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Fünfzehn Stufen
Seine Schwester schläft. Er ist aus dem Zimmer geschlichen, hat die Klinke langsam heruntergedrückt und die Tür hinter sich zugezogen. Sie ist nicht aufgewacht. Er ist ihr auch nicht mehr böse, dass sie ihn verpetzt hat beim Vater. Er weiß warum, kennt ihre Angst. Sie hofft, dass der Vater ihr nichts tut, wenn sie ihm alles erzählt. Meistens klappt es. Der Schrank ist unten im Flur, versperrt mit einem Vorhängeschloss. Der Schlüssel war in dem Zimmer mit dem ausgestopften Hirschkopf und dem großen Geweih an der Wand. Der Hirsch schien ihn zu beobachten, als er am Nachmittag den Schlüssel aus der Schublade genommen hat, den er jetzt mit der linken Hand umklammert. Er tastet sich die Treppe herunter, setzt jeden Schritt vorsichtig. Es sind fünfzehn Stufen, er hat sie gezählt. Die dritte muss man meiden, weil sie knarrt. Die Tür zum Wohnzimmer ist angelehnt, durch den Spalt fällt Licht in den Flur. Es flackert leicht, der Vater hat den Fernseher angelassen. Stimmen sind nicht zu hören, der Ton ist ausgeschaltet. Er wischt sich die feuchte Hand an der Schlafanzughose ab und nimmt den Schlüssel in die andere. Die Beine zittern, so geht es nicht. Das Herz rast, vielleicht kann man es hören. Am Ende der Treppe zeigt die Pendeluhr vier Uhr an, die Zeiger sind im Halbdunkel kaum zu sehen. Das gleichmäßige Ticken beruhigt ihn etwas. Es bleibt genügend Zeit. Der Vater bekommt nicht viel mit, wenn er getrunken hat. So spät in der Nacht ist er immer betrunken und schläft vor dem Fernseher ein. Wenn er wach wird, geht er auf die Toilette oder zum Kühlschrank. Die Mutter wird erst am frühen Morgen nach Hause kommen. Dann werden die Eltern streiten, oder Schlimmeres. Er darf die Luft nicht anhalten, muss einatmen. Ausatmen. Und von vorn. Den Fuß eine Stufe hinunter setzen, jetzt sind es nur noch ein paar. Die Schranktür wird er langsam öffnen, sie quietscht, wenn sie schnell bewegt wird. Er hat es ausprobiert, viele Male. Ein Geräusch mischt sich in das Ticken der Uhr, leise, als wolle es unentdeckt bleiben. Er verharrt auf der Stufe. Das Licht flackert unverändert durch die angelehnte Wohnzimmertür, dort ist es ruhig. Er sieht über die Schulter nach oben. Die Silhouette seiner Schwester zeichnet sich auf dem Treppenabsatz ab. Sein Zeigefinger fährt vor den Mund, aber er weiß nicht, ob sie es sehen kann. Er macht kehrt und geht hinauf. Fast oben erstarrt er - die dritte Stufe, er hat sie vergessen. Außer dem Ticken der Pendeluhr bleibt es unten ruhig. Er findet die Hand der Schwester und zieht sie in das Zimmer. In ihrem Bett klammert sie sich an ihn.
„Du darfst mich nicht allein lassen!“, flüstert sie.
Er streicht ihr über das Haar. „Das tue ich nicht!“
Sie bemerkt den Schlüssel in seiner Hand und weiß, wozu er gehört.
„Ich muss es dem Vater morgen sagen!“
Seine Schlafanzughose ist nass, sie klebt überall. Er wartet, bis die Schwester eingeschlafen ist und löst sich aus ihrer Umklammerung. Sie darf dem Vater nichts sagen. Die Kissen an der Wand sind zu klein, er zieht das größere vorsichtig unter ihrem Kopf hervor. Das müsste gehen. Er beobachtet, wie sie gleichmäßig atmet und sich eine blonde Locke vor ihrem Mund bewegt.