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- 31.10.2003
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Eugenetik
Der leichte Wind war kaum spürbar, als Paul Wambach über die Holzbrücke ging, die über den Bach im Park führte. Zweiunddreißig Grad hatten sie für heute angekündigt. Extrem hohe Ozonwerte wie seit Jahren nicht mehr.
Paul nahm die faltigen Hände aus seinen Hosentaschen und legte sie auf das heiße Holz des Brückengeländers. Jetzt, zur Mittagszeit, war der Park von einer friedvollen Stille geprägt, und nur hin und wieder zwitscherte ein Vogel oder es raschelten die Blätter, wenn sich einer von ihnen im schützenden Schatten der Äste niederließ. Paul liebte diese Ruhe; die meiste Zeit seines Lebens hatte er zurückgezogen verbracht. Bürojob. Gute Arbeit. Einzimmerwohnung. Allein.
Er hatte die Abgeschiedenheit förmlich gesucht, sie genossen. Irgendwann hatte er diesen Park entdeckt, und seit jenem Tag war dieser sein zweites Zuhause geworden. Hier gab es keine Hektik, keine hupenden Autos, wenn ihn seine alten Beine nicht schnell genug über die Straße trugen. Keine Mütter, die sich leise aufregten, wenn er als Rentner die Unverschämtheit besaß, sich noch kurz vor Feierabend in einem Einkaufsladen aufzuhalten. Dieser Park hier war eine andere Welt, eine ruhige, eine friedliche Welt. Es war seine Welt.
In einiger Entfernung machte er mehrere spielende Kinder auf einer Wiese aus. Mütter hockten im Schatten und plauderten miteinander. Manchmal lachten einige von ihnen so laut, dass es bis zu ihm herüber drang. Paul würde hingehen und sich ebenfalls dort niederlassen. Ein wenig abseits vielleicht.
Manchmal ließ dieses Gefühl des Alleinseinwollens nach. Er konnte sich nicht erklären, woran es lag, aber manchmal war es einfach so. Tatsächlich war es schon einmal vorgekommen, dass er einfach einen wildfremden Menschen angesprochen hatte; lediglich ein kurzes „Hallo“, und Paul hatte das Gefühl, dazu zu gehören. So etwas tat gut; ganz tief in ihm drin tat so etwas sehr gut und er fragte sich dann jedesmal, warum ihm das nicht schon früher aufgefallen war.
Er ließ seine Hände wieder in den ausgebeulten Hosentaschen verschwinden und humpelte in Richtung Wiese. Sein steifes Bein schmerzte heute besonders, aber das war er gewohnt. Er musste nur darauf achten, wie er auftrat, sonst konnte es passieren, dass er das Gefühl hatte, als würde jemand einen Dolch unter seine künstliche Kniescheibe bohren. Extreme Hitze oder Kälte verstärkten diese Unannehmlichkeit.
*
„Wir können nicht jeden verurteilen, der ein wenig aus der Reihe tanzt, Herr Gefreiter.“
„Seine Experimente überschreiten die Grenzen um ein Vielfaches, Obersturmbannführer.“
Der Offizier sitzt hinter einem Schreibtisch, der fast den gesamten Raum füllt. Er blickt von einem Buch auf, in das er während des Gespräches geschrieben hat. „Es sind unumgängliche Forschungen im Sinne der Wissenschaft, Soldat. Das sollte Ihnen bewusst sein.“
Der Gefreite will noch etwas sagen, doch sein Vorgesetzter macht eine schnelle Handbewegung. „Wenn das alles war ...“
Der junge Mann salutiert und dreht sich zur Tür. Dann hält er inne.
„Es sind Kinder“, sagt er leise an die Tür gewandt. Seine Lider zucken.
„Es sind keine arischen Kinder, Soldat.“
Der Gefreite verlässt den Raum.
*
Paul hatte die große Wiese erreicht und lehnte sich gegen einen dünnen Baum. Die warme Rinde drückte in seinen Rücken, und seine Hände in den Taschen zitterten. Die Hitze war doch bei Weitem nicht so harmlos, wie er zunächst angenommen hatte. Ihm war, als würde es mit jedem Jahr schlimmer.
Der Zahn der Zeit nagt deine Knochen blank, alter Mann.
Paul ließ sich vorsichtig auf seinen Allerwertesten gleiten, während er das steife Bein langsam nach vorn schob. Er hoffte, dass der Schmerz in Kürze nachlassen würde, ansonsten hätte er arge Probleme mit dem Wiederaufstehen. Kinderlachen drang zu ihm herüber und verband sich mit dem dolchartigen Gefühl unter der Kniescheibe. Paul verzerrte seine Mundwinkel zu einer hölzernen Maske. Er stieß die Luft aus, schloss die Augen und beobachtete die zuckenden Figuren, die vor seinen geschlossenen Lidern tanzten. Wie winzige Elfen sahen sie aus. Tanzten einen lieblichen Reigen und brachten ihn zum Lächeln.
Er genoss die warme Luft, die über seine Haut streichelte. Die Stimmen um ihn herum verschmolzen zu einem Säuseln und wurden leiser. Der Dolch unter seiner Kniescheibe wurde sanft herausgezogen, bis der Schmerz gänzlich verschwunden war.
Etwas stieß gegen sein Bein. Paul blickte auf. Ein kleiner Junge eilte heran, rief ein „T’schuldigung“ und blieb stehen. Paul nahm den Ball, der neben seinem Bein lag. Über den Rand hinweg blickte er auf den Knaben in seinen bunten Shorts, dessen Knie, ebenso wie seine Ellenbogen, vom Rasen dunkelgrün gefärbt waren.
„Darf ich ihn wiederhaben?“ Unsicher blickte der Junge herüber.
„Aber natürlich."
„Danke!“
Sekunden später war er wieder in dem Pulk der anderen verschwunden. Paul lächelte. Wie gern hatte er früher Fußball gespielt; und, verdammt, er war richtig gut gewesen. Bis der Krieg kam.
*
„Doktor Schneider, darf ich Sie einen Moment sprechen?“
Der Gefreite steht im Türrahmen und blickt auf den gebeugten Rücken des Mannes, der dort vor dem Tisch mit unendlich vielen, losen Papieren steht. Dieser blickt nicht auf.
„Doktor?“
Der akkurat gekleidete Mann schiebt ein paar Schriftstücke zusammen, dann unterbricht er seine Arbeit, macht allerdings keinerlei Anstalten, sich seinem Gesprächspartner zuzuwenden. Der Gefreite wird nervös. Jetzt dreht sich der Doktor um, lächelt. Der Gefreite steht stramm, sein Gruß ist zackig.
„Rührn“, sagt Schneider gelangweilt, nimmt ein Blatt Papier und legt es, scheinbar wahllos, auf ein anderes.
Der Gefreite weiß nicht, wohin mit seinen Händen. Er spürt, wie Schweiß auf seiner Stirn entsteht, und ärgert sich insgeheim über diese dumme Reaktion seines Körpers. „Ich hätte Sie gern einen Moment gesprochen, Doktor.“
„Tun Sie das nicht bereits?“
„Ja … ja, Sie haben recht. Ich meine nur, ich hätte gern mit Ihnen über Ihren neuen Mitarbeiter gesprochen.“
Der Doktor hebt die Brauen.
*
Irgendwie war heute ein seltsamer Tag. Noch immer spielten die Kinder auf der großen Wiese. In Gedanken nahm Paul einen Pass entgegen und verwandelte ihn im Alleingang zum alles entscheidenden Tor. Seine Mannschaftskameraden umjubelten ihn, die Zuschauer stürmten das Feld, hunderte Arme warfen ihn in die Höhe. Doch diesmal spürte Paul, dass er nicht dabei war. Eine unsichtbare Mauer befand sich zwischen ihm und den Kindern. Es war diese unsichtbare Mauer der Zeit.
Er war alt. Uralt. Die neue Zeit, das Jetzt, war dort drüben. Unerreichbar. Wie noch nie zuvor wurde ihm in diesem Augenblick bewusst, dass er nicht mehr dazugehörte. Schon lange nicht mehr dazugehörte. Er hatte einfach noch nie dazugehört.
Vielleicht hättest du damals mehr tun können, alter Mann.
Paul senkte den Blick. „Habe ich denn nicht alles versucht?“
Die Schwermut bohrte seine spitzen Finger in Pauls Schädel. Alles?
Paul keuchte. „Ohne mich gäbe es diese Kinder dort drüben doch gar nicht.“
Oh Paul … armer Paul. Was hast du denn schon Großes getan?
Paul begann zu weinen. Leise nur. Unmerkbar. Würde es irgendwann einmal vorüber sein? Diese Vorwürfe? Diese Vorwürfe gepaart mit dem inneren Zerwürfnis, nicht genug getan zu haben? Würde es irgendwann vorbei sein?
Wenn du stirbst, alter Mann. Dann ist es vorbei.
„Also bald“, flüsterte Paul nach einer Weile an die Wiese zwischen seinen Beinen gewandt. „Hoffentlich bald …“
*
„Ich höre.“ Schneiders Stimme klingt ungeduldig. Er richtet seine Krawatte, streicht über das Revers seines Jacketts wie zuvor über das Papier auf seinem Schreibtisch.
Der Gefreite zögert. Für einen Moment weiß er nicht, ob es richtig gewesen ist, den Doktor aufzusuchen. Wenn er nun Meldung an den Obersturmbannführer macht? Zweifler des Systems werden hingerichtet.
Zu Recht, denkt der Gefreite. Aber ist es denn bereits ein Zweifeln, was er tut? Begeht er allein durch seine Äußerungen bereits Verrat am deutschen Volke?
„Was wollen Sie mir über meinen Mitarbeiter sagen, Soldat?“ Die Stimme des Doktors klingt ungeduldig.
Die Lider des Gefreiten zucken, seine Hände ebenfalls. Er verschränkt sie hinter dem Rücken. Seine Gedanken wirbeln umher, lassen sich nicht fassen. Er hat den Doktor bisher noch nicht näher kennengelernt, weiß lediglich, dass er ein ausgezeichneter Anthropologe und Genetiker sein soll. Ein hochgradiger Wissenschaftler, tätig zum Wohle des Vaterlandes.
Schneider sieht ihn an. Ohne Regung in seinem Gesicht.
Der Gefreite denkt an das Gespräch, das er vor ein paar Stunden zwischen dem neuen Mitarbeiter des Doktors und einem anderen Zivilisten mit angehört hat.
Er hatte im Aufenthaltsraum hinter einer dicht gewachsenen Pflanze gestanden, die Zigarette zwischen seinen Fingern fast aufgeraucht. Die beiden Personen hatte er gut sehen können. Und ihr Gespräch hatte ihn zutiefst interessiert.
„Was geschieht eigentlich mit den ganzen Kindern, wenn die Erzeuger eliminiert sind?“, hatte der Zivilist gefragt. Er hielt einen winzigen Notizblock in der Hand. Ein Reporter? Der Gefreite hatte den Mann zumindest vorher noch nie gesehen. Schneiders Mitarbeiter hatte nur dagestanden und an seiner Zigarette mit der langen Spitze gesogen.
„Was geschieht mit der Brut?“, hatte der Reporter noch einmal gefragt.
„Der Doktor hat mir freie Hand gegeben.“ Die Stimme des neuen Assistenzarztes war leise, und der Gefreite hatte unwillkürlich für einen Moment die Luft angehalten.
„Sollte das meine Frage beantworten?“ Jetzt wurde auch der Reporter leiser und blickte von seinen Notizen auf. Seine Mundwinkel waren zu einem Grinsen erhoben.
“Ja“, lachte der Neue und schlug seinem Gegenüber auf die Schulter. „Wir werden die Zwillingsforschung revolutionieren.“ Dann lachten beide. „Was sagst du zu meiner Zigarettenspitze?“, hatte Schneiders Mitarbeiter kurz darauf gefragt. „Sie schmecken hierdurch besonders gut.“
„Sie ist sehr schön“, sagte der Reporter.
Der Neue lächelte, drückte seine Zigarette in einem Aschenbecher zu seiner Rechten aus. „Sie ist mein Werk. Selbst geschnitzt.“ Er hielt sie hoch, betrachtete sie fachmännisch. "Vielleicht werde ich dafür sorgen, dass sie in Serie geht.“ Dann blickte er wieder zu dem Reporter. „Du siehst, ihre Brut ist durchaus nützlich. Einfach alles von ihnen.“
Der Gefreite tänzelt unsicher von einem Bein auf das andere, während der Doktor ihn mit bewegungsloser Miene ansieht. Lange wird er nicht mehr warten, das erkennt der Gefreite. Sollte er einfach wieder gehen?
Schneider blickt auf seine Taschenuhr. „Vielleicht sollten wir den jungen Kollegen, über den Sie mir berichten wollen, einfach einmal herbeordern?“
„Ich habe gehört, was er mit den Kindern macht“, sagt der Gefreite hastig.
Sein Gegenüber blickt zu Boden. Der Gefreite wird unruhiger.
„Das ist alles, Soldat?“
Keine Hilfe! Nach dem Gespräch mit dem Doktor ist ihm das klar geworden. Genauso klar wie die Tatsache, dass er mit seinen Zweifeln keinen Verrat am Vaterland verübt. Es geht hier nicht um irgendwelche Juden, die die genetische Reinheit des deutschen Volkes verseuchen wollen. Hier geht es um Kinder. Versuche an Kindern!
Der Gefreite steht neben dem hohen Sicherheitszaun und blickt auf die abgemagerten Körper, die von mehreren seiner Kollegen an ihm vorbeigeführt werden. Männer und Frauen. Die Kinder sind bei Schneiders Neuem. Warum schicken sie sie nicht zusammen mit den Erwachsenen in die Waschräume? Das geht wenigstens schnell.
Der Gefreite versucht, sich eine Zigarette anzustecken, doch seine Finger zittern so stark, dass das Holz erlischt, bevor es den Tabak berührt.
Seine Zweifel sind kein Verrat. Irgendjemand muss etwas tun.
Es sind Judenkinder, hört er die Stimme des Obersturmbannführers.
Forschungen im Sinne des deutschen Volkes, brüllt ihn Schneider in Gedanken an. Und jetzt wegtreten, Soldat!
Irgendjemand muss diesen Irrsinn unterbinden. Ein gewaltiger Kloß beginnt in seinem Magen zu wuchern, wächst sekundenschnell auf die Größe eines Fußballs heran. Er will ihn hinauswürgen, doch er schluckt lediglich. Noch einmal versucht er, die Zigarette anzuzünden. Diesmal gelingt es. Irgendjemand schreit. Ein Schuss platzt durch die Luft. Der Gefreite nimmt noch einen Zug von seiner Zigarette. Er sieht Kinder, die miteinander raufen. Damals, als noch kein Krieg herrscht.
„Schafft sie weg!“, brüllt eine Stimme hinter seinem Rücken. „Sie hat mir die ganze Hose besudelt.“
Er wird den Neuen aufsuchen. Heute Abend. Und er wird handeln.
*
Das Lachen der spielenden Kinder hallte über die Wiese, drang in jeden Winkel des Parks und entlockte Paul ein Seufzen. Was würde einmal aus den Kindern werden? Kämpfer oder Verlierer?
Egal, sie würden leben. Die meisten von ihnen. Sie würden aufwachsen und Familien gründen und wieder neue Kinder zeugen. Genau das war der Sinn und Zweck des Lebens.
Und Paul hatte einen Teil dazu beigetragen. Vielleicht nur einen winzigen Teil, aber eben einen Teil. Mühsam stand er auf, ignorierte den Schmerz in dem steifen Bein und wankte kurz, als sein Kreislauf nicht ganz mitspielte. Dann ging er auf die Frauen im Schatten zu.
*
Die spärliche Beleuchtung verwandelt den ohnehin schon dunklen Flur in ein gespenstisches Meer aus schwarzen Schatten. Der Gefreite hat Schneiders Forschungszimmer erreicht und blickt auf den Lichtschein, der unter der Tür hindurch seine trügerische Klarheit auf den Linoleumboden wirft. Der Neue arbeitet also noch.
Der Gefreite umklammert den Griff seiner Waffe etwas fester und wischt den Schweiß von seiner Stirn. Nach seiner Tat werden sie ihn hinrichten, doch das ist ihm egal. Vielleicht gelingt es ihm ja auch, zu fliehen. Doch auch das ist ihm zu diesem Zeitpunkt egal. Was zählt, ist einzig und allein die Mission. Auch wenn er dadurch nur ein einziges Leben retten wird. Ein einziges Leben. Ein einziges Kind.
Er legt das Ohr an die Tür, vernimmt leise Geräusche, die er nicht genau zuordnen kann. Soll er anklopfen? Was, wenn der Doktor auch da ist? Immerhin ist Schneider ein Fürsprecher der Taten seines neuen Mitarbeiters. Vielleicht hat er ihn auch dazu animiert. Im Namen der Forschung. Für das Vaterland. Wenn schon; dann sind sie halt zu zweit und er wird sich um beide kümmern.
Der Gefreite atmet einmal kräftig aus, lässt die Waffe unter seiner Jacke verschwinden und klopft.
Ein lautes Scheppern antwortet. Der Gefreite drückt die Klinke herunter. Langsam und ohne Zögern.
Das grelle Licht brennt in seinen Augen und nimmt ihm kurz die Sicht. Er hört das Zuziehen eines Vorhangs.
*
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie so einfach anspreche, meine Damen.“ Paul setzte ein einnehmendes Lächeln auf, während der Schmerz in seinem Bein auf seine Blase drückte. Er blickte in die Gesichter der Mütter, die ihn erwartungsvoll mit einem Anflug von Mitleid anblickten. „Sehr schöne Kinderchen haben Sie.“ Die Mienen der Frauen veränderte sich nicht.
„Nun“, stotterte Paul, „ich möchte mich nur bei Ihnen bedanken." Er wartete. "Ich möchte mich bedanken für den Reichtum, den sie der Welt beschert haben.“
Jetzt lächelten auch ihre Gesichter. Mitleidig zwar, aber sie lächelten.
„Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?“, fragte eine der Frauen.
„Danke, gern“, sagte Paul.
*
„Wer sind Sie?“
Die Pupillen des Gefreiten haben sich an das grelle Licht gewöhnt. Er sieht den jungen Mann, den er schon von dem Gespräch mit dem Reporter her kennt. Er steht vor einem schweren Vorhang, sein weißer Kittel ist zum größten Teil mit unterschiedlich intensiven Rottönen geziert. Die Spritzer auf seinen Wangen sehen aus wie zerlaufende Sommersprossen. Kleine Seen.
Der Gefreite lässt seinen Blick durch den Raum gleiten. Zwei Tische stehen zu seiner Linken, auf einem befinden sich niedrige Gefäße mit blutigem Inhalt. Zangen, Sägen und ein Handbohrer liegen daneben. An der Wand hängt eine riesige Zeichnung der menschlichen Anatomie. Der schwere Vorhang hinter dem Rücken von Schneiders Mitarbeiter wirkt gespenstisch. Der Gefreite zieht seine Waffe und richtet sie auf den Mann.
„Was soll das?“ Der Arzt weicht zurück, berührt das gewellte Tuch.
Hinter dem Vorhang ist ein wimmerndes Geräusch zu hören. Der Gefreite schließt die Tür hinter sich ohne dabei die Waffe von dem anderen zu lassen.
„Können Sie mir erklären, was Sie wollen?“
„Die Hände nach oben!“, brüllt der Gefreite.
Der Arzt gehorcht.
„Und jetzt gehen Sie zur Seite!“
Das Wimmern hinter dem Vorhang wird lauter. „Von dem Vorhang weg!“
Sein Gegenüber grinst und tritt einen Schritt zur Seite.
„Ganz weg da!“, schreit der Gefreite. Sein Herz rast, als er versucht, das Zittern seiner Hände zu verbergen.
„Es ist alles abgesegnet“, sagt der Mitarbeiter gelassen. „Alles erfolgt mit Zustimmung Doktor Schneiders. Ich hoffe, Sie sind sich darüber im Klaren, Soldat.“
Der Gefreite spürt seinen Herzschlag. Überall. „Den Vorhang zur Seite!“, keucht er.
Der junge Arzt bewegt sich wieder auf den Vorhang zu, zwinkert zu dem Gefreiten hinüber. Er lächelt doch tatsächlich! Dann schiebt er ihn beiseite.
Der Gefreite schluckt.
Der nackte Junge auf dem silbern glänzenden Tisch sieht ihn mit großen Augen an. Dicke Lederriemen fixieren seine Arme und Beine. Die Haut an seinem linken Bein ist entfernt worden und der darunter liegende Knochen wirkt matt. Elektroden sind an seinem Penis und den Schläfen befestigt und enden in einem Holzkasten. Seine Lippen bewegen sich, zitternd, - der Gefreite erkennt, dass der Junge etwas sagen will -, doch kein Laut dringt aus seinem Mund hervor.
„Ich habe seine Stimmbänder seziert.“
Die weit aufgerissenen Augen des Jungen sehen und klagen den Gefreiten an. In diesem Moment weiß er, dass es richtig ist, was er tut.
„Es sind Forschungsobjekte“, sagt Schneiders Mitarbeiter. Einige seiner Sommersprossen sind wie winzige Tränen die Wange hinab gelaufen. Er sieht aus wie ein trauriger Clown mit grinsenden Augen.
Der Gefreite schließt die Augen, spürt noch, wie sich sein Finger krümmt. Der dumpfe Knall seiner Waffe. Ein spitzer Schrei.
Als er die Augen wieder öffnet, sieht er den Mann auf dem Boden liegen. Seine Hände sind um sein blutendes Knie gepresst. „Du hast mir ins Knie geschossen, du Sau!“ Schneiders Mitarbeiter kreischt. „Oh Gott, er hat mir ins Knie geschossen.“
Der Gefreite blickt auf den wimmernden Wurm zu seinen Füßen, dann auf den gefesselten Jungen. Erneut hebt er die Waffe. Diesmal zielt er auf den Kopf des Assistenzarztes. Er hört nicht, wie die Tür hinter seinem Rücken geöffnet und sieht nicht die Waffe, die auf seinen Hinterkopf gerichtet wird. Er sieht nicht das steinerne Gesicht von Doktor Schneider, bevor dieser ihm eine Kugel durchs Hirn jagt.
*
Paul Wambach stand auf. „Vielen Dank noch einmal für Ihre Freundlichkeit“, sagte er an die Mütter gewandt.
„Es war uns eine Ehre, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben“, sagte eine von ihnen.
„Nette Kinderchen“, sagte Paul.
Der seichte Wind war kaum spürbar, als er über die kleine Holzbrücke zurückhumpelte, die über den Bach im Park führte. Er lächelte und war stolz. Stolz darauf, dass er das Fortbestehen der deutschen Rasse so gut es ging unterstützt hatte.