- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 5
Exodus
Nun bin ich hier alleine. Der letzte meiner Art. Ein Soldat des letzten großen Krieges. Ich wandle einsam über einen sterbenden Planeten. Einen Planeten, den wir selbst getötet haben. Wo früher noch mit Pfingstrosen bedeckte Wiesen gediehen, erstreckt sich heute eine endlos kahle und trockene Wüste vor meinen Augen. Überall wo früher die mit Menschen überfüllten Metropolen waren, liegen heute verwesende ihre Leichen in den Ruinen. Niemand ist mehr da, um sie begraben. Nur der Wind bedeckt sie sanft mit dem Sand der Wüste. Der Wind, die letzten Atemzüge des Planeten.
Dabei warst Du doch wie eine Mutter zu uns. Du hast unsere ersten Schritte beobachtet, als wir diese Welt betraten. Du hast gesehen, wie wir uns immer weiter entwickelt haben und uns vor jeglichen Gefahren beschützt. Deine Atmosphäre schützte uns vor den Gefahren des Weltalls und gab uns die Luft zum Atmen. Du stelltest uns Medizin bereit, damit wir unsere Krankheiten heilen konnten. Du gabst uns alles, damit wir uns zu einer großartigen Kultur entwickeln konnten.
Ich wandle geradewegs auf die Ruinen einer riesigen Metropole zu, die einstmals Millionen von Menschen beherbergte. Meine Augen brennen von dem ständigem Sand, der sich seit dem Ende des Krieges in der Luft befindet. Orientierungslos irre ich umher. Der Sand gestattet es mir nicht mein Ziel selbst zu wählen. Alles was sich mehr als zehn Meter entfernt, kann ich nur als verschwommene Schemen erkennen. Die Reste der Ruinen sehen für mich wie riesige Monster aus, die nur darauf warten, dass ich ihnen in die Arme laufe, damit sie mich verspeisen können. Doch ich habe keine Angst vor ihnen. Zum Weglaufen ist es nun zu spät. Im Gegenteil, ich laufe sogar auf sie zu, weil ich von ihnen gefressen werden möchte. Denn nur dann bin sicher vor dem gewaltigen Zorn einer Mutter, die ihre Kinder verstoßen hat.
Dabei gabst uns doch so vieles, ohne viel dafür zu verlangen. Dein Land war groß und reich an Nahrung und Wasser. Genug, damit all Deine Söhne und Töchter ohne Sorgen aufwachsen konnten. Doch wir waren habgierig und voller Neid gegenüber unseren Geschwistern. Wir wollten immer mehr, der Stärkste unter Deinen Kindern sein, Macht über die anderen haben. Wir begannen uns zu hassen. Wir bekriegten uns. Während die einen immer reicher und mächtiger wurden, kämpften die Anderen mit Hunger und Armut. Immer mehr wurden sie zum Vergnügen und zur Bereicherung der Starken ausgenutzt. Doch Du hast dabei nur zugeschaut, in der Hoffnung, dass sich nur um einen kleinen Streit unter Geschwistern handeln würde, der sich von alleine wieder auflösen würde. Warum hast Du nie ein Machtwort gesprochen? Wo warst Du? Oder fühlten wir uns schon so erwachsen, dass wir glaubten, nicht mehr auf Dich hörten zu müssen?
Mit allerletzter Kraft erreiche die Fassade eines alten Gebäudes. Der Sturm wird immer stärker. Es fällt mir schwer zu atmen. Meine Augen sind nun geschlossen. Ich bin müde. Meinen Weg kann ich nur noch ertasten. Die Wand ist glatt. Der sandige Wind hat dafür gesorgt. Gefühlte Stunden taste ich an der Wand entlang. Meine Kraft lässt nach. Ich kann mich kaum mehr auf meinen Beinen halten. Sie geben nach. Ich stürze. Geradewegs der Wand entgegen. Doch die Wand gibt nach. Was ist passiert? Ich kann plötzlich wieder freier atmen. Der Sand ist kaum noch zu spüren. Bin ich vielleicht tot? An Schwäche zusammengebrochen und gestorben? Ganz vorsichtig öffne ich meine Augen. Ich sehe Wände, Regale, eine Decke und eine Tür, durch die ich gefallen bin. Hinter mir tobt der Sturm und versucht mich wieder einzufangen. Mit letzter Kraft krieche weiter in den vor mir liegenden Raum hinein und verschließe die Tür, damit er mich nicht mehr finden kann. Hier bin ich fürs erste sicher, bis der Sturm sich gelegt. Aber was dann? Was soll ich dann tun?
Wir wussten es nicht. Woher sollten wir auch wissen, dass wir uns selbst töten, wenn wir Dich töten. Mit jedem Krieg, jedem gerodeten Wald, jedem Stück Müll, das wir unachtsam wegwarfen kamen wir unserem eigenen Schicksal einen Schritt näher. Erst als wir den Ereignishorizont schon lange überschritten hatten, merkten wir, was wir angerichtet hatten. Dabei sandtest Du uns genügend Anzeichen, dass etwas mit Dir nicht mehr stimmte. Du überschwemmtest unsere Küsten, während anderenorts die Gewässer unter der enormen Hitze austrockneten. Deine Winde zerstörten unser Zuhause. Deine Atmosphäre war vergiftet, Dein Regen zerstörten unsere Ernten und ließ auch uns krank werden. Aber anstatt dass wir alle gemeinsam versuchten, das Unmögliche zu schaffen, um doch noch aus diesem schwarzen Loch zu entkommen, fielen wir übereinander her wie die Barbaren. Wie immer in unserer Geschichte suchten wir die Lösung in der Konfrontation als in der Vernunft.
Ich versuche mir einen Überblick von meiner Umgebung zu machen. Überall stehen Regale, in denen Bücher und Zeitschriften aller Art angeboten wurden. Bücher und Zeitschriften, die das Wissen und die Kunst mehrerer tausend vergangener Zivilisationen enthielten. Viele aber auch, die nur zu unser Unterhaltung fungierten, indem über das Leben anderer Menschen berichteten, die täglich auf Schritt und Tritt verfolgt wurden. Am hinteren Ende des Gebäudes wartet bereits der Besitzer hinter der Theke des Ladens. Ruhig sitzt er da und beobachtet mich. Mit weit aufgerissen Augen. In seinem Kopf und in seiner Brust befinden sich mehrere Einschusslöcher. Seinem Geruch und Aussehen nach zu urteilen, hält er hier bestimmt schon mehrere Monate Wache. Seine Kasse steht offen. Geplündert. Vor ihm liegt ein aufgeschlagenes „Flash Gordon“ Comic-Heft. Einer dieser irrealen Superhelden, wie Superman, Batman oder Spiderman, die einem Tag alleine die ganze Welt retten. Ohne auch nur ins Schwitzen zu geraten, brachten sie die Erde wieder ins Gleichgewicht und vertrieben ihre Peiniger. Viele Menschen verehrten sie.
Superhelden gab es noch vor einigen Jahren genug. Millionen von ihnen gab es, die täglich unter Einsatz ihres Lebens alles bewerkstelligten, um unserer Mutter zu helfen. Sie versuchten jeden Tag unter ständiger Angst zwischen ihren Geschwistern zu schlichten. Sie gingen dahin, wo jedem einzelnen von uns der Mut der fehlte, in der festen Hoffnung, dass sich die Rivalen wieder mit sich selbst und ihrer Mutter vertrügen. Andere wiederum versuchten, unsere Mutter wieder gesund pflegen, indem sie uns vor den drohenden Gefahren warnten, wenn wir weiter nicht auf sie hörten. In den Comics rettete ein Held die Welt vor Millionen Bösewichten. In der realen Welt genügte ein Bösewicht, um die Arbeit von Millionen Superhelden zu Nichte zu machen. So war dies auch an dem Tage, an dem wir erkannten, dass wir unsere Mutter und damit unsere Zivilisation, wie wir sie bisher kannten zum Tode verurteilt hatten. Unsere Superhelden zeigten uns noch ein letzten Ausweg, wie wir wieder ganz von Vorne hätten beginnen können. Es war der einzige Weg, der unser aller überleben hätte sichern können, der daran aber scheiterte, dass ein paar Bösewichter an ihrer Macht festhielten. Sie waren nicht dazu bereit, ihren Wohlstand aufzugeben und ihn mit ihren schwächeren Geschwistern zu teilen. Sie waren nicht dazu bereit, ihre technologischen Errungenschaften aufzugeben, die unsere Mutter so verletzten. Es war der Tag, an dem auf dieser Welt der letzte große Krieg ausbrach. Der Tag, an dem wir alle zu Soldaten und Mördern wurden.
Mittlerweile hat sich der Sturm da draußen wieder gelegt. Es ist Nacht geworden. Am Himmel sind nun wieder die Sterne zu sehen. Wunderschön. Es ist lange her, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Am Horizont bildet sich ins seiner ganzen Pracht ein Polarlicht. Es weißt mir den Weg zu meiner letzten großen Mission. Zu dem Ort, wo alles begann. Der Ort, an dem alles nochmals neu beginnen wird. Er hat mich zu sich gerufen und ich folge ihm blind. Seine Stimme begleitet mich nun schon seit Tagen. Oder bilde ich mir das alles nur ein? Plagt mich etwa nur mein Gewissen? Bin ich schuldig an all diesen Morden? Ich habe doch nur die Befehle meiner Vorgesetzten ausgeführt. Aber macht es das leichter? Wie fühlten sich wohl die Piloten der Frecce Tricolori, die nur nach Befehlen handelten, obwohl sie sich der Gefahr eindeutig bewusst waren? Gingen sie abends mit einem reinen Gewissen nach Hause zu ihren Familien, in dem Wissen, dass sie für den Tod von 67 Zuschauern und 3 ihrer Kameraden nicht schuldig waren, da sie nur die Anweisungen ihrer Vorgesetzten befolgten? Oder hätten sie es verhindern können, wenn sie den Mut aufgebracht hätten sich ihnen zu widersetzen. Warum taten sie es nicht? Warum taten wir es nicht? Warum ziehen immer die Unschuldigen in den Krieg und nie die Menschen, die ihn anderen Menschen erklären? Denn dann gäbe es keine Kriege.
Der Krieg war schrecklich und erbarmungslos. Wir zogen von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf. Wir plünderten von den Schwachen, damit wir unseren Wohlstand vergrößern konnten. Wir ermordeten jeden, damit wir unser Diebesgut nicht mehr mit anderen teilen mussten, damit wir mehr Wasser und Nahrung für uns hatten. Wir entledigten uns unseren schwächeren Geschwistern, wie mit alten Kleidungsstücken, die wenn man sie nicht mehr brauchte einfach auf den Müll warf. Ganze Landstriche wurden entvölkert, bis es die Schwachen nicht mehr gab. Dann griffen sich die Starken gegenseitig an. Doch die Zeit, die uns noch blieb war zu knapp und die Aufwände für einen konventionellen Krieg waren zu hoch. Es musste alles ganz schnell und einfach gehen. Also setzten wir die furchtbarsten Waffen, die wir uns vorstellen konnten. Nukleare Waffen. Es gab einen gewaltigen Knall. Der Schrei unserer Mutter, als wir ihr das Schwert durch ihr Herz stießen. Innerhalb von nur zwei Tagen wurde sämtliche verbliebene Metropolen die Welt dem Erdboden gleichgemacht. Niemand darin überlebte. Die Erde und die Gewässer waren verstrahlt. Wer das „Glück“ hatte zu dieser Zeit in keiner der Metropolen gewesen zu sein, verbrachte nun seine restliche Zeit als einsamer Vagabund. So etwas wie Staaten und Vorgesetzte gab es nun nicht mehr. Von nun an war jeder im Kampf ums Leben auf sich alleine gestellt. Jeden Tag auf der Suche nach Wasser und Nahrung. In ständiger Gefahr lebend wegen eines Bechers sauberen Wasser im Schlafe kaltblütig ermordet zu werden.
Ich bin nun gleich da. Ich habe mein Ziel nun schon vor Augen. Das Polarlicht, dem ich gefolgt bin, beginnt langsam hinter einem steil aufragenden Gipfel zu verblassen. Hier am Fuße eines Berges stehe ich nun, wo einst alles angefangen hatte. Er sagte, er werde hier auf mich warten, jedoch würde er sich mir nicht von sich aus zu erkennen geben. Jedoch würde ich ihn erkennen, wenn ich reinen Herzens wäre. Der Aufstieg ist schwierig und kräftezehrend. Schon seit Tagen habe ich nichts mehr gegessen. Ich bin müde. Aber ich darf mich jetzt noch nicht hinlegen. Ich habe eine Mission zu erfüllen. Erst dann kann ich ruhen. Vor mit brennt ein mit Dornen übersäter Busch. Die Dürre und die Hitze der letzten Tag müssen ihn entzündet haben. Nur noch ein paar Meter, dann habe ich den Gipfel erreicht. Hier sollte ich ihn erwarten. Dann schenkt er mir die Möglichkeit, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren, sofern ich ihn überzeugen kann, dass die Menschheit eine weitere Chance verdient hatte. Aber wo bleibt er? Habe ich mir die Stimmen vielleicht doch nur eingebildet, vielleicht bin ich sogar wahnsinnig aufgrund der großen Einsamkeit geworden? Das wird es wohl sein. Wie sonst könnte es wohl es sein, dass der Dornbusch vor mir brennt und dennoch nicht verbrennt? Wer sollte mich denn hier erwarten, wenn ich doch der letzte meiner Art bin. Ich habe den Glauben verloren. Den Glauben daran, hier etwas vorzufinden, das die Menschheit retten könnte. Vielleicht verdiente sie einfach keine weitere Chance mehr. Meine Aufgabe habe ich nicht erfüllt. Wie zu oft, wenn ich die Möglichkeit hatte es zu verändern habe ich versagt. Ich bin müde. Ich werde mich jetzt schlafen legen und ruhen. Für immer.