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Fünfmal
Tick-Tack. Tick-Tack. Tick-Tack. Tick-Tack. Tick-Tack. Fünfmal. Die Tür fällt ins Schloss. Routine. Fünfmal. Zittern am ganzen Körper. Tränen, die sich einen Weg nach unten bahnen um schließlich auf der nackten Haut zur Ruhe zu kommen. Dieser nicht auszuhaltende Schmerz – und immer wieder dieses grauenvolle Ticken. Tick-Tack. Tick-Tack.
Wind, der um ihre Ohren streift. Sie zieht sich ihren Schal bis unter die Nase und haucht hinein. Der Pfefferminzatem lässt ihre Augen tränen. Scheiß Kaugummis. Schon zum vierten Mal heute wird sie angerempelt. Eine Eigenschaft, die Bahnhöfe nun mal so an sich haben. Ein Blick auf die Uhr verrät ihr, dass ihr Zug eigentlich bereits da sein müsste. Sie lässt ihre Augen umherschweifen. Herzstillstand. Soeben hat sie einen ziemlich gut aussehenden Typen erblickt, der einige Meter vor ihr steht und mit seinem Handy beschäftigt ist. Als würde er ihren Bick spüren, sieht er zu ihr auf und lächelt sie an. Verlegen wendet sie sich ab. Hin- und hergerissen. Ihr Verstand fängt an, mit ihrem Herzen zu diskutieren.
Verstand: „Er ist mindestens zehn Jahre älter!“
Herz: „Aber er sieht so gut aus. Viel reifer, als die Jungs aus der Schule.“
Total durcheinander steigt sie in den Zug ein, der mittlerweile vorgefahren ist. Sie geht schnurstracks auf einen freien Sitzplatz zu und lässt sich in das weiche Polster sinken. Sie ertappt sich dabei, wie sie nach ihm Ausschau hält. Am Ende des Ganges, an den Stufen zum oberen Abteil, sieht sie ihn, wie er in ihren Waggonteil starrt, als suche er jemanden. Dann, auf einmal, ist er verschwunden. Einige Zeit vergeht, bis er wieder in ihrem Blickfeld auftaucht, die Stufen hinunterkommt und auf sie zusteuert. Enttäuschung, als er an ihr vorbei geht und erneut verschwindet. Die restliche Zugfahrt zieht sich wie Kaugummi. Als der Zug dann endlich am gewünschten Ziel ankommt, ist sie froh, die kühle Abendluft einatmen zu können. Um spätestens 21 Uhr ist sie wieder zuhause, hatte sie ihren Eltern gesagt. Es ist erst 20 Uhr.
Urplötzlich steht der Mann, der sie angelächelt hatte vor ihr und sieht auf ihre zierliche Gestalt hinab.
„Hey.“ Ihr Puls beschleunigt sich und sie ist verblüfft, dass sie überhaupt etwas herausbekommt.
„Du beobachtest mich schon eine ganze Weile, hab ich Recht?“ Seine weiche und zugleich tiefe Stimme verursacht ein Kribbeln in ihrem Bauch.
„Ist das so offensichtlich?“
„Und ob.“ Er fängt an bis über beide Ohren zu grinsen.
„Entschuldige.“
„Ich heiße Nick, und du?“
„Franzi.“
„Freut mich. Darf ich dich ein Stück begleiten?“
„Gerne.“
„Du siehst noch jung aus. Wie alt bist du?“
In ihrem Kopf rattert es. Wenn sie ihm jetzt die Wahrheit sagt, ist wer weg. Dann schummelt sie sich eben zwei Jahre dazu. Äußerlich wird es ihm nicht auffallen, da ist sie sich sicher.
„Sechszehn.“
„Wie?“ Ihr kurzes Zögern hat ihn irritiert.
„Ich bin sechszehn.“
„Ich bin fünfundzwanzig.“ Da hatte sie eben mit den zehn Jahren also gar nicht so schlecht geschätzt.
Es kommt, wie es in schlechten Filmen häufig passiert. Sie geht mit zu ihm, freiwillig, schläft in seinem Bett. Nun ist sie eine Gefangene ihrer eigenen Dummheit.
Du hast es selbst zu verantworten. Du bist nichts, als ein kleines, naives Kind, das vergebens nach Abenteuern sucht. Du musst aufhören, in jedem das Gute zu sehen, Franzi. Nun ist es deine Schuld. Deine. Deine. Deine. Das Echo hallt in ihren Ohren wider. Was wäre, wenn…? Die Frage haftet an ihr wie eine Zecke. Was wäre, wenn sie nicht mit ihm gegangen wäre, sondern auf ihren Verstand gehört hätte? Dann würde sie sich jetzt in Sicherheit wissen. Sie gäbe alles, nur um ihre Mutter für einen kurzen Augenblick in ihren Armen halten zu können und von ihr zu hören, dass alles wieder gut werde. Doch sie ließ sich täuschen.
Sie hat aufgehört, die Tage zu zählen, die sie schon in seiner Gewalt verbracht hat. Jegliches Zeitgefühl ist verloren. Sind es Wochen, oder gar Monate? Gerade ist es wieder passiert. Ihr Körper fühlt sich an, als würde er vor Schmerz zerspringen. Er lässt von ihr ab. Tick-Tack. Tick-Tack. Tick-Tack. Tick-Tack. Tick-Tack. Fünfmal. Die Tür fällt ins Schloss. Routine. Fünfmal. Und immer wieder dieses grauenvolle Ticken. Tick-Tack. Tick-Tack.