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Exit Strategie
Überqualifizierung ist ein Hindernis, auf der Suche nach Arbeit. Das war ihr in den letzten Wochen recht unmissverständlich klar geworden.
Die Dielen in ihrer zugigen Altbauwohnung mit den quietschenden Wasserhähnen knarzten als sie sich, während die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, auf den Ledersessel im Flur warf. Die Katze entfloh der achtlos fallengelassenen Tasche. Ein Bein über der Armlehne, ließ sie ihren Kopf zur Seite fallen. ‚Fuck‘! Erschöpft, frustriert, mit wachsendem Unbehagen.
Sie besah sich im Spiegel gegenüber, die Lichterkette warf schummriges Licht auf ihr Bild, Staub tanzte um ihr Gesicht. Sie beobachtete sich, während sie eine Zigarette drehte. Tabakkrümel auf ihrer Unterlippe. Sie suchte nach Anzeichen von Hoffnung und Schönheit. Schwer zu finden, nach einem Tag voller Enttäuschung. Die Katze strich miauend zwischen Schuhen, Handtaschen und Teppichfalten um den Sessel. Es roch nach ihr, Rauch und dem Gras im Topf auf dem Badschrank. Zuhause, wenigstens, dachte sie bei sich.
Die Erinnerung an das Team im Eingangsbereich eines stadtbekannten Hotels – bekannt für seine preiswerte Schäbigkeit – schmerzhaft. Die guten Adressen hatte sie längst aufgegeben, nach immer wiedergehörten Entschuldigungen, alle suchten professionelle Service-Kräfte. Heute war sie von zwei Empfangsdamen, deren Verhalten nahelegte, dass sie in ihren Augen – wahrscheinlich auf Grund ihres Akzentes – nicht nur Ausländerin, sondern auch beschränkt sei, in Babysprache aufgefordert worden, einen Bewerbungsbogen auszufüllen. Sie hatten ihr gleich zwei in die Hand gedrückt, für den Fall, dass sie sich beim ersten Mal verschrieb. Von Idioten als totaler Idiot behandelt werden, schoss es ihr in den Kopf und dann, dass es ja stimmte. Sie sah nicht gut aus, auf dem Papier, im Empfangsraum eines Hotels. Mit ihren zwei Universitätsabschlüssen und der beeindruckenden Anstellungshistorie, überqualifiziert eben. Was sie eigentlich hier wolle, immer wieder die Frage. Sie verstand ja selbst nicht, dass ihr nach über 50 Versuchen der Bewerbung auf ihrer Ausbildung angemessene Stellen: einfach die Luft ausgegangen war.
Die Zigarette im Mundwinkel, Rauch in den Augen, zerrte sie an ihren Stiefeln, der Schnee hatte dunkle Seen hinterlassen. Beim Aufstehen trat sie in einen und machte Flecken auf den weißen Karos des schachbrettgemusterten Küchenbodens.
Ein großzügiges Glas Rotwein in der Hand, Musik aus den Lautsprechern, betrachtete sie das Chaos in Küche und Wohnzimmer: ‚Fuck‘! Besuch in einer halben Stunde, ihr Kühlschrank war leer, dreckiges Geschirr überall. Sie kaute an ihren kurzen Nägeln, abblätternden Nagellack auf ihren weißen Zähnen, und fasste einen Entschluss. Es konnte ihr egaler nicht sein, wie die Wohnung aussah. Das einzige was sie interessierte war das Bett, und das war frisch überzogen.
Gegen das Bücherregal im Wohnzimmer gelehnt, die Beweise ihrer Qualifikationen im Rücken, atmete sie tief durch. Der Wein auf ihren leeren Magen begann zu wirken, und sie entspannte sich zum ersten Mal – nur ihre Augen tanzten noch, unfähig sich auf einen Punkt zu konzentrieren.
Sie hatte Hunger und schrieb Matthias, dem erwarteten Besuch, in einer recht unfreundlichen SMS eine Bestellnummer vom Chinesen zwei Häuser weiter. Sie hasste Abhängigkeit. Matthias um Essen, nun nicht gerade zu bitten, aber dennoch – verursachte Abneigung in ihr, unfairerweise gegen den Boten. Das Eingeständnis dessen erfolgte wie die meisten Reflexionen in letzter Zeit nur widerwillig.
Unter der Dusche, das Muster zahlloser gesprungener Badfließen vor sich, dachte sie an die Ausweglosigkeit ihrer Situation. Sie war ihrer großen Liebe gefolgt, als sie Paris hinter sich ließ, um bei Paul in Berlin zu sein. Sie dachte an ihren Lebenslauf, der in Frankreich so speziell war, der sie so unglaublich qualifiziert machte – und der in Deutschland so verschachtelt und zusammengesucht klang. Ob das nun an der Übersetzung lag, der unterschiedlichen Benennung von Studienfächern und Anstellungen, oder an ihrer zurückhaltenden Art sich zu präsentieren, egal, es funktionierte nicht in Berlin.
Dann dachte sie an das Angebot Franks, das er ihr vor ein paar Wochen in der dunkelsten Ecke eines Clubs den sie frequentierte, gemacht hatte. Kokain auf der Lehne der Ledercouch zwischen ihnen, die Musik so laut dass sie ihn kaum verstanden hatte, und schwitzende Körper in ihrem Blickfeld. Überhaupt dachte sie an wenig anderes als daran.
Frank war eine Bekanntschaft, die aus der Ära Paul übergeblieben war. Paul, der seine Doktorarbeit in Kriminalistik geschrieben hatte, über Organisationsstrukturen europäischer Drogenringe. Er hatte Frank vor Jahren in einer Bar interviewet und sie dahin mitgenommen, aus Unbehagen davor, alleine zu gehen. Sie hatte Frank auf den ersten Blick gemocht, beide hatten sich recht wortlos verstanden und sie war wenig verwundert, als er ein paar Tage später hinter ihr stand und sie auf einen Kaffee einlud. Da war nie etwas gewesen, zwischen den beiden, auch nicht nachdem sie Paul verlassen hatte. Nur regelmäßige Treffen an immer wechselnden, öffentlichen Orten. Frank schien ihren Tagesablauf zu kennen, und nach ein paar Monaten war sie nicht mehr überrascht oder verärgert, wenn er sie irgendwo zwischen zwei Terminen fand, nur um sich zu unterhalten.
Genauso war das an diesem Abend in dem Club gewesen. Sie hatte sich alleine auf eine der Couches gesetzt um eine Pause vom Tanzen zu machen, er saß neben ihr, als sie aufsah. Erst zwei Lines Kokain und dann seine lächelnden Augen. Dass sie aussähe als könne sie das gebrauchen, hatte er bemerkt und sie gefragt ob sie Arbeit gefunden hatte. Kopfschüttelnd erinnerte sie sich daran, dass ihr früher an diesem Tag klar wurde, dass sie nur noch einen Monat hatte, bevor sie entweder einen Job haben musste – oder eben, ja, was. Zurück nach Frankreich?
Da machte Frank ihr das Angebot. Zum ersten Mal schlug er vor, sie in seine Geschäfte zu integrieren. Weil ich ihm leidtue, erkannte sie in unter der Dusche, und Schmerz und Scham entluden sich in einem harschen Lachen und einem neuerlichen ‚Fuck‘!
Dann, abgetrocknet und angezogen schenkte sie sich Wein nach und setzte sich auf den Sessel vor den breiten Flügeltüren neben der Box, drehte die Musik lauter und beobachtete das rot und bunt der Stadt. Sie dachte an Hotels, gutes Essen. Inlandflüge, und Zugreisen, nachts in leeren Ersten Klasse Abteilen. Unterwegs mit einem unauffälligen Markenkoffer. Sie dachte an Unabhängigkeit, an Telefonate und Treffen mit Frank, an Strände und die Freiheit, die mit dem Risiko kam. An Geld und Verantwortung, nicht an Konsequenzen. Sie dachte daran, wieder Kontrolle zu haben.
Als es klingelte machte sie auf und nahm Matthias das Essen aus der Hand. Sie entging seinem Versuch sie zur Begrüßung zu Umarmen, und eigentlich sich an ihr zu reiben, mit der Begründung es sei zu kalt, er solle die Tür schließen, schnell!, und schob ihn von sich. Sein Blick wanderte – automatisch beim Wort kalt – zu ihren Nippeln, die hart und steif gegen ihr dünnes Unterhemd rieben. Natürlich bemerkte sie es, was für ein Klischee. Noch genervter war sie von seinen hinterlassenen Schneeseen, die ihr frische Paar Socken durchnässten. Sie zog sie aus, mit den großen Zehen des jeweils anderen Fußes, während er sich umständlich aus seiner Winterjacke wandte, und lief auf Krümeln, Staub und kleinen Steinchen in die Küche. Das Essen roch nach Fett, sie zog das Plastikbesteck aus der Tüte.
Matthias räumte die Bücher auf der Bank um den Tisch zur Seit, und setzte sich. Ob er nichts esse, fragte sie ihn, die einzige Portion aus der Tüte nehmend. Er beobachtet jede ihrer Bewegungen. Ihre tätowierten Arme, als sie sein Weinglas füllt, ihre Zunge, wie sie das fettige Essen von ihren Lippen leckt. Er begehrt sie, mehr als anderen Frauen zuvor. Die Risse sieht er nicht, eigentlich sieht er sie überhaupt nicht, hinter ihrer Eleganz und dem Stolz. Während sie so in ihrer Küche sitzen, in ihrer Unordnung, mit ihrer schlechten Laune, wandern ihre Gedanken von einer ihrer abgebrochenen Beziehung zur nächsten. Sie war immer hingenommen worden wie sie war, recht kritiklos betrachtet, behalten worden, obwohl sie sich so oft daneben benahm – sie gestand sich ein, dass Matthias Augen genau das sagten. Verlangen, Besitzanspruch, geliebt-werden-wollen. Und bloß nicht loslassen. Sie befand sich als optimale Beute für ihn, flüchtig, spannend, als einfacher Ausweg aus seinem langweiligen Leben.
Sie kaute langsamer, hob ihr Weinglas und fragte: ‚Was willst du eigentlich von mir, was wünschst du dir‘? Matthias, ein schlechter Lügner, und ob ihrer recht grausamen Direktheit am Überlegen gehindert, antwortete sofort und unvorteilhaft ehrlich. ‚Ich will mit dir zusammen sein, ich will für dich da sein und dich unterstützen‘. Dass er damit alle roten Tücher auf einmal schwenkte, und außer schlechtem Essen nicht einmal etwas anzubieten hatte, sah er nicht. Es war vorbei.
Das langsame Kauen hörte auf, den Rotwein an den Lippen bedachte sie ihn mit einem indifferenten Blick. Jemand der sie genau kannte, Paul vielleicht, hätte den Blick zu deuten gewusst. Matthias verharrte, in erschrockenem aber – man kann es ihm kaum übelnehmen – hoffnungsvollem Schweigen. Dass sie eine Entscheidung getroffen hatte, schneller als er 'zusammen sein' sagen konnte – war ihm entgangen.