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Fünf Monate - Die Einweisung
Fünf Monate- Die Einweisung (1)
Fünf Monate- Die Einweisung (1)
Der Korridor ist lang, steril, in Grau gefasst. An seinem Ende eine Tür, gläsern, gesichert, gepanzert, trennend. Neben mir der, dem ich vor fünf Minuten noch erzählt habe, wie fantastisch die Welt mir scheint. Sein weißer Kittel schien meine Worte nicht in sein Herz gelassen zu haben. Von hinten sagt meine Mutter: „Bis bald.“
Hinter der Tür eine neue Welt. Ein Zentrum der Erkenntnis, denke ich. Antworten auf Fragen warten hier. Blondes Haar fällt mir ins Auge, das Gesicht eines Engels darunter. Das also ist Serotonin, wird mir schnell klar. Aus einem Raum, ebenfalls glasumfasst, tritt ein stämmiger Typ, markantes Gesicht, kurze Haare, stoppeliger Bart. Eine Expression der Kraft, vielleicht schon Gewalt, jedenfalls gefährlich wirkend: Adrenalin!
Der weiße Kittel führt mich in ein Zimmer, direkt gegenüber des Glaskastens. Zwei Betten, karg bedeckt. Ein nackter Nachtisch, blanker Stahl. Kalt, hölzern der Schrank. Ein kleiner Tisch in der Ecke. Vor dem Fenster sehe ich den Eingang, den ich vor dreißig Minuten durchschritt, durch Gitterstäbe.
„Setz dich ruhig!“, sagt das Serotonin.
Die Sicherheitsmaßnahmen scheinen mir angemessen zu sein. Schließlich darf nicht jeder hier herein. Hier, zum Ort der Erkenntnis. Der Faust liegt mir im Sinn: „zu erkennen, was die Welt, im Innersten zusammenhält.“ Tja, alter Freund, was du ersehntest, erlebe ich.
Der weiße Kittel holt eine Spritze heraus. Blut wolle er mir abnehmen. Wahrscheinlich zur Generkennung. Mastergen hallt es in meinem Kopf. Mastergen. Mastergen!
„Kann man die Nadel nicht weglassen- telepathisch wäre es doch viel angenehmer.“
Der Kittel guckt mich an. In seinen Augen: Abwägung. Bewunderung? Sicher aber Beileid. Er weiß wohl, was ich durchmachen musste. All die Gefahren da draußen. All die Jagd! Hetze. Versteckspiel. Ausweichen. Untertauchen. Gefahrvoller Weg bis hierher.
Es sticht. Hat er mich doch gestochen! Telepathie scheint nicht sein Fachgebiet zu sein. Der rote Saft wird angesogen. Wie die Zuckermoleküle darin toben! Ein Lächeln auf meinem Gesicht. Wundervolle Welt des Mikrokosmos. Alles hängt zusammen. Sie toben, weil es mir gut geht.
Dann verlassen mich die Leute. Der Kittel, Serotonin und Adrenalin schließen die Tür hinter sich. Ich schaue mich um. Warten also. Was wohl als nächstes kommt?
Vor den Gitterstäben gehen zwei Menschen, tragen eine Leiter. Zerschnitten kommen sie mir vor. Was hat das wohl zu bedeuten? Leiter? Aufstieg. Oder Abstieg. Hinauf zu den Sternen, hinab zu den Wurzeln. Den Quellen. Oben und unten. Na klar! Das eine kann ohne das andere nicht existieren. Wieder eine Welterkenntnis vereinfacht dargestellt. Glück rauscht durch die Synapsen wie ein munterer Gebirgsbach. Berge erscheinen vor meinem inneren Auge, grüne Tannenhänge, weiße Gipfel, blauer Himmel, gelber Himmelsball. Alles in Bewegung. Meditative Stimmung, schwimmen im Gebirgsbach. Erinnerung an Jugendtage. Bergwandern. Gipfel erklommen. Alles fließt- Lao Tse! Wunderbare Welt.
Die Tür wird geöffnet. Serotonin kommt herein. Ich begrüße es. „Geht’s jetzt endlich los?“ Es guckt mich- ganz kurz- fragend, dann wieder lächelnd an. Warum tut es so, als wüsste es von nichts? Ach ja, ich weiß: es ist noch immer überrascht, dass ich endlich gefunden wurde.
Es stellt mir ein Tablett auf einen kleinen Tisch. „Guten Appetit.“ Die Tür geht zu. Ruhe, fast greifbar, überall. Sie scheint sogar unter der Türritze hindurch zu kriechen wie Wasserdampf. Dieses Wunder aus gasförmigen Wassermolekülen, die miteinander spielen, Muster bilden, Strukturen ausbilden. Dampf. Ach ja, das Tablett. Ich setze mich auf den kleinen Stuhl, betrachte es. Vier Gefäße mit- Essen. Essen? Nein. Das ist etwas anderes. Eine Aufgabe! Klar. Der Teller rechts ist Schritt eins. Löffel und Messer daneben- Verbindungsgegenstände. Ich schaue auf. Vor mir: weiße Raufasertapete. Lichte Formen tanzen darauf. Muster treten hervor aus dem Chaos. Energiefelder! Sie und das Essen: ein Code. Auf dem Teller liegen Möhren, Erbsen, eine Wurst. Aber WIE sie da liegen; in einer ganz bestimmten Ordnung. Hier ein Muster, da ein Muster- Verbindung herstellen. Das also ist die Aufgabe. Also Definitionen anlegen.
Ich nehme mit der Gabel ein Stück Möhre in den Mund. Geschmack: Leicht süßlich. Konsistenz: weich. Bestandteile: Kohlenhydrate in hoher Zahl. Proteine.
Danach die Erben. Geschmack: eigensinnig. Konsistenz: stabiler. Als Codebestandteil akzeptiert. Jetzt also wird die Welterkenntnis auf geschmacklicher Ebene weitergeführt.
In der Soße versinken einzelne Möhrenstücke. Gleichzeitig ein Geräusch hinter der Tür, weit weg, noch nicht gefährlich, aber schon bedrohlich. Mache ich was falsch? Ach ja, die Wand. Muster heben sich ab. Also Geschmacksinformation auf visuelle Ebene umleiten. Muster einprägen- das dauert nur Sekundenbruchteile. Position des Musters bestimmt. Ersten Test bestanden. Zweites Gefäß: beige Flüssigkeit. Pilzsuppe- bäh! Jetzt wollen sie mich wohl auf die Probe stellen. Aber erst einmal Verbindung zwischen den Gefäßen herstellen. Das Messer lege ich vom Ende der Wurst auf den Rand der Suppenschale. Geschafft. Kleine Bläschen sind auf der Oberfläche der Flüssigkeit zu erkennen. Scheinbar durcheinander. Scheinbar. Nicht jeder erkennt die Ordnung dahinter, denke ich. Genie und Chaos hallt in meinem Kopf. Ja, ist ja gut. Das weiß ich natürlich längst. Also weiter. Fünfzehn Bläschen dort, Koordinate auf der Wand- erfasst. Möhren und Pilze- unterschiedlich. Ungleich, nicht zusammengehörend. Soße und Suppe. Variablen. Zoom an die Wand. Die beiden Muster werden größer, alle anderen Strukturen auf der Wand werden glatt. Nur noch die beiden Muster leuchten. Überschneiden sich an einigen Stellen. Also ist die Verbindung möglich. Erkenntnis Ebene2- gesichert.
In der dritten Schale ein grüner Pudding. Er wackelt, als ich gegen das Gefäß stupse. Wie wundervoll er doch aussieht. Überall sind feinste Linien zu erkennen, die mal parallel, mal sich schneidend, dann sich ins Innere windend über die Oberfläche verlaufen. Kunst kommt mir in den Sinn. Das ist wahre Kunst. Diese Formenvielfalt in etwas so alltäglich erscheinenden wie einem Wackelpudding. Ich nehme den kleinen Löffel in die Hand. Er wird zu einem Skalpell, mit dem ich mich nach Innen schneiden kann. Der Pudding klafft auseinander, als ich den Löffel hineindrücke. Vorsichtig natürlich, damit nichts kaputt geht. Faszinierend! Verbindung. Verbindung! Ach ja, fast hätte ich’s vergessen. Ich nehme die Gabel mit dem Stil in den Mund. Die Spitzen müssen Punkte der Muster der Tapete treffen, damit die Puddinginformation- Kunst im Alltag- codiert werden kann. Gar nicht so einfach. Ich drücke mit der Zunge die Gabel ein wenig höher. Passt immer noch nicht ganz. Also den Kopf etwas niedriger. Schon bin ich mit dem Ziel auf Augenhöhe- zweimal blinzeln- geschafft. Puh! Gar nicht mal so einfach.
Doch nun bin ich fertig. Warten. Nichts geschieht. Es ist wieder still auf dem Flur. Auch draußen vor den Gitterstäben ist nichts los. Oder doch? Da sitzt ein Vogel im Baum. Geschickt getarnt, aber ich habe dich trotzdem entdeckt! Jetzt geht das hier auch noch weiter. Verdammter Geheimdienst! Setzt immer Vögel als Kamera ein. Vogelperspektive- Überblick bewahren- unscheinbar beobachten… Ich ziehe die Gardine vors Fenster, setze mich wieder hin, gehe mein Code- Experiment noch einmal durch.
Die Tür geht auf. Serotonin steht da, blickt aufs Tablett. Das Essen: fast nichts angerührt. „Der Kaffee schmeckt kalt nicht.“, sagt sie. Den hatte ich ganz vergessen! Kalter Kaffee- Mist!
Der Kittel kommt wieder, setzt sich neben mich. „Wie geht es Ihnen?“
Kann mich nicht beklagen, obwohl der Test anstrengend war. „Bekomme ich jetzt neue Instruktionen?“
Wieder dieser Blick. „Eine Infusion.“
Das verstehe ich nicht. „Einblicke in die Wirkungsweise von Medikamenten?“
Auf dem Flur wird es lauter. Adrenalin bringt dem Kittel, was er haben wollte. Wieder ein Stich. „Ruhen Sie sich aus.“
Sekunden später wird’s mir schummrig. Die Augen fallen zu, reflexartig schnell, wie wenn die Infusion als Wasserschwall gegen meinen Kopf rauschen würde. Leise Schritte. Verhallend schlägt die Tür ins Schloss. Die bunten Muster dunkelt bleierne Müdigkeit…