- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Evelin
Das Brummen hatte sie aufhorchen lassen. Sie wollte ihren Augen nicht trauen, als sie aus dem Fenster spähte und die Maschine entdeckte, von der tatsächlich ein Mensch stieg. Es gab noch Motorräder? Menschen und Motorräder, offensichtlich, und sie wusste nicht, was sie verblüffender finden sollte. Zu einer Säule war sie erstarrt, unfähig, die Situation zu verarbeiten; du dumme Gans. Was nun? Wie oft hatte sie in den ersten Wochen nach Ausbruch der Seuche an diesem Fenster gestanden… Bot es doch den besten Ausblick aus dem Bungalow, ein gutes Stück die Straße hinab. Hast du wirklich geglaubt, es würde niemand mehr kommen? Irgendwann musste jemand kommen. Was wollte er?
Dann bemerkte sie, dass da ja nicht nur die Straße mit ihren entvölkerten Häusern und dieser einsame Reisende waren, sondern auch Markus, ihr kleiner Junge, der im Garten vor dem Haus spielte. Oh nein, er lief auf den Fremden zu. Sie beeilte sich die Treppe hinab und tauchte in der Eingangstür auf, ihrem Sohn hinterherrufend, was sie ihm über Fremde erzählt habe?
Er drehte sich zu ihr, dann wieder zu dem Besucher. »Dass es keine mehr gibt, Mami«, meinte er.
»Markus, komm sofort her!«
»Lassen Sie doch den Kleinen«, beschwichtigte der Mann.
Ihr Blick war scharf auf ihren Sohn gerichtet. Bedröppelt leistete er Folge.
»Wie alt ist er?«, erkundigte sich der Fremde. »Sieben oder Acht? Wurde er vor oder nach der Seuche geboren?«
Wachsam blieb sie in der Tür stehen, schlang die Arme um ihren Sohn, ohne den Besucher aus den Augen zu lassen. Er verstehe, dass Sie vorsichtig sei. Kein Körperkontakt, aber er sei sauber, versicherte er.
Schön für ihn.
»Ich komme aus der Stadt. Ich bin Medizin-Student auf Forschungsexpedition. Auf der Suche nach Leute wie ihnen, die im Umland überlebt haben. Ich kann Sie untersuchen, wenn Sie wollen.« Dabei kam er dem Haus schrittweise näher.
»Uns geht es gut, kein Bedarf.«
Mensch, Sie war doch gerade Anfang Zwanzig, noch mädchenhaft. »Das muss doch hart gewesen sein, so jung ein Kind aufzuziehen, völlig isoliert.«
Als könnte er einen Hauch von ihrem Leid erfassen.
»Und der Vater? War es die Seuche?«, hakte er nach.
»Ja.« Knapp und gut.
Er hatte sich bis zum Eingang vorgearbeitet, bückte sich und wuschelte Markus durch die Haare. Der Junge zuckte zurück und presste sich an seine Mutter.
»Hab keine Angst, ich tue euch nichts«, und erhob sich wieder, die Hände zurücknehmend. »Ich möchte mich nur etwas mit ihnen unterhalten. Darf ich reinkommen?« Er lächelte. Widerstand war nicht ihre Disziplin. Ach, was soll‘s. Sie ging zurück ins Haus. Unbemerkt, mit einem knappen Handgriff, zog er ein zylindrisches Gerät aus seiner Jacke hervor, gab die entwendete Haarprobe des Jungen hinein und ließ es wieder verschwinden.
Er folgte ihr in den Flur. Schön hatten sie es hier. »Gehört es…«, erkundigte sich der Fremde
»Ja, es gehörte meinem Stiefvater. Wir haben es nicht besetzt.«
Nun, er hätte es verstanden.
Sie verschwand durch eine Tür. Neugierig spähte er in die anderen Ecken - dem Anschein nach alles normal - bevor er ihr folgte. Er trat in das Esszimmer ein und fand den Jungen an einem gedeckten Tisch sitzend. »Wie ist die Stadt so?«, fragte er.
Die Stimme seiner Mutter unterbrach ihn: »Wollen Sie mit uns Essen? Ich war gerade am Kochen.«
Unverhohlen spähte er auf sein Armbanddisplay, auf dem er nicht die Zeit, sondern das Ergebnis der DNA-Analyse fand. Oh, er musste bleiben, mehr erfahren und es kam ihm nicht ungelegen.
Er willigte ein und sie brachte einen dampfenden Bohneneintopf herein. Der Junge verzog bei dem Geruch das Gesicht. Dennoch aß er eifrig seine Portion.
Es faszinierte ihn, an ihrem Alltag teilhaben zu können. »Ich heiße übrigens Matthias«, verriet er.
»Evelin«, sagte sie mit dem Hauch eines Lächelns. Sie war seine aufregendste Entdeckung bisher. In jeder Hinsicht. Es wurde nicht leichter, nun, da ihr Schicksal einen Namen bekommen hatte.
»Erzähl Markus etwas über die Zivilisation da draußen, dann erzähle ich etwas über uns«, schlug sie vor. Der Junge starrte ihn aufgeregt an.
»In den Städten leben immer noch hunderttausende Menschen. Kannst du dir die Zahl vorstellen?« Er schüttelte den Kopf. »Das sind sehr viele, aber früher, vor der Seuche, gab es noch viel mehr Menschen. Außerhalb, wie bei euch, sind fast alle Leute umgekommen; oder sie sind geflohen. In den Städten konnten wir die Kranken isolieren und die Gesunden mit Medikamenten, gefilterter Luft und Wasser versorgen. Dort hat immerhin jeder Dritte überlebt.«
»Aber jetzt stirbt keiner mehr?«, erkundigte sich Markus.
»Jedenfalls nicht mehr an ACV. Es gibt kein Heilmittel, aber wir haben die Krankheit ausgerottet.« Dass Viren mutieren können, erzählt man doch keinen kleinen Kindern.
»Uns kann nichts passieren«, versicherte Evelin ihrem Jungen und knuddelte ihn liebevoll.
»Darf ich dir jetzt ein paar Fragen zur Geburt von Markus stellen?« Dabei beobachtete er Evelin, die abwesend wirkte. Er wollte sich an ihr Lächeln von vorhin erinnern. Es war verschwunden. In ihren Augen lag eine tiefe Melancholie.
»Markus, magst du die Geschichte von Mami und deiner Geburt hören?«, fragte sie unvermittelt ihren Sohn.
»Neeeeee«, und zog den Vokal in impulsiver Abscheu in die Länge. »Die ist doof!«
»Dann geh auf dein Zimmer etwas spielen, während ich sie unserem Gast erzähle. Ich schau später nach dir.«
Kurz überlegte der Knabe, dann sprang er auf und trabte davon.
»Ich habe mir erlaubt, deinen Sohn zu testen. Er trägt eine inaktive Form des ACV in sich. Ich nehme an, du warst mit ihm schwanger, als die Seuche ausbrach und du dich infiziert hast?«, stellte der Mediziner fest. »Hast du je Symptome gehabt?«
»Es hat mich sogar geheilt.«
»Wie meinst du das?«
»Sagt dir dein schlauer Test nichts über meine Genkrankheit?«, fragte sie in einem unerwartet harschen Ton.
»Es ist nur ein Schnelltest.«
»Na, früher konntet ihr Ärzte das. Habt meiner Mutter völlig unvermittelt bei der Pränataldiagnostik mitgeteilt, dass ich einen genetische Defekt besitze. Morbus Pompe. Das kennst du aber?«
»Natürlich. Den Patienten fehlt ein lebenswichtiges Enzym. Bei der infantilen Variante beträgt die Lebenserwartung ohne Behandlung nicht einmal ein Jahr. «
»Meine Mutter konnte sich entscheiden: Abtreibung oder ein behindertes Kind auf die Welt bringen, das ein Lebenlang auf Medikamente angewiesen ist.«
»Man betrachtet Menschen mit einer solchen genetischen Anomalie nicht als behindert. Mit einer Enzymersatztherapie steht ihnen eine fast normale Lebenserwartung bevor.«
»Dann nenn es ein Stigmata. Ich glaube, die Versicherung hat es eine vermeidbare Prädisposition genannt. Meine Mutter hätte sich über den Müll informieren müssen, den sie und mein Erzeuger da in ihren Genen rumschleppen. Oder die Blaue-Augen-Pille nehmen sollen. Du weißt, was ich meine. Gen-codierte Verhütung. Nix mit blauen Augen, aber wer sich nicht gegen die Empfängnis gendefekter Kinder schützt ist selber schuld. Wie Morbus Pompe. Die Behandlung kostet zehntausend Euro jährlich und die Versicherung zahlt keinen Cent.«
»Wie haben deine Eltern reagiert?«
»Meinen biologischen Vater habe ich nie kennengelernt. Hat sich aus dem Staub gemacht. Meine Mutter hat ihre Existenz geopfert, die Kosten haben sie in den Ruin getrieben, aber sie hat versucht mich durchzubringen.«
»Das tut mir leid.«
Statt einer Antwort starrte sie in die Ferne. Du bist launisch, ungerecht. Er will helfen.
»Allen tut es immer nur leid, dass ich bin, wie ich bin«, murmelte sie. »Und wenn ich hingefallen bin, hieß es immer ‚Das arme, kranke Kind‘.«
»Wie hast du es so lange geschafft?«
»Meine Mutter hat meinen Stiefvater kennengelernt. Ein Besserverdiener, privat versichert, hat sie geheiratet und meine Behandlungskosten übernommen. Dafür muss ihm dankbar sein.«
»Und du hast seit der Seuche ohne die Therapie überlebt?«
Sie nickte.
»Zuerst dachte ich, ich müsse auch sterben. Wie meine Mutter und mein Stiefvater. Wenn nicht an der Seuche, dann an meiner Krankheit. Doch nichts passierte. Es ging einfach immer weiter.«
»Das ist unglaublich! Dann gibt es eine Kopplung zwischen dem GAA-Glucosidase-Gen, dem Enzym und ACV.«
Seine Gedanken schrieben schon Lehrbücher um, bis seine Gefühle einschritten. Seine eilig ausgesprochen Fachbegriffe waren Salz in ihren Wunden. Wie sie da saß, konnte er nicht anders, als sich für ihr Schicksal verantwortlich fühlen. Sie wollte beschützt werden.
»Du musst dich nicht schämen.«
»Ich bin nicht wie du. Ich verstecke mich, weil ich Angst habe.«
»Ich finde, du bist sehr tapfer.«
»Ich bin froh, dass es so gekommen ist.«
Sie kam ihm vor wie ein scheues entlaufenes Tier, das keine oder nur schlechte Erfahrungen mit Menschen hatte und nicht wissen konnte, ob man es streicheln wollte oder ihm etwas Böses tun.
»Ich habe mir nicht eingebildet, die einzige Überlebende zu sein. Mir war klar, dass es noch andere Menschen geben musste. Bloß fürchte ich, andere Überlebende würden es eine Unverschämtheit finden, dass es mir durch die Seuche besser geht.«
Wie hatte er verdient, sie zu finden? Sein Denken hatte sich im Streit entzweit. Sie war eine Schatztruhe, voller Erkenntnisse für das Institut. Aber du hast sie gefunden.
»Wer sollte denn so etwas Gemeines denken? Du hast überlebt, das ist etwas Wunderbares.«
»Menschen tun viele gemeine Dinge.«
»Es ist nichts an dir, wofür du dich verstecken müsstest. Du bist eine gut-aussehende, junge Frau, Evelin.«
»Das ist lieb…« Ein Lächeln zog in ihrem Gesicht auf.
»Vielleicht sollte ich froh sein, dass du in den letzten Jahren nur wenige Anmachsprüche gehört hast.«
»Vielleicht«, bestätigte sie neckisch.
Ihre Hand näherte sich ihm zögerlich und strich ihm sanft über die rechte Backe. Was sollte er sagen? Wie reagieren, war es ernst, war sie nur einsam? Wie weit wollte sie gehen? Er könnte sich anstecken. War er das Risiko nicht schon mit der ersten Berührung eingegangen? Sie musterte ihn gebührend, als sähe sie ihn zum ersten Mal richtig. Es ist besser zu schweigen. Seine Sorgen spielten keine Rolle. Wie konnte er ablehnen, wenn ihn die Heilung der Welt küssen wollte?
»Komm mit«, flüsterte sie. Sie führte ihn in ihr Schlafzimmer. Das Elternschlafzimmer hatte sie nie annektiert, sondern war in ihrem Kinderzimmer geblieben. Von dort waren alle Zeugen ihrer kindlichen Unschuld verschwunden. Doch eine erwachsene Frau war noch nicht eingezogen. War er bereit dazu? War sie es?
Als sie sich auszog, konnte er die Narben an ihren Armen entdecken und die zahlreichen Schnitte am Körper. Er war nicht schockiert. Sie war eben ganz allein gewesen, schwanger und voller Sorgen, natürlich hatte sie an Selbstmord gedacht. Es versucht. Sich selbst verletzt. Sollte er ihr das vorwerfen? Er strich ihr über die Striemen, malte sich die Schmerzen aus, die sie erlitten haben musste und es erregte ihn. Sie brauchte ihn.
War es vernünftig, was sie taten? Doch er konnte nicht zurück, er war auf ihr und bereit. Nein, es ging ihr doch zu weit, zu schnell, schmerzhafte Erinnerungen kamen hoch. Plötzlich regte sich Widerstand, sie stemmte sich gegen ihn, doch er wollte. Es hatte keinen Sinn, noch nie gehabt. Sie ließ nach und er kam.
Erschöpft ließ er sich fallen. Bemerkte, wie sie aufstand und ins Bad verschwand. Es war nicht wie erwartet gewesen. Sorgen überfielen ihn. Die Einsamkeit hat ihr nicht gut getan.
»Was bedrückt dich? Habe ich etwas falsch gemacht? Ich dachte, du wolltest es auch?«
Tränen hatten ihre Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen.
»Du warst so lieb. Ich dachte mit dir könnte es anders sein.«
Er erahnte den Schatten auf ihrer Seele, doch wie konnte er die Frage stellen, ohne Wunden aufzureißen? »Du solltest von hier weg, unter Menschen«, riet er ihr.
»Nein, das will ich nicht. Ich bleibe hier.«
»Dir ist noch etwas anderes zugestoßen, oder? Dein Sohn… Wer ist der Vater?«
»Mein Stiefvater. Ich war dreizehn. Er hat gesagt, ich käme ihm verdammt teuer zu stehen und ich solle doch meinen Anteil leisten.«
»Deine Mutter hat nichts bemerkt?«
»Sie hat nicht zugehört. Meinte nur, ich solle ihm dankbar sein, dass ich leben darf. Ich existiere durch die Gnade der Medizin und des Geldes.«
»Mensch…«, doch Beschwichtigungen machen es nicht ungeschehen.
»Ich möchte, dass du gehst«, äußerte sie kaltherzig.
»Gut. Wenn du hier bleiben möchtest, dann komme ich mit Fachkräften aus der Stadt wieder. Wir reden und du lässt dich untersuchen.«
»Du sollst nicht wiederkommen, mit niemanden.«
Seine Stimme wurde ernst, »Evelin, bitte, es ist für die Medizin von großer Bedeutung, dass dein Zustand genauer untersucht wird.«
»Das ist mir scheißegal«, schnaubte sie und wehrte sich. »Es gibt Andere.«
Er griff sie am Oberarm und rückte sie gerade, damit sie ihm auch ja zuhörte: »Du bist zu wichtig, ich werde nicht einfach gehen.« Da tauchte die Haarschere in ihrer Hand auf. Ein Reflex. Ihm schnitt der Schmerz ins Herz. Rückwärts schlug er gegen die Fliesenwand und dann zu Boden.
Warum bloß musste es genauso kommen wie mit ihrem Stiefvater? Es war ihre Schuld, das wusste sie. War es immer. Wie sehr sie sich doch wünschte, mehr zu sein als ihre Gene.