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Fäuste im Staub
Wind strich durch die Planen, das Plastik machte eine klatschendes Geräusch.
Ashraf blickte mit besorgtem Blick auf die notdürftige Unterkunft mit dem
UN-Aufdruck. Draußen zog der Staub vorbei, die Kinder aus dem Zelt gegenüber
spielten Fangen. Rauch hing vor dem wolkenverhangenen Himmel, es roch nach
brennender Kohle. Die Sonne war stark im Norden Afrikas und die Luft trocken,
seine Haut brannte unentwegt. Er trank zu wenig, schon seit Wochen. Seine Lippen
waren ständig am Aufplatzen, mit seiner trockenen Zunge fuhr er alle paar
Minuten über sie, aber es half nichts. Sie blieb genau so trocken. Ihr Dasein in
dem Lager war mehr als bescheiden, dachte er. Er schritt durch das kleine
Zelt zu seiner Reisetasche. Es war Zeit sich zu rasieren. Er suchte nach dem
elektrischen Rasierer, aber da war nichts. Dabei war er sich ganz sicher, dass
er sich noch gestern in der Tasche befunden hatte. Gestern, als er in seinem
kleinen Englischlexikon „Fahrzeugingenieur“ nachgeschlagen hatte, nachdem er
mit dem italienischen Arzt gesprochen hatte. Ashraf wühlte und wühlte, aber
es kam nichts zutage. „Was suchst du?“, fragte seine Frau. „Der Rasierer, ich
finde ihn nicht.“ „Vielleicht hat ihn jemand weggenommen?“, meinte sie.
„Wer denn?“, sagte er leicht verärgert. Das wollte er nicht glauben, sie waren
fast die ganze Zeit im Zelt. Und sie kannten ihre Nachbarn. Wer soll das gewesen
sein, wann sollte es passiert sein? Er dachte nach. Und was, wenn doch? Samuel,
der zwei Zelte weiter mit den beiden alten Somalis wohnte, hatte er schon
länger im Verdacht, nicht ganz sauber zu sein. Und der hatte einen
ungepflegten Bart. Er blickte von der Tasche auf.
Dann trat er vors Zelt. Der Wind war stark, die Kinder kreischten, aus der
Ferne hörte er das Schimpfen einer Mutter. Es roch nach Staub und Schweiß,
der Geruch von Kohlen hatte sich verflüchtigt. Samuel saß nicht wie üblich
plaudernd vor seinem Zelt, wohl aber einer der Somalis. „Hei, wo ist Samu?“,
rief er ihm zu. Der Somali blickte ihn mit leeren Augen an. Er hatte
ausgemergelte Wangen und eine große Narbe unter einem Auge. Arme Typen.
Die waren von allen am schlimmsten dran. „Der wollte zu den Doktors.“,
nuschelte der Somali, dann fummelte er eine Zigarette aus seiner schmutzigen
Tasche. „Hast du Feuer?“ Ashraf blickte ihn kopfschüttelnd an und spürte Mitleid
mit dem Kerl. Womit hatten sie alle diesen Ort verdient? Sie lebten hier wie Tiere
und der Eifer des Aufbruchs war lange verflogen, sie waren hier gefangen.
Diesen Gedanken nachhängend schritt er durch die dunkelblauen Zeltreihen,
vorbei an staubigen Gesichtern, die ihm hinterher sahen. In seinen Augen juckte
der Staub. Er musste sich räuspern. Schon von weitem sah er die Schlange von
Menschen vor dem Zelt des Roten Kreuzes. Gott sei gedankt, dass von seinen
Leuten niemand krank war. Er bekreuzigte sich.
Die hohen Schultern und das ondulierte blauschwarze Haar Samuels erkannte
er sofort in der Reihe der Wartenden. Der Mann hatte eine bleiche Haut, er
war wohl nie viel an der Sonne gewesen, und war eine dürre, lange Erscheinung
wie ein Baum mit wenig Ästen. Jetzt erst merkte er, wie unsympathisch er
ihm eigentlich war. Langsam bewegte sich Ashraf um die Menge herum, um
einen seitlichen Blick auf den vermeintlichen Räuber zu werfen. Da stand er.
Die Wolkendecke brach auf, weißes Licht zwischen Blaugrau.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen stand Samuel da, sein Bart, ja sein
Bart war rasiert. Mit einem Mal stieg Zorn in Ashraf auf. Dieser Dieb! Wie
kann er es wagen? In sein Zelt zu steigen, seine Tasche zu durchwühlen und
ihm in seinem Reich sein Hab und Gut zu stehlen? Wo er doch fast nichts mit
sich hatte? Diese Ausgeburt der Hölle! Seine Wut war kaum zu bändigen.
Seinen inneren Druck noch kontrollierend schritt er langsam auf Samuel zu.
Dieser entdeckte ihn, als er nur noch einen Meter entfernt war. Offensichtlich
erkannte er den Zorn in Ashraf Augen, den er zuckte kurz, setzte dann aber
ein unwissendes Gesicht auf. „Du räudiger Dieb.“, war alles was Ashraf hervorbrachte,
flüsternd. Dann packte er Samuel mit der Linken an der Schulter und zog ihn zu
sich, während gleichzeitig seine rechte Faust ballte und auf das Gesicht des Diebes
schmettern ließ. Der Hass und die Wut der letzten Monate brachen aus ihm hervor.
Er ließ einen Schrei los. Es tat gut, er fühlte nichts mehr außer seine Wut. Der
Rasierer war jetzt nicht mehr wichtig. Es ging nur noch um die Befreiung seines
Zorns, der mit jeder Sekunde noch zerstörerischer wurde. Das hier alles, er hielt es
nicht mehr aus. Das seine Kinder an einem Ort wie diesen sein mussten, seine Frau,
er selbst. Das Leben hatte ihn beschissen, das Leben und die Menschen und Gott, und
wieder ließ er seine Faust niederfahren, und er spürte das warme Blut an seiner Hand
und Hände an seinen Schultern, die an ihm zogen und ihn packten, inzwischen saß er
auf Samuels Brust, seine Fäuste hämmerten weiter, schließlich zogen sie ihn von seinem Opfer herunter.
Er hörte nichts mehr, nur sein eigenes Schnaufen, als wäre er unter Wasser.
Seine Augen hatten sich mit Schweiß gefüllt. Arme drückten auf seine Brust und
schnürrten ihm den Atem zu. Jemand gab ihm einen Schlag auf den Nacken.
Er beruhigte sich ein bisschen, vor ihm lag Samuel, das Gesicht voller Blut, die
Augen geschlossen, in einer unbequemen Pose. Offenbar war er bewusstlos.
„Beruhig dich, Ashraf.“, sprach ein Bekannter zu ihm. „Was ist denn mit dir los?“
Nun kehrten all die Stimmen um ihn herum zurück, er tauchte auf, sein Blick
gen Himmel. Sonnenstrahlen fielen durch ein Loch in der Wolkendecke,
weiße Vorhänge aus Licht, wie auf den Bildern der alten Meister oder in
einem kitschigen Kinofilm. Wie lang hatte er sich nicht mehr amüsiert?
Wie lang war er nicht mehr im Kino gewesen, hatte kein Popcorn und keine
Cola mit Eiswürfeln getrunken? Wie lang würde der Horror noch gehen? Wie lange?
Doch der Himmel gab ihm keine Antwort. Langsam füllten sich seine Augen mit Tränen.