Ewiges Eis
Ewiges Eis
Kannst du mich hören? Nein, du kannst es nicht! Wenn du mich nämlich hören könntest, meine Liebe, wüsstest du, wie es um uns steht. Du hast dich verändert. Klar, auch ich habe mich verändert. Veränderungen sind gut, wenn sie Entwicklung sind. Ja, wir haben uns entwickelt, jeder auf seine Weise, jeder in seine Richtung. Du hast das Beste aus dir gemacht - das Beste für dich. Und ich? Ich habe deine Veränderung mitangesehen, konnte aber die Richtung nicht finden, die du eingeschlagen hast. Alles ging so schnell, plötzlich warst du weg. Von einer Lawine überrollt.
Spürst du auch diese Kälte? Es ist das Eis. Ja, wir haben unsere Ehe auf Eis gelegt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Immer haben wir darauf gewartet, dass uns eines Tages jemand oder etwas daraus befreien würde.
Von einer Lawine überrollt. Nun sind wir da, wie zum Hohn, eingeschlossen im ewigen Eis. Ich kann dich nicht erreichen, wenn ich mich auch noch so sehr bemühe, meine Hand nach der deinen ausstrecken will, dich spüren will, fühle ich nur diese Kälte. Spürst du sie auch, diese Kälte?
Kannst du mich hören? Ich will dir sagen, auch ich habe mich verändert. Du hast es nur nicht gemerkt. Du warst zu sehr mit dir selbst beschäftigt. Das war nicht immer so. Es gab da mal eine Zeit, kannst du dich erinnern, da waren wir uns sehr nahe. Wir haben alles geteilt, bevor wir begonnen haben, uns zu entwickeln. Ich glaube nicht, dass deine Richtung schlecht war, sie war nur anders. Das habe ich gesehen, als ich meine Richtung endlich gefunden habe. Wir wurden uns plötzlich so fremd und zwischen uns wurde es kalt. Du bist mir entglitten und dann warst du weg.
Spürst du das auch? Ich spüre deine Finger! Ich habe mich sehr bemüht, dich zu erreichen, dir nachzukommen. Ich wollte dich doch wieder spüren. Siehst du, wir haben uns gefunden. Deine Finger sind so kalt.
Was gäbe ich dafür, sie wärmen zu können. So wie früher, als ich meine Lippen darauf gelegt habe, meine warmen Lippen. Aber ich komm nicht ran, so sehr ich mich auch bemühe. Die Schneedecke ist zu dick und viel zu dicht. Ich kann mich kaum selbst mehr spüren. Fühlst du das auch? Diese Kälte in dir?
Kannst du mich hören? Nein? Das ist gut. Dann kann ich dir endlich gestehen. Es ist einfach passiert, ich weiß nicht wie. Sie stand plötzlich vor mir und dann lag ich neben ihr, sie hat mich überrumpelt, das Eis in mir gebrochen. Ich kann nicht sagen, dass ich es bereue, aber ich bin auch nicht stolz darauf. Das sollst du noch wissen, bevor mich diese Kälte auffrisst. Ja, halte meine Hand, halt sie ganz fest, sie ist das einzige, das ich dir jetzt geben kann.
Ich wollte diesen Urlaub, ich bin schuld, ich weiß es. Dachte, wir würden uns wieder näher kommen. Wer kann denn wissen, dass uns diese Lawine überrollt? Ist es nicht wirklich wie zum Hohn? Da liegen wir nun und warten, dass uns irgend jemand davon befreit. Von dieser Eiseskälte. Mein Gott, ich spüre meine Beine nicht mehr! Aber ich spüre deine Hand. Sie tut gut, auch wenn wir uns nicht aneinander wärmen können. Sie ist da, deine Hand, nur das zählt. Wie lange schon hab ich sie nicht gespürt, so wie jetzt. So nahe waren wir uns schon eine Ewigkeit nicht mehr.
Ich weiß, du kannst mich nicht hören. Auch wenn ich noch so laut schreien will. Ich habe keine Luft mehr zum Atmen. Ich spüre deine Hand nicht mehr. Aber sie wird ewig brennen in meiner. Ewig.
Ich kann dich hören! Mein Gott, ich kann dich hören! Haben sie uns gefunden? Ja, ich höre deine Stimme! Jetzt wird alles wieder gut! Es ist jemand da, der uns befreit. Siehst du, ich hab es dir gesagt. Wir werden uns wieder nahe kommen, ganz nahe. Und nie wieder werde ich dich verlassen. Welche Richtung du auch immer einschlägst, ich werde bei dir sein.
Mein Gott, beeil dich! Ich kann nicht mehr! Ich spüre nichts mehr.
Kannst du mich hören? Natürlich kannst du mich nicht hören, aber ich weiß, du wirst mich nicht vergessen.
Zwei Jahre später
„Geht es Ihnen gut?“ Der Sanitäter streckt die Arme aus, um ihr Halt zu geben.
„Ja, ja, danke. Ich muss nur ein bisschen Luft schöpfen, dann geht es schon wieder.“ Sie versucht, auf ihren wackeligen Beinen stehen zu bleiben. Es will nicht gelingen, der Schreck sitzt noch zu tief in ihren Gliedern. Erschöpft sinkt sie auf die Schneedecke nieder.
„Also, gnädige Frau, wir bringen Sie mal zur Kontrolle ins örtliche Krankenhaus. Und Sie sind sicher, dass Sie ganz alleine waren, als die Lawine abging?“
„Ganz sicher. Es war niemand sonst auf der Piste.“
„Sie hatten Glück, gnädige Frau. So ein Lawinenabgang bedeutet für die meisten Opfer den Tod!“
Langsam hebt sie den Kopf, ihr Gesicht nimmt einen verbitterten Ausdruck an und in ihren Augen stehen Tränen.
„Ich weiß“, sagt sie fast tonlos. „Meinen Mann konnte man nicht mehr lebend bergen, obwohl ich die ganze Zeit über seine Hand gehalten habe.“
[ 07.08.2002, 08:37: Beitrag editiert von: Barbara ]