- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Evolution
Metamorphose
Schon mit zwei Jahren wusste Steven, dass es für ihn nirgendwo einen sicheren Platz gab.
Seine Mutter Hattie trug nicht viel dazu bei, seine Meinung zu ändern, ihr Sohn bedeutete für sie ein gedecktes Konto und ein Dach über dem Kopf, ansonsten hatte sie keine besondere Verwendung für ihn.
Wenn es an der Wohnungstür klingelte, begann Steven zu zittern und versteckte sich unter dem rustikalen Eichentisch im Wohnzimmer. Sein kleines Herz raste und klopfte so stark gegen die Rippen, dass es wie Paukenschläge in seinen Ohren dröhnte.
Klingeln bedeutete meistens Besuch.
Und es kamen etliche......
Sie nannten sich selbst die netten Onkel, aber sie waren weder seine Onkel noch nett, obwohl der eine oder andere Geschenke mitbrachte.
Immer jedoch hatten sie Kameras dabei, kostspielige Dinger mit teuren Extras, die ein vielfaches des Betrages ausmachten, den sie Hattie in die Hand drückten, bevor das Kind mit ihnen alleine gelassen wurde.
Mit vier Jahren wusste Steven etwas Neues, nämlich dass er die Onkels mitsamt seiner Mutter glühend hasste. Er hätte das Gefühl niemals beim Namen nennen können, aber es war etwas Schwarzes und ungeheuer Machtvolles. Und es gab ihm auf eine kranke Weise Stärke.
Da er nicht in den Kindergarten ging, konnte er sich niemandem mitteilen, aber er zeichnete und wie er zeichnete, nämlich in einer für einen Vierjährigen geradezu gnadenlosen Präzision. Hattie betrachtete sämtliche Bilder von Zeit zu Zeit mit hochgezogenen Augenbrauen, dann sammelte sie die Zeichnungen ein und verbrannte sie kommentarlos.
Steven konnte nichts dagegen tun, aber er begann, einige Bilder hinter den wackeligen Steinen der Kellermauer zu verstecken. Was er damit anfangen wollte, war ihm nicht ganz klar, aber er hoffte, dass jemand sie eines Tages finden würde.
Als er fünf Jahre alt geworden war, zogen sie um auf das Land in ein geräumiges Haus mit wertvollen Möbeln, auch das Essen wurde besser, denn die neuen, netten Onkel schienen über wesentlich mehr Geld zu verfügen.
Trotzdem half ihm das nicht über die Tage hinweg, an denen er baden musste, um gut zu riechen. Sobald das Badewasser eingelassen wurde, begann Steven zu zittern und verursachte dadurch winzige Wellen in der Wanne. Das Geräusch des Zähneklapperns störte den Besucher bei seinen Manipulationen am kindlichen Körper, und er beschwerte sich bei der Mutter, daraufhin gab sie ihrem Sohn vor dem Baden ein leichtes Beruhigungsmittel. Die Zufriedenheit der Kunden ging schließlich vor.
Ein paar Wochen vor Stevens sechstem. Geburtstag flatterte ein Brief der Schulbehörde ins Haus.
Nun bekam Hattie es mit der Angst. Sie zitierte das Kind in das neue, große Wohnzimmer, er durfte sich sogar neben sie auf das wertvolle Designersofa setzen. Dann fixierte sie ihn mit kalten, grauen Augen, und Steven dachte, dass es nun soweit wäre, nun würden sie ihn endlich umbringen, und alle Qualen hätten ein Ende.
„Steven, in vier Wochen ist Einschulung“.
Sie kniff ihre Augen zusammen und musterte Steven argwöhnisch, aber er gab keinen Laut von sich, sein Gesicht blieb unbewegt, tief im Inneren fühlte er Freude, denn das bedeutete Sicherheit für ein paar Stunden. Er kannte den Begriff Schule aus dem Fernsehen und seinen vielen Büchern.
Teilnahmslos zuckte er mit den Achseln, worauf sie nach einem weiteren prüfenden Blick weitersprach.
„Deshalb gehen wir in einer Woche nach Amerika zu Onkel Pete. Er hat viel Geld und kann uns ein schönes Leben bieten. Ich habe ihn bereits angerufen, er ist sogar damit einverstanden, dich zu adoptieren. Dann haben wir beide ausgesorgt. Er freut sich sehr auf dich“.
Steven schluckte aufgeregt, ein dicker Kloß im Hals drückte ihm fast die Luft ab, selbst wenn er gewollt hätte, war ihm das Sprechen unmöglich.In seinem Magen schien etwas Großes zu flattern, Hände und Füße prickelten wie unter Tausenden von Nadelstichen.
Hattie massierte sich die steile Falte zwischen den Augenbrauen, klatschte abschließend ungeduldig in die Hände und stand vom Sofa auf.
„Geh wieder in dein Zimmer und überlege dir schon mal, was du mitnehmen willst. Wir lassen den anderen Plunder hier, dort, wo wir hingehen, brauchen wir davon nichts mehr“, und sie lächelte zufrieden.
Doch Steven wusste, dass sie in letzter Zeit jedes Mal, bevor sie zu Bett ging, kleine, weiße Tabletten einnahm, ohne die sie keinen Schlaf mehr fand, trotzdem wachte sie nachts schreiend auf. Dann lächelte Steven, es machte ihn glücklich.
Seine Träume verliefen sehr viel besser, besonders der eine, wo er fast geräuschlos in großen Bögen in einem schuppigen Körper unter einem dunklen Himmel durch rauen Wüstensand glitt.
Im Traum sah er zwar schlecht, aber er konnte durch seine gespaltene Zunge riechen, wo sich all die kleinen, ängstlichen Tiere versteckten, von denen er sich ernährte. Das war sehr befriedigend für ihn. Im klaren Wasser eines stillen Teiches sah er sein Spiegelbild, dunkle Augen starrten gefühllos zurück. Er fühlte sich alt, weise und stärker als jedes andere Lebewesen.
Dieser Traum schlich sich immer wieder in seinen Kopf, nie ganz der gleiche, sondern viele Varianten davon, aber stets erfüllte ihn Macht und unbändige Kraft. Wenn er mit einem berauschenden Glücksgefühl erwachte, half es ihm, die Besucher und mit ihnen die an ihm vollführten demütigenden und schmerzhaften Handlungen auszublenden.
Am letzten Tag vor der Abreise hatte er starke Kopfschmerzen . Sein Kiefer schmerzte ihn ebenfalls. Als er sich im Badezimmerspiegel betrachtete, bemerkte er, dass sein Gesicht angeschwollen war. Steven öffnete den Mund und betastete vorsichtig die obere Zahnreihe, auf der ein ungeheurer Druck lastete. Er war nicht fähig, irgendetwas zu essen, obwohl er rasenden Hunger verspürte.
Hattie musterte ihn, auch ihr fiel die Veränderung in seinem Gesicht auf.
„Du wirst doch nicht krank werden? Das würde Onkel Pete gar nicht gefallen, er kommt morgen, um uns abzuholen. Sieh zu, dass du alles bis dahin gepackt hast, ich sage das nicht noch einmal. Hier hast du ein Aspirin, das wird helfen. Besser, du isst heute mal nichts“. Sie gab ihm einen unfreundlichen Schubs und stieß ihn in sein Zimmer, dann schloss sie hinter ihm ab.
Die Nacht kam, und Steven schlief trotz des Schmerzmittels unruhig. Immer wieder wälzte sich der magere, geschundene Kinderkörper ruhelos von einer Seite auf die andere.
Endlich entführte ihn ein neuer Traum in die ihm bereits bekannte Welt. Aber diesmal war alles anders und sehr viel beunruhigender. Sein glatter, gepanzerter Körper füllte eine Höhle unter dem Gipfel des Berges fast völlig aus. Der dreieckige Kopf züngelte nervös, denn das Ende der Häutung war noch nicht lange her, die neue Haut spannte unangenehm. Das Reptil spürte mit seinen sensiblen Sinnesorganen die Aufregung tief im Tal unter ihm.
Schemenhaft erkannte Steven Fackeln, von Menschen getragen, die zu ihm emporkletterten, und zwischen ihnen wand sich eine nackte, gefesselte Gestalt, deren schrille Schreie von Gesang und Getrommel der Träger begleitet wurden.
Steven spürte, wie sich sein Traumtier bewegte, die anstrengende Häutung in den letzten Tagen hatte Jagd und Nahrungsaufnahme verhindert. Ein rasender Hunger überfiel ihn bzw. das riesige Reptil, das sich jetzt langsam aus der Höhle schlängelte, immer wieder züngelnd.
Inzwischen hatten die Fackelträger und ihr Opfer die letzte Steigung überwunden.
Noch einmal ertönte wildes Trommeln, dann wurde der Gefangene an einen abgewetzten Pfahl unweit des Höhleneingangs gebunden, sein lautes Jammern nützte ihm wenig, denn seine Peiniger flohen talabwärts, sobald sie ihn in sicherem Gewahrsam wussten..
Steven fröstelte im Traum, doch er merkte auch, wie ihn etwas packte, was weitaus intensiver war als jedes andere Gefühl außer seinem Hass, nämlich die blanke Gier, seinen Körper um zappelndes, zuckendes Fleisch zu winden und zu spüren, wie unter dem Druck der Ringe langsam und unaufhaltsam das Leben aus ihm wich.
Der gewaltige Reptilienkörper richtete sich träge auf und pendelte vor dem Pfahl hin und her, die dreieckige Schnauze öffnete sich, zwei lange Zähne, spitz wie Nadeln, traten aus dem Oberkiefer hervor. Die Schreie waren verstummt, halb ohnmächtig hing das Opfer in den Stricken, fixiert von schwarzen, gleichgültigen Augen. Das Ende kam schnell.
Steven wachte auf, keuchend vor Furcht, alle Knochen im Leib schmerzten ihn, seine heißen Hände krampften sich um die Bettdecke und zerrten daran. In den Ohren hörte er noch das widerwärtige Knirschen, mit dem die tödliche Umschlingung des Reptils das Rückgrat des Unglücklichen zermalmte.
Mühsam befreite sich der Junge aus den zerwühlten Laken und taumelte benommen ins Badezimmer. Dort spritzte er sich erst einmal kaltes Wasser ins Gesicht. Die Schwellungen und Kieferschmerzen waren zwar zurückgegangen, aber die Innenseite seines Mundes brannte wie Feuer, außerdem trugen ihn seine Beine nur mit Mühe.
Er kletterte wieder in sein Bett, langsam ließ das Brennen nach. Bevor er endlich in einen nunmehr traumlosen Schlaf dämmerte, registrierte er noch mit einem Gefühl der Zufriedenheit, dass sein Hunger merkwürdigerweise verschwunden war.
Am nächsten Morgen wurde Steve durch Unruhe im Haus geweckt. Seine Mutter lief nervös hin und her, sie packte die letzten Koffer und pochte an seine Tür.
„Stell alles, was du mitnehmen willst, hier auf den Flur. Und beeile dich mit dem Anziehen. Frühstücken kannst du im Flugzeug“.
Ungeduldig schaute Hattie auf die Uhr.
„Pete kommt gleich, mach schneller, Steven, oder soll ich nachhelfen?“.
Steven war wie gelähmt. In seinen Ohren hörte er das Blut rauschen, die Stimme seiner Mutter drang dumpf wie durch Watte zu ihm durch. Die obere Zahnreihe tat ihm wieder weh, und er fühlte, wie seine Augen zuschwollen. Die Zunge lag klumpig in seinem Mund und schien eine merkwürdige Form anzunehmen. Die Arme wurden ihm immer schwerer, mit Mühe griff er nach seinem Pullover.
„Ich bin krank!“ wimmerte er leise. Hattie gab ihm eine schallende Ohrfeige. „Die ist dafür, dass du mich anlügst, du bist nicht krank“.
Sie riss Steven den Pullover aus der Hand und wollte ihn rücksichtslos über seinen Kopf stülpen, als es klingelte.
Sofort ließ sie den Jungen los, eilte zur Haustür und riss sie erwartungsvoll auf.
Draußen stand ein etwa siebzigjähriger, hagerer Mann mit Glatze und tiefen Falten in seinem roten Gesicht.. Bevor er eintrat, wischte er die beschlagene Brille mit einem Taschentuch aus seiner Aktentasche trocken.
Er nickte Hattie kurz zu, dann glitt sein kalter Blick zu Steven, der kraftlos an der Tür seines Zimmers lehnte. Kalter Schweiß floss ihm den Rücken hinunter, und er taumelte zurück zu seinem Bett.
Onkel Pete folgte ihm und tätschelte den mageren Rücken. Gleich darauf zog er angewidert seine behaarte Hand zurück.
„Du bist total verschwitzt. So kannst du nicht bei mir zu Hause ankommen. Mein zukünftiger Sohn ist ja kein Penner, was soll denn das Personal denken. Ab in die Badewanne, ich helfe dir dabei, dann geht es schneller“. Er grinste den Jungen breit an und blinzelte ihm zu, und Steven wusste, was der unbarmherzige Mensch von ihm wollte.
Obwohl von Hattie keine Hilfe zu erwarten war, schaute sich Steven nach ihr um, aber sie stand mit einer Tüte vor dem Kleiderschrank und packte schweigend seine Schuhe ein, ihrem Sohn gönnte sie keinen Blick.
Onkel Pete hatte bereits das Wasser in die Wanne gelassen und krümmte neckisch seinen Zeigefinger, seine blassgraue Zunge leckte gierig über die aufgesprungenen, dünnen Altmännerlippen..
Da glitt Steven mit einem dumpfen Laut zu Boden. In seinem Kopf wirbelte es, rote Funken tanzten vor seinen Augen. Seine Beine schienen sich in eine formlose Masse zu verwandeln. Er sah, wie Onkel Pete den Mund bewegte und sprach, aber Steven konnte den Mann nicht hören, er war taub. Seine riesige Zunge füllte mittlerweile den ganzen Mund, die Spitze hing ihm bis zum Kinn.
Er roch den Körpergeruch des Mannes, und er stank noch widerlicher, wie in seiner Erinnerung. Die Mischung von altem Schweiß, Rasierwasser und Gleitgel brachte ihn fast dazu, sich zu übergeben.
Hattie stand neben Steven und packte wütend seinen Arm. Sie schrie ihn an und schüttelte ihn so heftig an den mageren Schultern, dass sein gesenkter Kopf von einer Seite auf die andere flog. Als er sein Gesicht hob und seine Mutter ihm in die Augen sah, wurde sie kreideweiß, ließ Steven los und wich zur Tür zurück. Ihr Mund bewegte sich, doch Entsetzen lähmte die Stimmbänder.
Aber ihr veränderter Sohn war bereits jenseits aller menschlichen Empfindungsfähigkeit am Rande seines Bewusstseins angelangt, er merkte kaum noch, wie der geplagte Körper sich dehnte, schließlich völlig verwandelte und der neuen, zweckmäßigeren Daseinsform entgegenstrebte.
Und als grauenvolle Schreie die Stille des Hauses zerbrachen, die Nachbarn alarmierten und das über Jahre gut gehütete, furchtbare Geheimnis offenbarten, durfte endlich sein aufgestauter Hass sich entladen und Rache nehmen für die gestohlenen Jahre seiner Kindheit.
Die Polizisten fanden einen Mann und eine Frau tot vor, ihr körperlicher Zustand ließ selbst die hartgesottenen Beamten erschauern.
Das Fleisch beider Leichen war blau-schwarz verfärbt, fast sämtliche Knochen zersplittert, eine blutige Schleifspur führte aus dem Tatort hinaus durch die offene Wohnungstür in den Wald und von da aus zum Ufer des kleinen Sees, dort verlor sie sich, und auch die Spürhunde waren nicht imstande, sie weiter zu verfolgen.
Der Gerichtsmediziner, der die spätere Autopsie durchführte, schüttelte immer wieder den Kopf, denn so etwas war ihm in seiner bisherigen Laufbahn noch nie vor die Augen gekommen.
Als er persönlich seinen Bericht beim Polizeipräsidenten präsentierte, schaute ihn dieser ungläubig an.
„Erwürgt und vergiftet.... unmöglich. Keine Giftschlange zerquetscht ihre Opfer und umgekehrt, keine Würgeschlange hat Giftzähne. Was erzählen Sie mir da für einen Unsinn?“
Der ratlose Mediziner wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er wusste selbst, das das völlig absurd war, aber die Untersuchungsergebnisse sprachen für sich.
„Die Labortests haben ein noch unbekanntes Gift ergeben, es ist ungefähr tausend mal tödlicher als das Gift eines Taipans, der gefährlichsten Schlange Australiens. Dazu kommt, die Toten hatten fast keinen einzigen heilen Knochen mehr im Leib“.
Der Polizeipräsident winkte zornig ab. „Der Bürgermeister macht mir bereits die Hölle heiß, die Öffentlichkeit will Informationen. Was soll ich ihm sagen? Dass ein Monster in unserer friedlichen Stadt herumschleicht? Das macht sich ganz schlecht für die Wiederwahl. Wir ziehen noch einen Experten hinzu. Und Sie schlafen am besten Ihren Rausch aus. Viel wichtiger ist, dass wir herausfinden, was es mit dem Kinderspielzeug und den grauenvollen Zeichnungen auf sich hat. Die Nachbarn haben angeblich nie ein Kind dort gesehen“.
Hundertschaften durchkämmten die nähere und weitere Umgebung des Hauses, suchten den Wald ab, Taucher wurden in den See geschickt, alles ohne Erfolg. Nach einer Weile stellte man die Suche ein, und der Fall wurde zu den unerledigten Akten genommen.
Den neuen und verbesserten Steven interessierte das alles nicht. Er glitt in seinem geschuppten Körper durch tiefe Wälder voller Nahrung und fand wie in seinen Träumen eine Felsenhöhle, die ihm als Heim diente. Nun war er zwar einsam, aber endlich in Sicherheit vor den Ungeheuern in Menschengestalt.
Doch die Zeitungsberichte über ungeklärte, unheimliche Vorfälle auf der ganzen Welt mehrten sich, und Steven blieb nicht lange allein.
Die Verwandelten stellten eine neue Spezies dar, ausgestattet mit den stärksten Waffen, die die Natur zu bieten hatte und es dauerte eine lange Zeit, bis die Wissenschaft dem Geheimnis der Metamorphose auf die Spur kam.