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Fühl mal!
Prolog
Die meisten Leute nennen mich „Bo“. Eigentlich heiße ich Robert Derliner und komme aus einer ganz normalen Familie: Vater, Mutter und ein älterer Bruder. Aber was ist schon „normal“? Ist es das statistische Mittel? Das Unauffällige in der Gesellschaft? Oder einfach alles, was nicht „anders“ ist? Was auch immer „normal“ ist, ich bin es wohl nicht. Aber macht Euch am besten selbst ein Bild.
Und: Nennt mich einfach „Bo“.
Auf der Strecke …
Ich stehe mitten auf einem Bahngleis.
Schon als Kind fand ich Dampflokomotiven faszinierend. Schwarze Kolosse auf Rädern, die mit Dampf, Qualm und Lärm unglaubliche Kräfte auf die Schiene bringen. Technische und ästhetische Schönheit vereint – nicht nur für Eisenbahnfans. Im regelmäßigen Stöhnen zieht die Maschine den Zug an und rast durch die Landschaft.
Aber auch das moderne Zeitalter vereint auf der Schiene Kraft und Schnelligkeit. Nehmen wir nur den ICE-TD. Der elegante, weiße Wurm schlängelt sich durch die Schluchten und kann auf der ebenen, geraden Strecke seine ganze Kraft in Geschwindigkeit verwandeln.
Ich schaue nach rechts und sehe, wie das Dampfross sich seinen Weg in meine Richtung bahnt. Keine Altersschwäche ist zu spüren. In voller Fahrt rast der Zug auf mich zu. Ich drehe meinen Kopf in die entgegengesetzte Richtung und bemerke, dass von der anderen Seite der ICE auf mich zukommt. Ich fühle mich unbehaglich. Unter mir beginnt der Boden zu vibrieren und ich kann die lauter werdenden Züge hören. Ich will weglaufen, doch Fesseln halten mich fest. Die Züge könnten doch einfach an mir vorbeifahren, oder? Ich stehe auf dem Gleis. Es gibt nur ein Gleis! Warum sind es nicht zwei? Beide Züge rasen auf dem gleichen Gleis aufeinander zu und ich stehe genau an der Stelle, wo sie aufeinandertreffen werden. Mit aller Kraft versuche ich die Fesseln zu lösen. Doch ich kann mich keinen Millimeter rühren.
Die Dampflok trifft mich mit voller Wucht. Wie schön wäre es, wenn mich die Lokomotive aus den Ketten risse. Möglich, dass mir dabei ein Bein ausgerissen würde. Aber ich wäre frei – endlich frei!
Doch der entgegenkommende ICE nimmt die geballte Ladung Energie auf und ich werde zwischen den beiden Maschinen zerquetscht. Meine Knochen splittern - aber die Ketten halten. Saubere Frakturen, deren Schmerzen sich ihren unaufhaltsamen Weg durch den Körper bahnen.
Der normale Körper hat einen Schutzmechanismus: Wenn der Schmerz, den man fühlen kann, zu groß wird, empfängt das Gehirn keine Schmerzsignale mehr – sozusagen eine Schmerzsicherung. Wieso ist meine kaputt? Jeder einzelne Schmerz trifft mit voller Wucht in meinem Gehirn ein und wird penibel verarbeitet. In Zeitlupe erlebe ich, wie meine Rippen splittern und die Lunge zusammengedrückt keine Luft zum Atmen mehr hat.
Die Lokomotiven beginnen sich ineinander zu verkeilen. Eisenkonstruktionen werden aufgerissen. Ein messerscharfes Blech streift mich und schlitzt meinen Bauch auf. Eine Eisenstrebe durchschlägt meinen Oberschenkel. Der Kessel platzt und kochendes Wasser verbrüht meine Haut. Glühende Kohlestücke prasseln auf mich ein. Plötzlich kühlt eine Flüssigkeit den gepeinigten Körper, doch die Entspannung ist nur von kurzer Dauer, da sich der Diesel des zerberstenden ICE entzündet. Die Explosion reißt alles auseinander, was bisher dem Druck des Aufeinanderpralls widerstanden hatte. Ich bin im Zentrum der Explosion – ein Logenplatz, den niemand haben möchte.
Nun kann es nicht mehr schlimmer werden, oder? Ich sehe Leichenteile der Passagiere aus den Waggons fliegen. Vor meinen Augen gehen sie in Flammen auf. Neben den körperlichen Qualen kommt nun der Psychoterror. Abgerissene Hände, die sich an abgerissenen Griffen festhalten. Füße, die mit brennenden Schuhen verschmelzen.
Ich beneide die Toten – sie durften sterben. Warum sterbe ich nicht? Wieso muss ich das weiter und weiter erleben? Als ich mich an die brennenden Körperteile gewöhne, kommen größere Stücke angeflogen. Einzelne Körper schreien, als sie vor mir in den Flammen ihr Ende finden. Das Schreien ist dabei leichter zu ertragen als die Blicke der Sterbenden, die vorwurfsvoll mir die Schuld an diesem Unglück geben.
Die letzten Wagen wurden durch die Explosion aus den Schienen geschleudert und schieben nun den Schutt der Wrackteile über mir zusammen. Die Explosion verblasst, aber ich werde erneut zerquetscht und die letzten Knochen, welche sich bisher gewehrt haben, geben nun auf und zersplittern. Ein zweiter Orgasmus der Schmerzen.
Die Züge haben sich in Rauch aufgelöst. Ich stehe immer noch angekettet auf den Schienen. Meine Wunden, Frakturen und Hautfetzen fangen den Heilungsprozess an und kreieren dabei neue Formen von Schmerz. Jede Berührung von außen ist wie ein Schlag mit einem Hammer.
Mit einem so zerfetzten Körper bin ich froh, allein hier zu sein. Ich bin froh, dass mich so keiner sieht. Eigentlich bin ich auch froh, dass ich mich selbst nicht sehe. Ich schließe die Augen und spüre, wie sich der Körper langsam erholt.
Doch jeder Schmerz, den ich loslassen darf, wird durch eine doppelt so große Angst ersetzt. Angst vor neuen Schmerzen. Angst vor neuen Leichen. Angst vor dem nächsten Zug. Welcher wird es diesmal sein? Wieder eine Dampflok – der Dämon aus der Vergangenheit? Oder ein atombetriebener Hightech-Zug der Zukunft, dessen Kern-Explosion beim Zusammenstoß mich nicht nur in Stücke reißen, sondern in einzelne Zellen verteilen wird? Ich habe Angst! Warum darf ich nicht sterben? Ich kann nicht mehr.
Immer noch auf das Gleis gekettet habe ich Angst. Ich bin allein. Noch ist kein neuer Zug zu sehen, doch ich spüre wie er in weiter Ferne vom Bahnhof abfährt. Egal wie weit dieser Bahnhof entfernt ist, irgendwann wird der Zug kommen und mich treffen. Vielleicht hat einer von ihnen eines Tages genug Kraft, meine Ketten zu sprengen und mich dem erlösenden Tod zu übergeben.
Ich habe Angst.
Ich bin allein.
Und ich warte.
Die Angst übernimmt die Kontrolle.
Warten.
Epilog
Natürlich fühle ich nicht immer so – vielleicht nur zwei- bis dreimal am Tag. Und Schlaf ist eine tolle Sache. Ich hoffe, dass eure Schmerzsicherung funktioniert.
Euer Bo R. Derliner