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Eve und Jürgen
Josephine Keller und ihr Vater waren keine klassische zerrüttete Familie. Die Eltern hatten sich nicht scheiden lassen. Ihre Mutter hatte sich das Leben genommen, als Josephine 10 Jahre alt war. Sie war es auch gewesen, die ihr den Spitznamen Joey gegeben hatte. „Ich mag Namen, die für Mädchen und Jungen gleichermaßen passen“, hatte sie immer gesagt. Sie war eine sehr sanfte und zärtliche Frau gewesen, aber immer auch irgendwie abwesend und in ihrer eigenen Welt lebend. Einer Welt, die andere nur teilweise betreten konnten, und in der sie sich am Ende immer mehr verirrt hatte.
Als Kind empfand Joey ihre phantasievolle Mutter mehr als eine Freundin. Sie war nie wirklich eine Autoritätsperson. Diesen Teil der Erziehung musste der Vater übernehmen. Zuerst tat er das nur widerwillig, denn wer will schon immer der böse sein, aber nach dem Tod seiner Frau, konnte er die Lücke, die sie hinterlassen hatte nicht füllen. Er konnte seiner Tochter nur mit Autorität und Distanz begegnen. Seine Frau hatte ihm mit dem Kind einen Freigeist hinterlassen, den er nun zu unterdrücken, mindestens aber auszugleichen suchte.
Dabei hatte genau diese Freigeistigkeit ihn damals so fasziniert, als er sich in diese Frau verliebt hatte. Sie, die dem kleinen Studenten-Cafe arbeitete und zu jedem freundlich war. Selbst wenn einige der ungehobelteren Gäste sich bei ihr mal im Ton vergriffen, war sie fast schon übernatürlich höflich. Nie hätte man sie die Pöbler beschimpfen hören. Und sie hätte oft genug Grund dazu gehabt, denn sie war von einer zarten, anziehenden Schönheit. Obwohl man schnell den Eindruck gewann, dass ihr diese Äußerlichkeiten kaum bewusst waren. Und wenn doch, dann waren sie ihr allenfalls lästig. Sie machte sich einfach nichts daraus, und erst später begriff ihr Mann, warum das so war. Und auch warum sie sich ihn ausgesucht hatte, obwohl er schon damals eine Glatze bekam und auch sonst nicht zu ihrer Schönheit passte.
In dem Cafe war er oft um zu lesen oder für sein Studium zu lernen und er saß immer an demselben Tisch in der Ecke am Fenster. Er hatte sich den Tisch nicht mit Absicht ausgesucht, aber nachdem er die ersten Male immer wieder hier saß, weil es der einzige freie Platz war, wurde es zu einer schönen Gewohnheit. Der Tisch war nicht besonders beliebt bei den anderen Gästen, da er klein war und maximal zwei Leute daran sitzen konnten. Die meisten waren aber in ganzen Freundesrudeln hier, so dass der kleine Tisch für sie vollkommen uninteressant war. Nur einmal war es passiert, dass er das Cafe betrat und der Tisch nicht da war. Eine Gruppe von lärmenden Studenten hatte sich den Tisch genommen, um darauf eine Armada an Gläsern und Flaschen abzustellen. Als seine zukünftige Frau ihn da so ratlos rumstehen sah, kam sie auf ihn zu und fragte: „Kann ich dir helfen?“ An Ihrem Blick bemerkte er, dass sie keine Ahnung hatte wer er war, obwohl sie sich schon ein paar Mal unterhalten hatten. „Na ja“, dachte er, „wen wundert’s. Warum sollte sich so eine schöne Frau an einen Gnom wie mich erinnern.“
„Nein, ist schon in Ordnung. Wenn der Platz heute nicht mehr frei ist, dann gehe ich wieder.“ Da hellte sich ihr Gesicht auf, und sie sagte mit fröhlicher Stimme: „Ach, Jürgen, jetzt spinn doch nicht rum. Du bekommst deinen Tisch, wenn du ihn möchtest.“ Dann sah sie kurz in die Fensterecke und suchte dann mit routiniertem Blick den Raum nach dem kleinen Tisch ab. „Ich habe gar nicht bemerkt, dass die Jungs sich den geholt haben.“
Er sah ihr nach, als sie zu der Gruppe ging, um sich den Tisch zurückzuholen. „Merkwürdig“, dachte er. Ihm kam es so vor, als hätte sie ihn erst wieder erkannt, als er angefangen hatte zu sprechen. Aber das konnte ja gar nicht sein. Sowas albernes. Als er sah, wie sie sich mit dem unhandlichen Tisch abmühte ging er schnell auf sie zu um ihr zu helfen. Und wieder sah sie ihn so seltsam an, so als müsste sie sich erst wieder daran erinnern wer er war. Er stellte den Tisch wieder an seinen angestammten Platz und setzte sich auf den Stuhl. „Dasselbe wie immer?“ Er nickte. Eigentlich ganz schön langweilig, schoss es ihm durch den Kopf. Dasselbe wie immer. Das war eine große Tasse Kaffee, ein Glas Wasser und ein Stück vom „Cake of the day“. Das Cafe wollte mit der englischen Schreibweise wohl besonders kosmopolitisch wirken. Ihm war das egal. Der Kuchen war immer gut.
Während er auf seine Bestellung wartete, zog er einen Ordner aus seiner alten, braunen Ledertasche. Morgen hatte er eine Prüfung in Betriebswirtschaftslehre und er wollte seine Notizen noch ein letztes Mal durchgehen. Er lernte oft wenn er hier saß. Viele würden sich vielleicht wundern, wie er bei dem ganzen Tumult um ihn herum lernen konnte, doch ihm machte das nichts aus. So konnte er auf seine Weise an dem Leben, das er selbst so gerne führen würde, aber nicht konnte, teilhaben. Er fühlte sich hier sehr wohl, was nicht zuletzt an seiner zukünftigen Frau lag.
Er war vom Wesen her kein sehr geselliger Mensch und hatte nur wenige Freunde, die eigentlich auch mehr gute Bekannte waren. Selbst seine Mitbewohner in der WG sahen ihn nur sehr selten in dem großen Gemeinschaftsraum. Hin und wieder traf er sich mit seinem älteren Bruder und ging mit ihm und dessen Freunden aus. Aber auch da war er meist für sich. Irgendwie fand er nie richtig Anschluss an die Menschen in seinem Leben. Die Anderen und er, sie berührten sich einfach nicht.
Genauso ging es ihm auch mit den Frauen. Er hatte zwar schon zwei Beziehungen gehabt, doch die Frauen fanden keinen richtigen Zugang zu ihm und wurden seiner schnell überdrüssig. Trotz allem wusste er, dass es irgendwo jemanden gab, der zu ihm vordringen konnte. Was heißt irgendwo. Er hatte sie ja bereits kennengelernt. Die Frau, die ihm gerade seinen Kaffee und den Kuchen brachte.
Gerade als sie die Tasse und den Teller auf dem Tisch abgestellt hatte, fiel es ihr selbst auf, „Oh, ich habe dein Wasser vergessen. Entschuldige bitte.“ "Das macht doch nichts.“ Sie drehte sich, ging zurück zur Theke und kam mit dem Glas Wasser in der Hand wieder zurück. „Wenn es nachher wieder ruhiger wird, komme ich zu dir, in Ordnung?“ fragte sie. Auch wenn es eigentlich keine Frage mehr war, sondern vielmehr ein Ritual das sich in den letzten Wochen eingestellt hatte. Er war eigentlich immer bis zum Schluss da und oft genug war er der letzte Gast. Er wollte jede Minute in ihrer Nähe voll auskosten. Irgendwann hatte sie sich das erste Mal zu ihm gesetzt und sie hatten angefangen sich zu unterhalten. Es waren keine sehr tiefgehenden Gespräche und doch wusste er, dass ihm nie ein Mensch näher kommen würde.
„Aber jetzt steck deine Nase erst mal in den Ordner.“ Sie lachte ihn fröhlich an und verschwand wieder in dem Wirrwarr der Tische und grölenden Studenten. Er freute sich darauf, wenn sie nachher wieder zu ihm kam mit einem Glas Weißwein in der Hand und sich eine Zigarette ansteckte. Sie rauchte immer nur diese eine, zum Abschluss des Tages. Nur wenn sie mal nicht so gut drauf war und sie sich über irgendetwas geärgert hatte rauchte sie manchmal eine Zweite. Aber da sie meisten gut gelaunt war, blieb es bei der einen.
Meist plapperte sie dann wild drauf los, erzählte ihm von ihrem Tag und nur selten unterschieden sich diese Schilderungen voneinander. Ihre Tage verliefen immer nach demselben Muster. Sie arbeitete jeden Tag in dem Cafe, immer abends von 17 Uhr bis zum Schluss. Anfangs hatte er noch vermutet, dass sie so ihr Studium finanziert, doch sie war keine Studentin. Sie hatte mit 17 Jahren die Schule verlassen, zwei Jahre vor ihrem Abitur. Für ihn war diese Entscheidung unverständlich, aber zu ihr passte es. Was sie den ganzen Tag über so machte ließ sich aus den Erzählungen nur schwer erkennen. Sie machte zwar immer irgendwas, aber es schien keine Struktur zu geben. Alles verlief so, wie sie gerade Lust dazu hatte. Und aus diesem fließenden Leben ergaben sich einfach irgendwelche Geschichten, die sie ihm dann in ihrer ganzen Vielfalt vortrug. Aber ob ihr dieses oder jenes heute oder schon vor einem Jahr passiert war ließ sich nicht ausmachen. Manchmal zweifelte er überhaupt an dem Wahrheitsgehalt der Erzählungen und fragte sich, ob sie sich das eine oder andere nicht vielleicht doch ausgedacht hatte. Im Grunde jedoch war ihm das egal. Er liebte ihre Geschichten und dass er sie hören durfte ohne selbst viel erzählen zu müssen. Seine Tage waren nicht annähernd so bunt und sicher hätte sie sich nach kurzer Zeit gelangweilt und sich gefragt, was sie eigentlich mit diesem Gnom hier verloren hätte.
Es waren nicht ihre großen Geschichten die ihn so faszinierten. Sie hatte einen fast kindlichen Blick auf die alltäglichen Dinge des Lebens. Eine Geschichte über einen spielenden Hund im Park klang bei ihr wie ein Märchen aus tausend und eine Nacht. So lernte er durch sie, dass die kleinen Dinge eine unendliche Freude in einem auslösen können. Man musste sie nur sehen. Er sah sie nie, die kleinen Dinge. Auch nicht als er bewusst darauf achtete. Aber durch sie und ihre Geschichten darüber konnte er diese Dinge erleben. Eigentlich wurden die Dinge nur durch sie für ihn interessant und bemerkenswert. So als könnten sie nur durch ihre Augen, über ihren Mund zu ihm gelangen.
Dieser Abend jedoch sollte etwas besonderes werden, auch wenn sich Jürgen dessen noch nicht bewusst war. Der Startpunkt eines neuen Lebens, mit all seinen Höhen und Tiefen.
Sie war gerade dabei ihre Zigarette in dem roten Aschenbecher auszudrücken während sie ihm eine Geschichte von einem kleinen Jungen und dessen Eistüte erzählte. Viele ihrer Geschichten handelten von Kindern, denn sie liebte Kinder und beobachtete sie gerne in ihrem Alltag. „Kinder sind die ehrlichsten und reinsten Wesen unter den Menschen“, hatte sie einmal gesagt. „Kinder und Tiere. Selbst das größte und brutalste Raubtier ist ehrlicher als die Menschen. Denn bei einem Raubtier weiß jeder gleich woran er ist. Man kann sich darauf einstellen und reagieren. Die Menschen jedoch können ihre listigen Motive geschickt verbergen und schlagen dann brutal und ohne Vorwarnung aus dem Hinterhalt zu.“ Er hätte sie gerne gefragt, wer ihr denn den Rücken gefallen sei, hatte es dann aber doch gelassen.
Jürgen war ganz in Gedanken versunken als ihre Stimme wieder leise zu ihm durchdrang. „… und dann musste er ihm ein neues Eis kaufen!“ sagte sie mit einem fröhlichen Lachen. Er sah sie an wie sie da saß und wie zur Bestätigung ihre Arme vor der Brust verschränkte.
„Eve, würdest du mit mir ausgehen?“ fragte er leise und erschrak im selben Moment vor seinem eigenen Mut. Was, wenn sie ihn jetzt auslachte? Doch das tat sie nicht. Sie sah ihn lange und nachdenklich an, dann sagte sie: „Ja, ich glaube das sollten wir machen.“
Jürgen wusste gar nicht wie ihm geschah. Und was jetzt? Über die Frage hinaus hatte er sich ja noch gar keine Gedanken gemacht. „Schön“, sagte er schnell. „Was machst du denn gerne?“ Das war ja sehr geistreich, dachte er. Dann fiel ihm plötzlich etwas ein. „Wollen wir vielleicht im Park spazieren und dann etwas essen gehen?“ „Morgen?“ fragte sie. „Ja.“
Da stand er nun mit seinem grasgrünen Regenschirm vor dem Cafe. Hier wollten sie sich treffen. Es war der erste Sonntag im Oktober und es hatte sich ein leichter aber dauerhafter Nieselregen eingestellt. Tolle Idee jetzt in den Park zu gehen, dachte er, während er die Regentropfen beobachtete wie sie sich an der Scheibe des Cafes ein Wettrennen lieferten. Aber ihm fiel kein guter Alternativplan ein, um den Nachmittag zu verbringen. In solchen Dingen war er nicht besonders gut. In seinen früheren Beziehungen hatten meistens die Frauen solche Entscheidungen übernommen. Bei Eve wollte er aber handeln wie ein Mann. Auch wenn er gar nicht genau wusste wie das ging.
Nachdenklich starrte er in das Cafe hinter der Scheibe, wo es sich bei diesem trüben Wetter schon einige Gäste zu Kaffee und Kuchen gemütlich gemacht hatten. Das Fensterglas spiegelte das Geschehen hinter ihm auf der Straße und langsam löste sich daraus eine vertraute Gestalt die zügig auf ihn zukam. Durch die unklare Spiegelung auf der verregneten Fensterscheibe sah sie noch mehr aus wie eine Gestalt aus einem ihrer eigenen Märchen als sonst.
„Jürgen?“ fragte sie, woraufhin er sich zu ihr umdrehte. Sie stellte sich neben ihn unter seinen Schirm. Ihr Gesicht war halb von einem Regenhut verdeckt dessen gelbe Farbe sich mit dem Pink ihrer Regenjacke biss. Sie schüttelte sich ein bisschen und die Regentropfen rollten von ihrem Hut auf den nassen Boden. „Tut mir leid wegen dem Wetter“, nuschelte er. „Aber wieso denn?“ fragte sie belustigt, „Machst du etwa das Wetter?“ „Natürlich nicht“, entgegnete er und war froh, dass sie immer alles so leicht nahm. „Dann lass uns mal losgehen, bevor der Regen wieder aufhört.“
Eve lächelte ihn an und ihn überkam ein warmes, wohliges Gefühl der Zusammengehörigkeit. Es kam ihr gar nicht in den Sinn das Treffen wegen des schlechten Wetters anders zu gestalten oder gar abzusagen. Im Gegenteil. Sie nahm es wie es war und ließ sich nicht von etwas so banalem wie Regen den Tag verderben. Eve war das komplette Gegenteil von ihm. Nur sie konnte ihn dazu bringen bei kaltem Regenwetter in den Park zu gehen. Sie hätte ihn dazu bringen können überall hinzugehen, ganz gleich ob in die Wüste oder in die Antarktis. Mit ihr zusammen würde er alles machen.
Auf dem Weg in den Park fragte sie ihn plötzlich: „Warum hast du so lange gewartet? Wir sitzen seit drei Monaten jeden Abend zusammen im Cafe. Aber du hast mich gestern erst gefragt.“ Sollte er ihr jetzt die Wahrheit sagen? „Ich hatte Angst du würdest Nein sagen.“ Das schien ihr erst mal als Antwort zu genügen, denn als nächstes fragte sie: „Ich dachte, wenn wir mit dem Park fertig sind können wir vielleicht zu mir gehen. Dann kochen wir zusammen etwas.“ „In Ordnung.“ Sein Herz machte einen freudigen, aber auch nervösen Sprung.
Im Park war es wie ausgestorben. Nur ein paar schlecht gelaunte Hundebesitzer waren mit ihren nicht weniger miesepetrigen Vierbeinern unterwegs. Keiner der Hunde lief irgendeinem Stöckchen oder Bällchen nach. Alle wollten schnell wieder nach Hause in ihre trockenen, warmen Wohnungen. Jürgen hingegen wollte nirgendwo anders sein. Hier neben Eve im Regen hatte er alles was er im Moment brauchte. Es war, als würde er neben der Sonne herlaufen. Als sie an einem großen, alten Baum vorbeikamen packte sie ihn am Arm und zog in unter die ausladende Baumkrone.
„Hörst du das? Wie die Regentropfen auf die Blätter fallen? Es ist wie eine Symphonie des Wetters.“ Er lauschte. Eigentlich war es nur das eintönige Platschen von Wasser auf Gegenständen. Aber das sagte er ihr nicht. Einen Moment hörte er noch hin, dann nickte er. Eve hatte die Augen geschlossen und es schien als summte sie diese Melodie mit, die nur sie hören konnte. So sehr er sich auch anstrengte, für ihn war es nur PLITSCH, PLATSCH, PAALATSCH. Da standen sie nun unter diesem knorrigen Baum und hörten dem Regen zu. „Warum hast du meine Einladung angenommen?“ fragte er in das Plätschern hinein. Ohne die Augen zu öffnen antwortete sie leise: „Weil du mich nicht für verrückt hältst.“ Damit war alles gesagt. Diese Aussage war der Grundstein ihrer Beziehung, das wurde ihm nun ganz deutlich bewusst.
Plötzlich lief laut bellend ein Hund an ihnen vorbei. Anscheinend waren nicht alle Vierbeiner wasserscheu. Das Bellen weckte die beiden aus ihrer Trance, die sich eingestellt hatte. Hinter dem Hund kam ein wild gestikulierender Mann hergelaufen. In seiner Hast bemerkte er das seltsame Paar unter der alten Linde nicht. „Lass uns gehen“, sagte sie. „Wir haben genug gehört.“
Als er das erste Mal die Wohnung von Eve betrat kam es ihm vor, als würde er die Realität verlassen und eine Traumwelt betreten. Eigentlich war ihre Wohnung nicht extrem außergewöhnlich, aber Jürgen hatte so etwas noch nie gesehen, geschweige denn, dass seine eigenen Vier Wände Ähnlichkeit damit hätten. Der Flur war in einem grellen aber warmen Rot gestrichen. Rechts neben der Tür stand eine grüne Kommode über der ein goldgerahmter Spiegel hing. In einer kleinen Ecke links stand eine Art Baumstamm an dem Eve gerade ihre pinke Regenjacke und den gelben Hut aufhängte. Der Baumstamm war eigentlich ein ganzer Baum mit Ästen die als Haken dienten. Als er selbst seine Jacke an einen der Äste hängte fiel ihm auf, dass das Holz sorgfältig abgeschliffen und lackiert worden war.
Überall an den Wänden im Flur waren Postkarten mit Nägeln angebracht. Es waren Karten von überall auf der Welt, teilweise war das Papier schon ziemlich alt und vergilbt. Dann fiel ihm auf, dass es sich nicht nur um Grüße aus fernen Ländern handelte, sondern auch um alte Fotografien in Schwarz-Weiß, auf denen Menschen zu sehen waren. Meist waren es Portraits von einzelnen Personen. Nur auf wenigen waren ganze Familien abgebildet.
Eve war schon in die Küche gegangen, um Tee zu kochen. Jürgen folgte dem Klappern und dabei musste er zuerst durch das Wohnzimmer um in die Küche zu gelangen. Hier waren die Wände in einer Art Eidottergelb gestrichen. Der Raum war nicht sehr groß, vielleicht vier auf vier Meter, und anscheinend hatte Eve sich gedacht, dass Möbel überflüssiger Luxus wären. Es gab kein Sofa oder einen Sessel. Stattdessen stand ziemlich genau in der Mitte des Raumes eine Art Tisch der eigentlich nur aus einer Tischplatte bestand, die ohne Beine auf dem Boden ruhte. Um diesen Tisch herum waren allerlei Kissen und Decken gestapelt, so dass fast so etwas wie ein Sofa entstand. An den Wänden standen Rundherum Kisten in allen erdenklichen Größen und Formen die in allen Farben des Regenbogens angemalt waren. In und auf den Kisten stapelten sich Bücher, Schallplatten und viele andere Dinge. Auf einer der Kisten standen sogar ein kleiner Fernseher und daneben der Schallplattenspieler.
Vor den raumhohen Fenstern hingen dicke, schwere Vorhänge aus blutrotem Samt. Jürgen stand noch immer in der Tür, durch die eben den Raum betreten hatte. Es gab noch zwei weitere Türen. Aus der direkt gegenüberliegenden schien das warme Licht der Küche und er hörte das Klappern von Tassen und das langsam aufsteigende Pfeifen des Wasserkessels. Die Tür an der Wand links von ihm war geschlossen, aber sie musste wohl zum Schlafzimmer führen. Der Wasserkessel pfiff nun aus Leibeskräften und wurde sofort wieder leiser, als Eve ihn vom Herd nahm um den Tee aufzugießen. Jürgen durchquerte den Raum und ging auf das Licht der Küchentür zu.
„Setz dich“, sagte sie, ohne dabei von ihrer Tätigkeit aufzusehen. Die Küche sah im Gegensatz zum Rest der Wohnung erschreckend normal aus. Die Wände waren hellblau gestrichen und dunkelblau gefliest. Es gab einige Regale an den Wänden, einen Kühlschrank in der Ecke und einen Gas-Herd an dem Eve eben das Wasser gekocht hatte. Die Regale waren voll mit Küchenutensilien aller Art. Töpfe, Teller und Besteck standen einträchtig neben Mehl, Zucker und anderen Lebensmittel. Unter dem kleinen Fenster standen ein Tisch und zwei Stühle, die nicht zusammen passten.
„Welche Farbe möchtest du?“ sie sah sich kurz zu ihm um und erwartete seine Antwort. Farbe? Einen kurzen Moment dachte er darüber nach in welcher Farbe er seinen Tee gerne hätte, doch im selben Moment wurde ihm klar, dass sie natürlich die Teetasse gemeint hatte. Auch wenn das fast noch sinnloser war. Bei Tee gab es zumindest Unterschiede aufgrund der Farbe. Schwarzer Tee etwa schmeckte anders als roter Hagebuttentee. Aus welcher Tasse man ihn jedoch trank war ja wohl mehr als unwichtig.
„Die blaue bitte“, sagte er schnell. Er wollte ihr nicht das Gefühl geben, dass er die Frage unsinnig fand. „Schön.“ Sie nahm eine blaue Tasse aus dem Regal und stellte diese vor ihn auf den Tisch. Der Tee rauchte vor sich hin, als sie ihn zuerst in seine blaue und dann in ihre eigene pinkfarbene Tasse goss. Sie legte ihre Hände um die heiße Tasse und blies den wohltuenden Dampf in den Raum. „Das tut jetzt gut.“ Da saßen sie nun, durchgefroren mit ihren Tassen Tee in den klammen Händen. Eve sah nachdenklich in das Getränk. „Geht es dir gut?“ fragte Jürgen. Mit einem Lächeln auf den Lippen sah sie auf und ihre wasserblauen Augen begannen zu leuchten. „Ich hatte schon sehr lange keinen so schönen Tag mehr.“
Während sie das sagte, begann alles an ihr zu strahlen. „Das freut mich wirklich sehr“, stieß er erleichtert aus. „Bei Regen im Park spazieren zu gehen war sicher nicht meine beste Idee.“ „Es war wunderschön. Die meisten Menschen können solche Dinge nicht mit mir teilen. Sie laufen durch die Welt und sehen nichts, hören nichts, fühlen nichts. Alles ist selbstverständlich für sie. Du aber warst bei mir und hast mich nicht ausgelacht.“ Sie stellte die Tasse auf dem Tisch ab und sah durch das kleine Fenster in die anbrechende Dunkelheit hinaus.
„Ich bin nicht verrückt, weißt du. Ich sehe mir nur gerne die Dinge ganz genau an. Das ist vielleicht nicht ganz normal, aber doch auch nicht verrückt, oder?“ Er wusste nicht genau, ob sie ihn oder mehr die Dunkelheit angesprochen hatte. Aber da er sie wirklich nicht für geisteskrank hielt sagte er: „Die Menschen halten vieles für verrückt, was sie nicht verstehen können.…. Ich halte dich nicht für verrückt.“ fügte er dann schnell hinzu. Sie nickte langsam und drehte ihren Kopf zu ihm. Dann atmete sie einmal tief ein und wieder aus um wieder in das hier und jetzt zurückzukommen. Ein Ritual, das ihm in den nächsten Jahren sehr vertraut werden würde.
Heute sah er es zum ersten Mal.
In 11 Jahren würde er es das letzte Mal sehen.