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Füchschen
… und jetzt steht sie hier in der Küche und lächelt so, wie sie es schon eine Ewigkeit nicht mehr getan hat. Sie trägt eine Schürze über dem blassrosa Kleid, bei dem man die Schultern sieht, und das ihr Mann so grässlich findet. Sie hat es sich trotzdem ausgesucht, oder gerade deswegen?
Sie steht vor den Hors d'œuvre, die sie auf einer glänzenden Silberplatte angerichtet hat. Die Küche ist erfüllt vom Duft des Rinderfilets, das im Ofen schmort, und dem latenten Duft des Weines, der im Dekanter atmet. Es ist so ein herrlicher Abend. Der Vollmond steht hoch am wolkenlosen, dunklen Nachthimmel, und sein Licht scheint durch das Fenster in die dämmrige Atmosphäre der Küche.
Sie lehnt gegen den Kühlschrank, noch immer selig lächelnd, während ihr Herz in der Brust so schnell schlägt. Sie hat Kerzen angezündet, die auf der Arbeitsfläche stehen. Im Radio läuft gerade „Red, Red Wine“ von UB40, und sie ist glücklich, wie sie es seit Ewigkeiten nicht mehr gewesen ist.
Anfang letzter Woche ging sie durch die Stadt, wie sie es jeden Tag tat. Es war so eine Routine, so fürchterlich grauer Alltag, dass sie gar nicht mehr wahrnahm, was sie überhaupt tat. Es war eher ein mechanischer Vorgang, sie war wie ein Roboter, der darauf programmiert war, immer ein- und denselben Weg zu gehen und immer dasselbe zu tun. Sie hatte die Kinder zur Schule gebracht, hatte im Supermarkt alles für das Mittagessen gekauft, hatte kurz in der Praxis ihres Mannes vorbei geschaut, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei… Sie war nicht glücklich, sie war nicht traurig. Sie war leer, vollkommen abgestumpft gegenüber dem, was um sie herum geschah. Sie kämpfte sich durch den zähen, grauen Sumpf des Alltags, ohne sich dessen wirklich bewusst zu werden. Erst kurz vor dem Ende ihres sich immer wiederholenden Rituals, gab es eine Abweichung. Es war bloß ein einziges Wort, das sie aus ihrer innerlichen Abgeschiedenheit zerrte.
„Füchschen?“, das sagte eine Stimme neben ihr, und es klang in ihren Ohren wie die Melodie eines lang vergessenen Liedes. Die arme Frau hatte plötzlich den Eindruck, die ganze Welt drehe sich auf den Kopf, während die Stadt, vorher so grau, in bunten Farben leuchtete.
Ihre Augen richteten sich auf die Quelle dieses einen, so bedeutungsschwangeren Wortes, und die Frau hatte plötzlich den Eindruck auf dem Rücken eines Rosses in eine phantastische, beinahe vergessene Welt zu traben. Sie hatte den Geruch von Fleisch, das auf dem Grill brät, in der Nase, und den Duft von frisch gemähtem Gras im Sommer. Sie spürte das kühle Nass des Sees auf ihrer Haut, und sie hörte Lieder alter, damals geliebter Bands. Außerdem fühlte sie zwei Körper, durch die Daunen des Bettes gewärmt, die sich leidenschaftlich küssten. Sie schmeckte Schweiß auf ihren Lippen, spürte die Wärme der anderen Haut. Hörte das Stöhnen, das Seufzen und die sehnsuchtsvollen Worte, die in der Hitze der Nacht ausgetauscht wurden. Sie spürte beinahe seinen Mund an ihrer Ohrmuschel, der ihr zuflüsterte…
All diese Eindrücke waren wie eine bunte Seifenblase, die über der Frau schwebte, und nur ein weiteres Wort des Mannes, der ihr gegenüberstand, genügte, um diese Blase zum Platzen zu bringen, sodass all diese Eindrücke für einen kurzen Seufzer, ein beinahe schluchzendes Aufatmen, Wirklichkeit wurden.
„Füchschen?“, wiederholte er. Sie sah in die Augen mit der Form und der Farbe von Mandeln, musterte die freundlichen, gealterten Züge. Er lächelte.
„Nestor…“, sagte sie leise. Sie war wieder jung, sie war wieder siebzehn – für einen Augenaufschlag.
„Mensch, ich hab’ dich ja ewig nicht gesehen, Füchschen.“
Sie war überwältigt. Wie lange hatte sie diesen Namen schon nicht mehr gehört? Niemand nannte sie heutzutage mehr so. Niemand in Berlin kannte diesen Namen.
„Was machst du denn hier?“, fragte die Frau.
„Nun, ich habe hier eine Vorlesung“, erwiderte der hoch gewachsene Mann im dunkelbraunen Trenchcoat.
„Ich wusste es immer, Nestor. Ich wusste immer, dass du irgendwann einmal schreiben wirst.“ Sie schaffte es nicht, mehr zu sagen. Die Vergangenheit war das Jetzt. Gemeinsam gingen sie in ein Café…
… und jetzt steht sie hier in der Küche. Das Lied ist zu Ende, und sie denkt, wie Recht sie doch haben. Das einzige, was hilft, ist Wein. Deswegen geht sie zum Dekanter und schenkt sich ein Glas des dunkelroten, süffigen Tropfens ein.
„Mia, mach doch bitte das Radio ein wenig leiser“, sagt ihr Mann aus dem Wohnzimmer. Er schaut sich gerade die Nachrichten an. Sie gehorcht, drosselt die Lautstärke und widmet sich wieder dem Abendessen. Es ist sehr opulent. Extra für ihn, hat sie den richtigen Noilly Prat gekauft. Er steht jetzt im Kühlschrank und wartet auf ihn, auf Nestor, so wie alles in dieser Küche nur auf ihn zu warten scheint. Sie möchte tanzen. Am liebsten einen Jive.
„Mia, wann kommt noch mal dein Schulfreund?“, fragt ihr Mann, der den Kopf zur Tür hereinsteckt. Sie fühlt sich erwischt und schaut ihn schuldbewusst an. Ihr Mann trägt noch einen alten, ausgeleierten Pullover und eine Jogginghose. Der Tag heute in der Praxis ist hart gewesen. Das hat er ihr vorhin erzählt.
„Bitte Schatz, zieh dich um. Er kommt um halb neun.“
„Also noch eine halbe Stunde Zeit?“
„Zieh dich doch jetzt schon um. Stell dir vor, er kommt früher und du stehst hier noch so, wie du jetzt bist. Möchtest du, dass man dich so sieht?“
Er schüttelt den Kopf, während seine schlanken, filigranen Finger die scheckige Brille zurechtrücken, durch die seine Augen wirken, als seien sie riesengroß. Es sind Finger, die gut zu einem Zahnarzt passen, wie sie findet. So fein und flink. Damit kann er immer den richtigen Handgriff machen.
„Na schön, dann ziehe ich mich eben jetzt schon um“, sagt er in seiner kühlen Praxisstimme.
Und schon ist er wieder weg, und sie ist allein mit ihren Gedanken. Sie geht zum Fenster und sieht, dass Nebel aufzieht. Man kann kaum die Häuser auf der anderen Straßenseite sehen. Die gelblich glühenden Kugeln der Straßenlaternen wirken wie Leuchttürme in der Dunkelheit, und sie hat für einen Moment den Eindruck, sie würden sie zu sich rufen, über das Nebelmeer hinweg.
Er erzählte ihr alles, was er jetzt so machte, und sie hing an seinen Lippen, sog jedes Wort, das er sagte, in sich auf wie ein Schwamm, als wäre es kostbar, so als könne sie es jederzeit wieder verlieren.
Er berichtete von seinen Büchern, die er unter einem Synonym schrieb. Es gehe ihm gut, er habe keine Sorgen und sehe viel von der Welt.
„So wie du es dir immer gewünscht hast“, sagte sie.
Der Kellner brachte ihr einen Marani Tee und ihm einen Espresso. Er zahlte sofort und lud sie ein.
„Ja“, erwiderte er gedankenverloren. „Das habe ich dir damals immer erzählt.“
„Und wahrscheinlich hast du dir auch nicht plötzlich vorgenommen, hier in Berlin sesshaft zu werden, richtig?“ Sie lachte, obschon sie das absolut nicht lustig fand.
Er zwinkerte ihr zu. „Nein, auf keinen Fall. Weißt du, wenn ich alt bin…“ er machte eine Pause, hob die Hände und schürzte die Lippen „… dann vielleicht einmal. Momentan jedoch, kann ich mir kein anderes Leben vorstellen, als das, was ich jetzt führe. Es ist nicht jedermanns Sache, schon, aber mir gefällt’s.“
„Es ist ungewöhnlich“, pflichtete sie ihm bei und nippte am Tee.
„Und? Wie lange wirst du hier bleiben?“, fragte sie dann nach einer längeren Pause. Er schien zu überlegen und antwortete dann: „Also in der nächsten Woche habe ich noch zwei Vorlesungen. Nichts großes… einmal in einem Literaturcafé und einmal in einem Kurs an der Uni für szenisches Schreiben. Danach werde ich wohl weiterziehen. Ich muss recherchieren für mein neues Buch. Es wird in San Sebastian spielen, und damit ich alles realitätsgetreu beschreiben kann, will ich mir die Stadt lieber noch einmal anschauen.“
„Eine schöne Stadt“, murmelte die Frau, und dann fragte sie etwas schüchtern: „Willst du vorher einmal zum Abendessen kommen? Mit mir und meiner Familie… ich meine, wenn du schon mal hier in Berlin bist…“
Er lächelte ihr zu. „Wenn du mich einlädst, sehr gerne.“
Sie nickte und merkte, dass ihre Hände schwitzig wurden.
Jeden Moment kommt er, denkt sie und schaut nervös zur Uhr. Das Essen ist fertig, im Ofen wird der Braten warm gehalten und die Creme Brulee muss nur noch ihre Karamelldecke bekommen.
Ihr Mann kommt in die Küche gewatschelt, kratzt sich den Schnauzer. Er sieht sie an und nickt.
„Viel Mühe gibst du dir“, sagt er. Sie erwidert nichts.
„Aber dieses Kleid… oh, wieso musst du nur immerzu diesen gruseligen Fetzen anziehen?“
„Ich finde es sehr nett“, verteidigt sie sich leise. Er rümpft die Nase, als habe er so eben ein überfahrenes Tier am Straßenrand gesehen. Er öffnet schon den Mund, als wolle er noch mehr Einwände gegen ihre Garderobe aussprechen, doch dazu kommt es nicht, denn es klingelt an der Tür. Mia merkt, dass sofort ein Lächeln auf ihrem Gesicht erscheint, versucht es jedoch, da es ihr sehr überschwänglich vorkommt, zu vertuschen, indem sie die Hand vor den Mund hält. Er muss ja nicht sehen, wie sie lächelt. Er denkt dann wahrscheinlich nur wieder irgendeinen Blödsinn.
Sie eilt aus der Küche durch das Wohnzimmer, wo bereits die drei Kinder am Esstisch sitzen. Ihre Tochter, die Älteste, hat sich das Haar schick frisiert und die beiden Jungs, sieben und neun, tragen beide Hemden, so wie sie es ihnen aufgetragen hat, und das rührt sie für einen Moment so sehr, dass ihr schwindelig wird. Beinahe wäre ihr eine Träne über den Rand des Augenlids gekullert, doch sie kann sie zurückhalten.
Sie geht über die Treppe ins Untergeschoss ihrer renovierten Stadtvilla und öffnet die Tür. Es ist Nestor. Er steht vor ihr und lächelt und sie fühlt Erinnerungen, die sie erschlagen wie ein Blitz. So intensiv sind sie, so echt, und sie ist wieder ein junges Mädchen.
Er umarmt sie, sein Parfüm hüllt sie ein wie eine sanfte Wolke des Moschusduftes.
„Schöne Gegend hier“, sagt er. Sie lächelt.
„Grunewald ist nett“, erwidert sie, „doch manchmal es ist auch stinklangweilig hier. Wirklich, es passiert nichts.“ Sie lacht, obwohl sie das nicht lustig findet.
Er überreicht ihr ein Päckchen, das er in der Hand hält.
„Das nehme ich immer mit, wenn ich verreise“, erklärt er. „Es gibt mir immer das Gefühl, zu Hause zu sein.“ Sie packt es aus und sieht das Gemälde, das sie ihm einst gemalt hat: Eine Flut aus Blau, -Orange und Goldtönen. Sie wird rot. Er hat es immer bei sich, wenn er verreist.
„Komm hoch“, sagt sie überwältigt und gemeinsam gehen sie die Treppe rauf.
„Ich habe dich wirklich niemals vergessen“, sagte sie, und sie merkte, dass in diesen fünf Worten so viel Aussage steckte, als wäre es ein tausend Seiten langer Roman. Er sah ihr in die Augen, und sie vermochte nicht zu deuten, was sich unter der dunklen Oberfläche der mandelfarbenen Körper verbarg, was er dachte.
Ihr Mann mag ihn nicht. Das sieht sie sofort. Nestor ist die Art Mensch, die er ablehnt. Er hält nichts von Schriftstellern. Er hat auch kein Verständnis für Kunst. Er ist da sehr intolerant, denn er findet, dass das Zeitverschwendung sei und man auch viel wichtigere Dinge in der Zeit machen könne, in der man sich mit Kunst beschäftige. Er findet es auch nicht gut, dass sie gemalt hat. Sie sieht auch in seinen Augen, dass er es noch weitaus schlimmer findet, dass er nie gewusst hat, dass sie einst Stunden vor der Leinwand verbracht hat.
Das Essen verläuft ruhig. Sie sieht seinen Unmut, und sie versteht ihn nur zu gut. Nestor hat ja noch keine Ahnung, und sie hofft inständig, dass es so bleibt. Ihr jüngster Sohn hat noch nicht den Namen des fremden Mannes gehört, und das sollte er auch nicht. Gemeinsam sitzen sie am dunklen Mahagonitisch und essen Rinderfilet in Honig-Soja-Marinade mit Sesamkruste, als wäre das nichts Ungewöhnliches. Er ist nur ein alter Schulfreund, mehr nicht…
Plötzlich fragt der Kleine Nestor etwas. Mia sieht erschrocken zu ihnen, hoffend, dass jetzt nicht die Wahrheit ans Tageslicht kommen würde. Sie betet, obwohl sie nicht an Gott glaubt, und scheinbar glaubt dieser auch nicht an sie, denn bereits nach einer Minute fragt Nestor den Jungen nach seinem Namen.
„Nestor“, antwortet dieser, und plötzlich ist es totenstill im Wohnzimmer. Die Kinder scheinen zu merken, dass etwas nicht stimmt. Mia fühlt, wie ihr Blut in die Wangen schießt. Ihr Mann schaut sie kalt an. Er wird nicht ausbrechen wie der Vesuv. Er wird warten, bis der Gast weg ist. Nestor reagiert sehr feinfühlig darauf. Sie sieht, dass er merkt, wie verteufelt unangenehm ihr diese Situation ist und sagt nichts. Er faltet die Hände, stützt den Kopf darauf und lächelt sanft.
Der Abend geht nicht mehr lange. Direkt nach dem Digestif geht Nestor. Sie begleitet in zur Tür. Für einen Moment sind sie alleine.
„Es war ein netter Abend, Füchschen“, sagt er und lächelt viel sagend. Sie wird wieder rot.
„Du hältst mich jetzt für komisch“, sagt sie, und sie weiß, dass es wirklich seltsam ist, das eigene Kind nach der Liebe ihrer Jugend zu benennen.
„Nein, das tue ich nicht“, sagt er und lächelt sein warmes Lächeln. Er ist ein wenig älter, aber er hat nichts seiner alten Schönheit verloren. Sie muss an Tennesse Williams denken und daran, dass in einem seiner Bücher über einen Mann steht, dass er zu schön sei, um ein Mann zu sein. Das passt zu Nestor. Nestor ist weich, ist warm, ist nett…
„Oh Füchschen, du machst Sachen“, sagt er und lacht.
„Füchschen“, wiederholt sie wie in Trance. „So nennt mich niemand, außer dir. Wie bist du da eigentlich drauf gekommen?“
„Wegen deinem Haar. Es sieht aus wie das Fell eines Fuchses.“
Sie lacht, er lächelt. Dann umarmt er sie, und wieder ist sie im Damals. Dann geht er.
Alleine und mit dem Gefühl, als fehle ein Stück aus ihrem Inneren, geht sie nach oben, wissend, was nun folgt. Ihr Mann sitzt noch am Tisch. Er schaut sie durch die hellblauen Augen an. Er ist wütend.
„Erklär mir, was das sollte.“ Er hebt die Stimme nicht. Das macht er nie. Er hat immer denselben, kühlen Ton, als spreche er mit einer Patientin, einem kleinen Mädchen, das seine Praxis besucht und sich nicht die Zähne geputzt hat.
„Was meinst du?“
„Verkauf mich nicht für blöd.“
„Im Ernst. Ich weiß wirklich nicht, was du…“
„Du hast unseren Sohn nach ihm benannt.“
Darauf weiß sie erst nichts zu erwidern. Es stimmt. Dann jedoch sagt sie entschuldigend: „Der Name ist nur so hübsch.“
„Aha. Der Name. Genau. Ich habe mich damals schon gewundert, wieso du es unbedingt durchsetzen wolltest, aber jetzt weiß ich ja, wieso…“ Er hebt die Faust und schlägt sie donnernd auf den Tisch.
„Lass das“, sagt sie, nachdem sie vor Schreck zusammengezuckt ist. „Nachher hören uns die Kinder.“
„Ich habe sie ins Bett gebracht, während du dich verabschiedet hast.“ Nun ist er doch lauter. So wütend hat sie ihn noch nie gesehen.
„Trotzdem wirst du sie wecken, wenn du so laut bist. Wahrscheinlich sind sie sowieso noch wach, und…“
„Vergiss die Kinder“, zischt er zornig. Er hebt das Bild an. „Und das“, sagt er langsam. Er schüttelt es und schmeißt es dann zu Boden. Dann beginnt er darauf einzutreten, sodass das Gerüst der Leinwand krachend zersplittert und der Stoff reist. Sie merkt, dass ihr Tränen in die Augen steigen.
„Bitte hör auf“, sagt sie mit zittriger Stimme. Sie ist nicht traurig wegen des Bildes an sich, sondern weil es für sie wie ein konservierter Moment aus der Vergangenheit ist. Es ist für sie wie ein uralter Schatz, ein Fossil, ausgegraben aus den Untiefen der Belanglosigkeit ihres jetzigen Lebens. Es ist wie ein Farbklecks auf einer grauen Wand, und jetzt ist es zerstört. Nun liegt es als Trümmerhaufen auf dem Boden. Sie beginnt zu weinen.
„Hör auf zu heulen“, sagt er noch böser. Er geht auf sie zu, hebt die Hand und ohrfeigt sie. Sie ist so überrascht, dass sie augenblicklich aufhört zu weinen.
„Was ist überhaupt los mit dir? Du bist doch sonst nicht so bescheuert im Kopf. Ja, ja, ich weiß schon, kaum kommt dein Stecher von damals in die Stadt, und schon ziehst du dich an wie die letzte Schlampe. Ist er gut, Mia?“ Jetzt fehlen ihr die Worte. So hat er noch nie gesprochen. Er, der ein gutes Stück größer ist als sie, steht über sie gebeugt. Er ist nun wie ein Bussard, der herabstürzt, um eine Maus zu erlegen. Erneut holt er aus und schlägt ihr ins Gesicht. Dieses Mal noch heftiger, sodass sie zurücktaumelt. Schmerz durchfährt ihren Körper.
Ihr Mann dreht sich um und geht in Richtung Tür. Vorher jedoch bleibt er noch einmal stehen. Er hat sich beruhigt, denn er redet wieder ruhig und monoton: „Dass du nie wieder solche Flausen in den Kopf kriegst.“ Wieder redet er wie mit einem kleinen Mädchen. Dann verschwindet er und lässt sie alleine stehen.
Sie braucht einen Moment, bis sie sich beruhigt hat. Der Schmerz ist halb so wild. Viel schlimmer ist, wie er sie behandelt hat, aber sie vergibt ihm natürlich. Wenn sie ihm lange, zähe Ehejahre der Neutralität vergeben kann, ist das einfach…
Aber trotzdem fehlt ihr etwas. Sie ist einsam. Langsam geht sie durch den Raum zu dem schwarzen Ledersofa vorm Fernseher. Sie setzt sich hin und führt Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand in ihren Mund, befeuchtet sie. Sie weiß, dass es nicht rechtens ist, dass man so etwas in einer Ehe nicht tut, aber sie fühlt sich so alleine in diesem Augenblick. Langsam fährt sie mit ihrer Hand in ihren Schritt, in die zarte Seidenunterhose. Sie stöhnt, ein Schauer überkommt sie. Sie nascht vom finsteren Honig der Lust, kostet von der verbotenen Frucht. Dunkle, leidenschaftliche Gedanken strömen durch ihren Kopf, während sie den Finger zwischen die Lippen schiebt. Sie beginnt zu schwitzen. Nicht lange dauert es, bis sie zum Orgasmus kommt, den sie stillschweigend durchstehen muss.
Nachdem sie fertig geworden ist, weint sie. Es tut ihr Leid. Alles tut ihr Leid. Sie geht in die Küche und nimmt sich einen Zettel und einen Stift. Sie will eine Botschaft schreiben für ihren Mann, dass er sie liest, bevor er morgen in die Praxis fährt. Tränen fallen auf das Papier, lassen die Tinte der ersten Buchstaben verschwimmen, bedeutungslos werden…
„Es tut mir Leid. Bitte verlasse mich nicht, ich liebe dich doch“, schreibt sie und entschließt sich, nun ins Bett zu gehen, zu ihrem Mann.
Doch sie kehrt zurück zu dem Zettel, hält ihn sich vor die Augen und denkt: Nein. Sie trocknet sich die Tränen, ergreift erneut den Stift und schreibt darunter: „Es tut mir nur Leid, dass ich dich angelogen habe. Lebe wohl, Mia.“
Dann lächelt sie wieder und vergisst alles um sich herum. Sie vergisst ihren Mann, ihre Kinder und ihr Haus hier in Grunewald, das so nobel ist und so vornehm. Das ist ihr alles gleichgültig. Sie braucht nicht mal die teuren Kleider aus ihrem Schrank oder den Schmuck oder die exquisiten Parfüms, die ihr Mann ihr geschenkt hat. Das ist alles nicht wichtig.
Sie geht in den Hausflur, streift sich ihren Mantel über, geht die Treppe herunter und aus der Tür. Nichts ist mehr wichtig, und sie glaubt, wenn ihr Herz leuchten würde, würde man sehen können, wie wild es schlägt, in ihrer Brust.