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Füge keinem andern zu
"Wir schaffen Arbeitsplätze. Und das ist für die Menschen wichtiger als unberührte Natur, die nur kostet und niemandem nützt." Dr. Friedhelm W. Müntzel, Vorstandsvorsitzender, saß locker auf dem Podium und erledigte die Gegner der geplanten Industrieansiedlung reihenweise. Sie drehten sich mit ihren Argumenten im Kreise und schienen auch bei der Bevölkerung nach Punkten zu verlieren. Die Einwohner der umliegenden Dörfer waren zahlreich zu dieser Diskussionsveranstaltung gekommen. Einige Händler hatten das Geschäft ihres Lebens gewittert und vor dem Saal des Gasthofs standen zwei Würstchenbuden und ein Schießstand. Aber Volksfeststimmung kam nicht so recht auf. Immerhin ging es um ein ernstes Thema und die meisten Menschen hier liebten ihren Wald und ihre versteckten Seen. Aber angesichts einer Arbeitslosigkeit von fast 20 % griff man nach jedem Strohhalm. Soll doch die anderen untergehen, wenn ich mich nur retten kann, schien so mancher zu denken und so nahm das Gemurmel und Gemurre im Saal zu, wenn die Industriegegner das Wort ergriffen. Die Stimmung wurde auch auf dem Podium gereizter und schließlich beendete der Vorsitzende der örtlichen Bürgerinitiative seine Mitwirkung. "Ich sehe keinen Sinn mehr in einer weiteren Diskussion" sagte er, stand auf und mit halblauter Stimme sprach er zu Dr. Müntzel weiter. "Ich wünschte mir nur, daß sie das Leiden der Natur am eigenen Leibe erfahren könnten." "Das würde ich im Interesse der Menschen auf mich nehmen", erwiderte Dr. Müntzel, "hier geht es schließlich nicht um mich, sondern um alle die Menschen, die da unten sitzen und auf uns hoffen."
Ein halbes Jahr nach der Podiumsdiskussion begannen pünktlich um 6 Uhr morgens die Bauarbeiten. Dr. Müntzel hatte Wort gehalten. Die Baufirmen der Umgebung waren am Bau beteiligt und hatten fast 100 Menschen zusätzlich einstellen können. So war es wohl nicht verwunderlich, daß eine freudige Stimmung unter den versammelten Arbeitern herrschte, als Dr. Müntzel von einer provisorischen Tribüne herab den Baubeginn verkündete. Dan begannen die Arbeiter, Markierungen zu setzen und ihre Maschinen in Stellung zu bringen, während Dr. Müntzel zurück in sein Büro eilte. Dort hielt er sich allerdings nicht lange auf. Während auf der Baustelle die ersten Bäume gefällt wurden, war in der Inneren Medizin der Universitätsklinik ein hektisches Treiben zu beobachten. Hier lag Dr. Müntzel in einem Einzelbett 1. Klasse mit Sonderausstattung und wand sich schreiend vor Schmerzen. Auch die stärksten Schmerzmittel schienen nicht zu wirken, aber eine organische Ursache für diese plötzliche Erkrankung war nicht feststellbar. Herr Dr. Müntzel reagierte auch nicht auf Fragen und konnte offensichtlich nicht sagen, was ihn so quälte.
Da standen nun der Professor, zwei leitende Ärzte, vier Assistenzärzte, die Oberschwester und ein Troß von Schwestern, Pflegern, Pflegehelferinnen, Sekretärinnen und so weiter um das Bett des großen Industriebosses und alle sahen zu. Denn tun konnten sie nichts. Es war ein eigenartiges Bild. Die vielen Menschen schienen Dr. Müntzel von der Außenwelt abzuschirmen. Aber vielleicht wollten sie auch vor der Außenwelt das ungewohnte Verhalten des großen Industriebosses verbergen. Ein eigenartiges Verhalten zeigten auch die zahlreichen medizinischen Geräte, deren Kabel überall zwischen den Menschen in ihren weißen, blauen und grünen Kitteln hindurchliefen und sich im Bett so zahlreich versammelten, daß Herr Dr. Müntzel in einem Gitter gefangen zu sein schien und kaum noch zu sehen war. Die Geräte meldeten nämlich keinerlei Abweichungen. Alle funktionierten und ihre grünen Lampen leuchteten. Aber kein hektisches Piepen oder Blinken, kein einziges Alarmsignal war zu sehen oder zu hören. Nach den objektiven Meßergebnissen der Maschinen war Herr Dr. Müntzel kerngesund. Und angesichts dieser unwiderleglichen Feststellung konnten alle die Menschen nur warten. Jetzt sollten nun die Psychiater, Psychologen und sonstigen Seelenärzte und -klempner den Patienten übernehmen. Allerdings konnten diese, als sie in ihren frisch gestärkten weißen Kitteln endlich hereinwehten, ihre Fähigkeiten nicht mehr unter Beweis stellen. Abgesehen davon, daß es im Krankenzimmer viel zu eng wurde, gab es auch nichts mehr zu untersuchen. Denn pünktlich um 16 Uhr hörte Herr Dr. Müntzel auf zu schreien. Er holte tief Atem, öffnete seine Augen, sah die versammelte Menge um sein Bett, flüsterte: "Bin ich doch noch in den Himmel gekommen?" und versank in einen tiefen durch die Schmerzmittel noch verstärkten Schlaf.
Was ihm an diesem Tage widerfahren war, erzählte er später niemanden, mit einer Ausnahme: "So einen Alptraum möchte ich nie mehr erleben" sagte er einmal zu seiner Privatsekretärin. Jedenfalls schien der Alptraum etwas bewirkt zu haben, denn früh am Morgen um fünf Uhr sprang Herr Dr. Müntzel energiegeladen aus dem Krankenhausbett und drückte sämtliche verfügbaren Knöpfe. Die Nachtschwester, die erschrocken in sein Zimmer rannte, sah ihn im kurzen Krankenhaushemdchen um das Bett joggen und vernahm "2 Tassen Kaffee bitte und ein Telefon". Um 6 Uhr erhielt dann die Bauleitung die telefonische Anweisung, die Arbeiten wegen interner Schwierigkeiten vorläufig einzustellen, allen Arbeitern einen Monatslohn auszuzahlen und sie nach Hause zu schicken.
Heute, nach einem Jahr, redet kaum jemand mehr von dem großen Industrieprojekt. Herr Dr. Müntzel hat bereits zwei neue Bauvorhaben ohne Auswirkungen auf sein Wohlbefinden begonnen. Der Vorsitzende der örtlichen Bürgerinitiative dagegen hat sich nach der mißglückten Podiumsdiskussion auf seinen kleinen Hof zurückgezogen und nimmt selbst am dörflichen Leben kaum noch teil. So weiß er auch gar nicht, was geschehen ist. Herr Dr. Müntzel ist sehr froh darüber, denn er möchte diesem Menschen nicht noch einmal auf einem Podium oder gar auf einer Baustelle begegnen.