Plakate haben?", wortlos reichen ihm die beiden einen dicken Stapel. "Dann mach ich mich mal ans Werk." Auf dem Weg nach draußen lässt er seinen Zugangspass in einen Schacht fallen. Dann schreitet er ein letztes Mal durch die Tore des Hauptquartiers.