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Evolution der Prophezeiung und Kindererziehung
Der Druide warf acht Runensteine in die Luft und sie purzelten auf ein markiertes Oktagon in den Sand. Er strich über den weißen Vollbart, der ihm bis zur Brust reichte. „Meine Brüder und Schwestern, so mögt ihr denn vernehmen, was die Götter uns bekannt geben.“ Unter den Zuhörern herrschte angespannte Stille.
Eine Mutter hatte zu Beginn der Prozedur ihre zwei Sprösslinge nach vorn geschoben. „Lasst doch mal die Kinder durch!“, schimpfte sie, rammte zwei Stammesältesten ihren Ellbogen in die Flanke, und platzierte den Nachwuchs stolz in der ersten Reihe. Besagte zwei Jungs gähnten herzhaft und im feierlichsten Moment der Germanen quakte der kleinere Blondschopf enttäuscht „Sie sagen nichts!“
Die Blick des Druiden waren rasierklingenscharf und er bündelte ihn exakt auf die Stirn des Kindes. Von hinten drängte die Mutter aufgeregt vor. „Frodewin!“, ermahnte sie und zerrte den Sohn weg, um ihn in einer unauffälligen Ecke zur Ordnung zu rufen. Mit hochrotem Kopf wisperte sie im Weggehen: „Verzeihung für die Unterbrechung der Zeremonie.“
Der Druide seufzte über die ungebührliche Jugend, die Unfähigkeit in der Pädagogik und das Unglück der Welt an sich. Dann setzte er neu an. „Die Götter lassen uns wissen ...“ In einer bedeutungsschweren Pause versicherte er sich der Aufmerksamkeit sämtlicher Teilnehmer. Besonders das Kind ganz vorn musterte er genau, aber es war inzwischen eingeschlummert und so drohte keine weitere Störung. „... Der Winter wird kalt! Es wird der kälteste Winter, den wir je erlebt haben. Geht, sammelt Holz, jagt Wild und legt Vorräte an. Es drohen harte Zeiten.“
Diese Germanen waren ein ausgeschlafenes Volk. Sie nickten andächtig, bestätigten dem Druiden, wie wertvoll und unentbehrlich seine Prophezeiung für alle wäre und dass sie ohne seine Vorhersagen schon so vielen Unglücken in die Arme gelaufen seien. Dann gingen sie ins Nachbardorf und fragten, nur zur Sicherheit, auch dort den ansässigen Druiden.
Dessen Bart reichte bis zum Bauchnabel. Runensteine waren längst überholt, das wusste er genau. Er verwendete Kräuter, die er mit heißem Wasser aufgoss. Die Flüssigkeit schüttete er auf den Boden und las aus den Kräutermustern im Topf die Zukunft. Die Technik war modern, bewährt und äußerst zuverlässig.
Die Germanengruppe war jetzt gewachsen, denn zwei Dörfer scharten sich um den Topf. Auch die zwei Kinder waren wieder dabei. Die Mutter hatte dieses Mal mehr Mühe, sich und ihrem Nachwuchs Platz zu verschaffen. Bis in die vordere Reihe schaffte sie es nicht. Kurzerhand hob sie den braveren Sohn auf die Schultern. Er reckte neugierig den Kopf und beobachtete.
Der moderne Druide schwang die Arme, schritt um den Topf herum und summte einen tiefen, sonoren Ton. Der Germanenjunge stellte mit schiefgelegtem Kopf fest: „Er kriegt ganz nasse Füße, wenn er im Schlamm tapst. Seine Mutti wird schimpfen, wenn er mit so dreckigen Füßen heim kommt!“ Der Mutter blieb fast das Herz stehen. Was hatte sie nur falsch gemacht, dass ihre Jungs jeden nötigen Respekt vermissen ließen. „Dankrad!“, zischte sie und ging beiseite, um das ungläubige Kind zu erziehen. Strafende Blicke der anwesenden Germanen begleiteten sie.
Der Druide ließ sich überhaupt nicht ablenken. Er brummte weiter, bis er plötzlich, wie vom Blitz durchzuckt, inne hielt und mit erhobenen Händen auf eine Stelle im Topf starrte. Alle hielten den Atem an. Seine Worte klangen, als wenn jemand Fremdes durch ihn spräche. Er machte Pausen, wartete die Wirkung jeder Äußerung ab: „Kalte Luft - Schnee - Sturm - Eis - Hunger.“ Alle sahen betreten zu Boden, hatten sie doch so auf eine bessere Vorhersage gehofft. Dann beendete er mit einem gebrüllten Wort, das alle in Panik versetzte, die Prophezeiung „Verderben!“ Alle waren überzeugt. Hier musste nichts mehr gesagt werden. Es galt nun keine Zeit zu verlieren und überall setzte geschäftiges Treiben ein. Jagen, Holz sammeln, Vorräte schaffen - und selbstredend: Kinder erziehen.
Zu jeder Zeit gab es Kluge und Klügere. So auch zur Zeit der Germanen, da gab es die Römer. In Alexandria fand im Herbst ein Treffen mit dem örtlichen Philosophen statt. Ein Laie hätte Ähnlichkeit mit dem Germanendruiden erkannt. Aber natürlich war das, was die Römer taten keine profane Magie. Ihre Geistesgrößen waren hochrangige Wissenschaftler und mit ihrer Logik über jeden Hokuspokus erhaben. Im Atrium standen andächtig interessierte römische Bürger. Der Gelehrte trat vor und begann seine mitreißende Rede über Politik, Gesellschaft und Fortschritt. Sein Bart reichte bis zum Boden, und weil er sonst darüber stolperte, schlang er ihn als Gürtel um die Hüfte.
Ein römischer Junge tippte seinen Vater an der Tunika: „Was wäre, wenn der Mann nur rät was er sagt?“ Er griff seinen Sohn an den Schultern und sah ihm tief in die Augen. Er holte zu einer Ohrfeige aus, hielt in der Luft inne, dann lachte er lauthals.
Als der Philosoph seine Rede beendete, rief der Vater: „Du magst ein weiser Mann sein, doch sag uns noch: wie wird das Wetter in diesem Winter?“ Die Anwesenden waren empört über diese Frechheit, doch der Denker lächelte. Seine Antwort kam gleichgültig und selbstverständlich. „Die Germanen sammeln Holz, da wird es wohl kalt werden.“ Tosender Applaus füllte den Raum. Die Römer waren sich sicher: dieser ist der Klügste und Logischste von ihnen.