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Fänger des Lächelns
Fänger des Lächelns
Samuel sass am Küchentisch und schaute leicht indigniert auf das kleine, weisse Netzchen, das er gestern in der Zoohandlung zum Einfangen von Aquariumfischen gekauft hatte. Wird es funktionieren?
Samuel stand mit seinen 22 Jahren das erste Mal vor einer echten Lebenskrise. Genau vor einem Jahr verschwand es für immer; dieses einmalige, Wärme und Geborgenheit ausstrahlende Lächeln - dieses Elixier. Vor einem Jahr starb Samuels Mutter. So lange er sich erinnern konnte, hatte ihn das Lächeln seiner Mutter wie eine wundersame Barke durch das Leben getragen. Er war für sie jeden Tag ein Geschenk, das sie aus ihrem Innersten heraus auf eine eigentümlich sanfte Art stets anlächeln musste.
Der Vater starb sehr früh. Samuel kannte ihn nur von Fotos. Darauf war ein kahlköpfiger Mann mit schmalem, geradem Mund und einem dünnen Oberlippenbart abgebildet. Ein Beamter, ein Polizist eben. Samuel wuchs als Einzelkind auf, behütet und geschaukelt vom ewigen Lächeln seiner Mutter. Jetzt, wo sie tot ist, fehlt ihm der Boden unter den Füssen. Er fühlt sich ohne dieses Lächeln ausgestossen.
Samuel arbeitet in einem Bestattungsinstitut, wahrlich nicht der Platz des Lächelns. Er macht die Buchhaltung und hat keinen Publikumskontakt. Aus seinem Bürofenster im ersten Stock sieht er die Klientel ein und aus gehen. Im Erdgeschoss ist der Empfang und der Schauraum mit den Särgen und dem Grabzubehör. Er hört die gedämpfte Stimme seines Chefs, wenn dieser mit den Hinterbliebenen eines Verstorbenen die Bestattungsangelegenheiten bespricht. Manchmal hört er die Klientel leise weinen, etwas übertrieben schluchzen und eher selten - wenn sein Chef auf die Preise der Särge zu sprechen kommt - auch hysterisch lachen.
Auf ein Lächeln, das in der Regel geräuschlos ist, stiess er an seinem Arbeitsplatz noch nie. Sein Chef und dessen Frau, die gelegentlich in dem Institut aushilft, tragen stets säuerliche Mienen zur Schau. Eine Berufskrankheit.
Was soll er jetzt mit dem kleinen, weissen Netzchen anfangen? Ein Aquarium hat er keines, und eines kaufen will er auch nicht.
Das Netzchen war eine spontane Idee. Wieder einmal tauchte aus der Erinnerung das Lächeln seiner Mutter auf. In diesem Moment sah er die Aquariumsausrüstung im Schaufenster der Zoohandlung. Sein Blick fiel auf das Netzchen. „Klar“, sagte er zu sich, „wenn ich eine Frau lächeln sehe wie meine Mutter, fange ich dieses Lächeln einfach ein.“ Dafür wollte er das Netzchen stets bei sich tragen, wie ein Taschentuch.
Jetzt, wo aber das Netzchen auf dem Küchentisch liegt, ein bisschen Nylon, ein bisschen Draht, erscheint ihm das alles sehr kindisch. Und überhaupt: Wie kann er eine Frau dazu bringen, ihn so anzulächeln, wie dies seine Mutter immer tat. Ihr Lächeln war doch einmalig, nicht kopierbar,
Samuel beginnt darüber nachzudenken, wie das Lächeln sein müsste, um ihm eine Barke zu sein, die ihn wie das Lächeln seiner Mutter durchs Leben tragen würde. Er nimmt einen Schreibblock und einen Bleistift und notiert die ihm bekannten Arten von Lächeln. Mokant und hämisch streicht er gleich raus. Ein Lächeln wie es die Playmobil-Männchen in ihren Gesichtern tragen? - Nein! Das ist plastifiziertes Feixen. Bitte freundlich Lächeln, fürs Familienalbum? - Kitsch! Un sourire, wie es die Franzosen sagen? - Reine Touristenwerbung! Gewinnendes, strahlendes, betörendes, grenzenüberwindendes Lächeln? – Ist nicht echt, ist Lächeln mit Hintergedanken, mit undurchschaubaren Absichten! Das Lächeln der Mona Lisa, das berühmteste Lächeln der Welt, mit doch schon 500jährigem Bestand? – „Die zufällige Anordnung von Farbklecksen kann doch das Lächeln meiner Mutter nicht ersetzen“, sagt Samuel abschätzig und reibt sich das Kinn mit dem Fischnetzchen.
Samuel wacht aus seinen Tagträumen auf. Es ist höchste Zeit. Er muss zur Arbeit. In der Eile steckt er gedankenlos das nutzlose Fischnetzchen in die Manteltasche. Er hetzt zum Bahnhof und springt auf den bereits ausfahrenden Zug auf. Er setzt sich auf einen freien Platz. Da sticht ihn etwas in die Hüfte. Er greift in die Manteltasche, zieht es heraus; das kleine, weisse Fischnetzchen mit dem Drahtbügel. Ein Lächeln tritt in sein Gesicht. Er schaut auf. Eine Frau sitzt ihm gegenüber, vielleicht vierzig oder fünfundvierzig. Er lächelt sie an, sie lächelt zurück. Tränen schiessen ihm in die Augen. Es ist das Lächeln seiner Mutter...