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Fünfzehn Jahre
Der Bus hielt an der Haltestelle. Wilhelm – von seinen Enkeln liebevoll „Opa Willi“ genannt – setzte seinen Gehstock vorsichtig auf die Schwelle und zog sich langsam hoch. Der Busfahrer lächelte ihm zu und wünschte ihm einen guten Morgen. „Guten Morgen“, krächzte Wilhelm, „heute mal wieder die Frau besuchen.“ Er kletterte auf den Sitz schräg rechts hinter dem Fahrer und atmete erst mal tief durch.
Normalerweise fuhr er nicht mit dem Bus. Deshalb vergaß er auch regelmäßig, wenn er denn mal fuhr, sich ein Ticket zu kaufen, worüber der nette Fahrer großzügigerweise hinweg sah. Es waren sowieso nur zwei Stationen bis zum Friedhof, wo der alte Mann aussteigen musste.
Heute war wieder so ein Tag, an dem Wilhelm sich eingestehen musste, dass es nicht ging. Immerhin hatte er kürzlich seinen 95. Geburtstag gefeiert. Natürlich keine wilde Party – er war ja schließlich „keine 59 mehr“, wie er grinsend über sich selbst gespottet hatte – sondern eher besinnlich. Mit dezenter Volksmusik, Spargelcremesuppe und Geschichten von früher. Früher, als Elfriede noch lebte...
Leicht wehmütig dachte Wilhelm an seine vor genau fünfzehn Jahren verstorbene Frau. Seine Jugendliebe, die er alsbald geheiratet hatte. Er schloss die Augen und versank in Erinnerungen. Er roch wieder ihren Duft, sah ihre tiefblauen Augen in die seinen blicken und hörte, wie sie zu ihm sprach...
„Junger Mann. Müssen Sie hier nicht aussteigen?“
Nein, das war nicht Elfriedes Stimme. Das war der Busfahrer. Wilhelm zuckte ertappt zusammen und murmelte eine Antwort. Der Busfahrer ließ ihn vorne raus.
„Bis bald und einen schönen Tag noch“, wünschte er. Wilhelm nickte ihm lächelnd zu. „Ebenso“, erwiderte er und hob zum Abschied den Stock.
Dann ging er. Langsam, ganz in Ruhe, denn er hatte ja Zeit...
Diese Hektik um ihn herum machte ihn immer wieder nervös, obgleich er sie kannte. Ja, ja, das ist früher noch nicht so gewesen, nee, nee, dachte er kopfschüttelnd. An Feiertagen – besonders jetzt in der Weihnachtszeit – wurde stets Besinnlichkeit geheuchelt und an allen anderen Tagen im Jahr mied man sich, wie der Teufel das Weihwasser.
Und auch seine Kinder sollten nicht denken, er hätte nicht schon längst gemerkt, dass sie nur noch gezwungenermaßen, eben aufgrund seines Alters, zu Besuch kamen. Längst war von echter Liebe und Herzlichkeit nichts mehr zu spüren. Nur die Urenkel – im zarten Alter von sechs, acht und neun Jahren – schienen sich zu freuen, wenn sie zu „Opa Willi“ kamen. Hauptsächlich wohl über die zahlreichen Süßigkeiten, die ich ihnen im Laufe des Tages immer wieder zustecke, dachte Wilhelm missmutig, und sogleich tat es ihm wieder leid. Er liebte sie alle. Sowohl seine Kinder, als auch seine Enkel und Urenkel, sie machten ihn stolz.
Im Schaufenster des Bestattungsinstituts, das seinen Sitz direkt gegenüber des Friedhofs hatte, kontrollierte er noch einmal sein Aussehen. Er trug ein faltenfreies, lupenrein weißes Hemd, darüber ein schwarzes Jackett, eine schwarze Bundfaltenhose und schwarze Lackschuhe, die er so ausgiebig geputzt hatte, dass er sich nun beinahe darin spiegeln konnte.
Auf dem Kopf saß der Hut, den ihm Elfriede anlässlich zu seinem 70. Geburtstag geschenkt hatte. Siebzig Jahr', blondes – nee, dezent ergrautes Haar..., hatte sich Wilhelm an jenem Geburtstag selbst ein Ständchen gesungen und damit seine Familie zum Lachen gebracht.
Als er nach fünf Minuten merkte, dass er immer noch sein Spiegelbild betrachtete, wandte er den Blick davon ab und setzte seinen Weg fort. Mit den Jahren hatte zwar seine körperliche Fitness nachgelassen, geistig jedoch war er immer noch voll auf der Höhe. Er musste grinsen, als er daran dachte, wie er noch mit 92 Jahren seinen damals 20jährigen Enkelsohn im Schach besiegt hatte. Das würde ihm jetzt wohl nicht mehr gelingen, aber immerhin hatte er kürzlich noch beinahe mühelos ein Kreuzworträtsel gelöst.
Und auch so ging es ihm recht gut, er konnte nicht klagen. Zumindest körperlich. Von üblichen Altersleiden war er verschont geblieben, und schwerere Erkrankungen als eine recht akute Mittelohrentzündung hatte es auch nicht gegeben. Er war auch bis zum 80. Lebensjahr noch Auto gefahren, dann hatten es die Enkel ihm verboten. Eigentlich grundlos. Er war nur zu alt gewesen, ihrer Meinung nach. Auf einem Familienzusammentreffen hatten sie darüber diskutiert. „Nicht, dass er am Steuer einen Schwächeanfall erleidet...“, wurde geredet, als sie meinten, er höre sie nicht. „Er ist ja schon so alt.“
„Habt Dank, meine Lieben“, war sein trockener Kommentar dazu gewesen, und mehr hatte er nicht gesagt. Woraufhin seine Familie ganz entgeistert versucht hatte, die Sache wieder gerade zu biegen. Aber Wilhelm hatte sich nur ins Fäustchen gelacht und zog sie immer noch hin und wieder gerne damit auf. Beispielsweise, wenn sie ihn zum Grillen einluden. „Nein“, pflegte er dann zu sagen, „dazu bin ich zu alt.“ Natürlich ging er trotzdem jedes Mal hin.
Bei dieser Erinnerung leise vor sich hin glucksend, betrat der alte Mann den Friedhof. Dann wurde er still, beim Anblick ihres Grabes. Fünfzehn Jahre, realisierte er und musste schlucken. Fünfzehn lange Jahre ohne die Frau, die ihn in über 50 Ehejahren stets begleitet und ihm so viel gegeben hatte. Das tat weh. Es versetzte ihm einen Stich ins Herz.
Er goss und erneuerte die Blumen, wechselte die Grabkerze aus und räumte die Abfälle sorgfältig weg. Mit den Gedanken ganz bei seiner Elfriede, setzte er sich anschließend auf die Bank, die dem Grab direkt gegenüber stand. Sein Herz begann, schneller zu schlagen. Was ihn früher nervös gemacht hätte, erfüllte ihn nun mit Ruhe. Er hatte lange genug gelebt.
Damals waren Elfriede und er jedes Jahr an ihrem Hochzeitstag in die Kirche gegangen, um dem lieben Gott zu danken, dass sie noch immer zusammen waren, und zu beten, dass das noch lange so bleiben möge. Einmal, am 25. Hochzeitstag, hatte eine seiner Enkeltöchter gefragt: „Sagt mal, ihr beiden, wie schafft man es eigentlich, so lange zusammen zu bleiben? Ihr streitet doch sicher auch öfters mal heftig. Kommt euch da nie der Gedanke, vielleicht doch getrennte Wege zu gehen?“
„Ja, wir streiten uns manchmal“, hatte Elfriede erwidert, „aber weißt du, wenn man so viele Jahre zusammen ist... dann steht man darüber. Eine Ehe besteht aus Höhen und Tiefen. Man wächst über die Jahre enorm zusammen. Und außerdem“, hatte sie augenzwinkernd und lächelnd ergänzt, „sind wir in einer Zeit aufgewachsen, in der man kaputte Dinge noch repariert hat, anstatt sie wegzuwerfen.“
Ein Schauer lief Wilhelm über den Rücken. Elfriede, eine Poetin durch und durch. Sie hatte viele Gedichte geschrieben und immer einen guten Spruch auf Lager gehabt.
Fünfzehn Jahre.
Nein, entschied Wilhelm im Stillen, keinen Tag und keine Nacht länger. Ich habe diese Einsamkeit satt und möchte endlich wieder glücklich sein.
Er schloss langsam und bedächtig, ja beinahe feierlich die Augen.
Dann nahm er seinen letzten, tiefen Atemzug.