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Fünf Minuten vor der Zeit
Müsste ich die beeindruckendsten Menschen aufzählen, die ich in meinem Leben kennengelernt habe, wäre Johann ganz vorne mit dabei. Beeindruckend dreist.
Und wenn Sie sich fragen, wie der Kerl aussah, kann ich Ihnen nur mitteilen, dass ich bei der letzten Begegnung rot gesehen habe.
Aber von vorn: Ich lernte Johann über einen Freund kennen. Daniel erklärte mir, er könne aus familiären Gründen nicht mehr an unserem Arrangement teilnehmen. Wie Sie merken, verpackte Daniel seinen Abgang so poetisch wie möglich, um mir nicht ganz das Herz herauszureißen. Wir hatten nämlich einige Jahre daran gearbeitet, unseren Handel mit Wachteleiern rentabel zu machen.
Jedenfalls besaß Daniel sogar noch die Begabung, mir das Ganze schmackhaft zu machen. „Der Typ hat Kohle ohne Ende“, sagte er zu mir und knuffte meine Schulter. „Wir könnten ordentlich in die Logistik investieren."
Und ich muss gestehen, die ersten Wochen mit Johann waren recht angenehm. Er war höflich (wenn man davon absah, dass er in geschlossenen Räumen eine Mütze trug). Und ja, er hatte Geld. Unmengen davon. Schon bald hatten wir mehr Partner, mehr Abnehmer. Alles aus seiner Hand.
Doch wissen Sie, wovon er anscheinend nicht genügend hatte? Uhren. Runde, kleine, tickende Uhren. Ich meine, wir schrieben das Jahr 1969. Selbst die Tiefkühltruhe und der Gelenkbus waren erfunden. Von Chronometern schien der Mann aber noch nie etwas gehört zu haben.
Der Unhold mit seiner John Lennon-Gedenkfrisur und dem Mick Jagger-Pferdemaul kam jedes Mal zu spät. Ausnahmslos.
Irgendwann machte mich unsere Buchhalterin darauf aufmerksam, dass die Strafzahlungen an unsere Kunden wegen verpasster Termine Überhand nähmen. Diese Klausel hatten Daniel und ich von unserem Anwalt einbauen lassen, da wir um unsere Zuverlässigkeit wussten und es somit als eine weitere Stärke unseres Kleinunternehmens verkaufen konnten. Je mehr, desto besser. In diesem Geschäft ging es einfach um gute Argumente.
Wie dem auch sei, Woche für Woche stand ich vor dem Eingang unseres kleinen Büros, von dem aus wir unsere Kunden beliefern wollten und begann irgendwann damit, Steine im Schotter zu zählen. Oder ich griff der kleinen Weinbergschnecke unter die Arme, wenn sie mal wieder nicht voran kam.
Die zuvor erwähnten Logistikpartner hatten wir nämlich wieder verloren. Drei Mal dürfen Sie raten, warum. Deswegen mussten wir auch wieder selbst ausliefern.
Und ich meine, ich bin echt ein geduldiger Mensch. Mit mir kann man reden. Keine Frage. Aber wenn ich auf jemanden warte, der ohnehin schon zu spät ist und mir dann am Telefon sagt, er wäre in zwei Minuten da, dennoch eine Dreiviertelstunde braucht, dann kann ich wohl zurecht behaupten, dass ich mich nicht ernst genommen fühle.
Ich machte mich zu Daniel auf. Der hatte allerhand zu tun. Renovierte sein Haus, buddelte den Garten um und trug ein zahnendes Mädchen auf dem Arm, das schrie wie am Spieß und dabei fast blau angelaufen war. Seine Frau, Mirella, lag im Obergeschoss in ihrem Krankenbett. Sie war schwer leberkrank und wartete eigentlich nur noch auf den finalen K.O.-Schlag.
„Nimm dir das nicht so zu Herzen“, sagte Daniel zu mir.
„Was? Dass der Typ keine Erziehung genossen hat, oder dass wir bald pleite sind?“
Der kleine Wurm auf Daniels Arm schrie dazwischen. Mit ihren geballten Mäusefäusten sah sie ebenso erbost aus wie ich, über die Tatsache, dass wir mit Johann ein Arschloch ins Boot geholt hatten. Und zu allem Übel eröffnete Daniel mir noch, dass wir den Kerl auch nicht so leicht wieder loswerden konnten.
Ich attestierte ihm eine ausgereifte Hirnhautentzündung, nachdem er sagte, es gäbe da noch eine Klausel.
„Wir haben uns für fünf Jahre an Johann gebunden. Beenden wir das Geschäftsverhältnis, zahlen wir eine Vertragsstrafe.“
„Das Ende dieser Zeitspanne erreichen wir sowieso nicht, wenns so weiter geht.“
„Sieh es positiv, Paul. Dann sind wir ihn früher los.“
Offen gesagt, schmiedete ich Pläne, Johann auf andere Art und Weise loszuwerden, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber man konnte ja kein einziges Attentat auf seine Gesundheit planen, da man nie wusste, wann er wo erscheint. Aber wo wir gerade beim Erscheinen sind. Eines Tages, ich war mittlerweile in den Zustand der völligen Resignation verfallen, war ich zehn Minuten zu spät gekommen. Ich machte mir gar keinen Kopf. Selbst die Weinbergschnecke schaute aus ihrem Häuschen hervor, als hätte sie vollstes Verständnis. Johann kam nicht, rief aber abends an. Der Arsch echauffierte sich über meine Unpünktlichkeit und meinte, er sei alleine losgefahren. Niemand hätte ihn je in seinem Leben länger als zehn Minuten warten lassen.
Ich rede nicht lange um den heißen Brei herum: Ich rief ihn zurück, vereinbarte einen Termin bei ihm Zuhause. So konnte ich sichergehen, dass er da war. Und was soll ich sagen? Ich war pünktlich. Fünf Minuten vor der Zeit. Und fünf Minuten nach der Zeit waren wir ihn los.