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Etwas Stilles
Etwas Stilles gleitet aus den Bäumen, wenn die Glocken läuten. Gleitet durch die leeren Straßen, vorbei an verriegelten Fenstern und Türen, füllt den Marktplatz mit seinem Brunnen. Es wirbelt mit den welken Blättern durch die Luft, ein Nebel, der aus den Augenwinkeln ein wenig zu dicht zu sein scheint. Ein wenig zu greifbar. Einige Blätter fangen sich in dem dunklen Mantel des Fremden, halten sich fest bevor der Wind sie wieder davon trägt. Im gelben Licht der einsamen Laterne glitzern die winzigen Tropfen des Sprühregens auf den Fäden der schwarzen Wolle. Auch der Koffer, den der Mann hinter sich her zieht, ist mit kleinen Tropfen besetzt. Der Fremde bleibt unter dem Licht der Laterne stehen und zieht einen Zettel aus seiner Manteltasche auf dem in sauberer Handschrift eine Adresse geschrieben ist. Er sieht sich um und findet wonach er sucht. Die Glocken klingen aus und hinterlassen eine Stille, die unter anderen Umständen vielleicht friedlich gewesen wäre.
Der Mann fröstelt und seine Nackenhaare stellen sich auf. Er dreht den Kopf und erwartet fast, eine Frau dort stehen zu sehen. Eine Frau mit goldblondem Haar und anklagenden Augen. Die Augen, denen er stattdessen begegnet reflektieren wie kleine Spiegel das Licht der Laterne als die Katze ihn misstrauisch beobachtet. Der Mann setzt seinen Weg fort und geht auf ein Fachwerkhaus zu, über dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift "Ferienwohnungen" prangt. Die Tür lässt sich leicht aufdrücken und der Mann beeilt sich, ins Trockene zu kommen. Er steht in einem engen Flur, dessen Wände mit Radierungen und Fotografien des Marktplatzes in verschieden Zeitaltern geschmückt sind.
Eine untersetzte Frau kommt ihm entgegen, eine Tasse Tee in den Händen.
"Guten Abend, ich bin Rosa." Allerdings. Ihre Wangen und Nase sind von winzigen roten Adern durchzogen. Der Mann streckt eine Hand aus.
"Mein Name ist Skiggs, wir hatten telefoniert."
"Ach ja, dann kann ich endlich die Tür abschließen."
Skiggs gibt sein entwaffnenstes Lächeln zum Besten. "Entschuldigen Sie bitte, ich konnte leider keinen früheren Anschluss bekommen."
Rosa macht eine wegwerfende Handbewegung und watschelt zu einem Schlüsselkasten.
"Ihr Zimmer ist nur die Treppe hoch und dann direkt rechts. Sie können es nicht verfehlen, Nummer zwei." Sie drückt Skiggs einen Schlüssel in die Hand und deutet mit dem Kopf nach oben. Er bedankt sich und verschwindet in das Zimmer in dem er für die nächsten paar Wochen wohnen wird. Es ist furchtbar ländlich eingerichtet, aber sauber und mehr oder weniger gemütlich. Er hat schon ganz anders gewohnt.
Skiggs gähnt. Zum ersten Mal seit Wochen fühlt er sich wahrhaft allein, ein wunderbares Gefühl.
Zeit für wohlverdienten Schlaf, auspacken kann er morgen immer noch.
Seine Schläfen pochen und sein Hals ist rau vom Schreien. Sie haben sich gestritten, schon wieder. Er weiß gar nicht genau worüber, nur, dass Vera wütend ist. Ihre Worte prasseln auf ihn ein wie Hagel, kalt und schmerzhaft. Sie weiß genau was sie sagen muss um seinen Puls zum Rasen zu bringen. Er betrachtet sie, das Gesicht wutverzerrt, die langen Haare durcheinander weil sie ständig ihre Hände darin vergräbt.
Er hasst sie.
Kann sich kaum daran erinnern sie jemals geliebt zu haben, das alles scheint Jahrzente her zu sein. Ein Teller fliegt an ihm vorbei und zerschellt irgendwo hinter ihm. Vera kommt auf ihn zu, ihre Hände wild gestikulierend vor sich, sie brüllt noch immer. Am liebsten würde er ihren dummen Kopf nehmen und hart gegen die Kante der Küchentheke schlagen. Ein heißer Schwall an Emotionen steigt in ihm auf, liegt bitter in seinem Mund den er krampfhaft verschlossen hält. Er weiß nicht, wie lange er das noch ertragen kann. Wie lange er sie noch ertragen kann. Sie steht nun direkt vor ihm, schnaufend wie ein Stier. Er streckt die Hand nach seiner Frau aus, berührt ihren Hals und vergräbt seine Hand in ihren Locken ohne ihre Proteste zu beachten. Dann packt er zu, sein Körper bewegt sich von ganz allein, steckt alle Kraft in die Bewegung. Haare bleiben an der Kante der Theke kleben. Er folgt ihrem regungslosen Körper auf den Boden, kniet schwer atmend über ihr. Die rote Pfütze breitet sich aus, wird ein See der bald den gesamten Boden bedenkt hat. Skiggs drückt gegen die blasse Haut von Veras Brust, gräbt seine Finger immer tiefer in das weiche Fleisch bis der Widerstand überwunden ist. Ihre Rippen können seinem Gewicht nicht standhalten, brechen wie Zeige und legen das schwach flatternde Herz frei. Es ist schwarz und ölig glänzend. Skiggs schließt seine Finger um das dunkle Organ und drückt so fest er kann. Es quillt zwischen seinen Fingern hervor und pocht kläglich gegen seine Handflächen. Plötzlich schießen Veras Arme an seinen Hals, schmierig vom Blut und kalt. Ein animalischer, heulender Laut entweicht ihren blassen Lippen. Ihre langen Nägel graben sich tief in die dünne Haut seines Halses, schnüren ihm die Luft ab. Er würgt und schließt seine Hände fester um ihr Herz bis es endlich zwischen seinen Fingern platzt. Eine rote Fontäne schießt ihm entgegen, dringt in seine Augen, seinen Mund und seine Nase, nimmt ihm seine Sinne, ertränkt ihn.
Skiggs zwingt sich die Augen aufzureißen und seinen Körper aus der Starre zu befreien, die der Traum ihm aufgelegt hat. Sein Herz beruhigt sich nur langsam während er sich blinzelnd umsieht. Der Inhalt des Traums beginnt bereits zu verblassen, aber das klamme Gefühl um seine Brust bleibt. Den Albträumen hat er also nicht entkommen können. Dafür aber hoffentlich alles anderem. Er sieht zu dem Koffer, in dem sich ein nagelneuer Führerschein und Ausweis befindet, neben einem ordentlichen Batzen Geld. Er beginnt ein neues Leben, hier, mitten im Nirgendwo. Fernab von der Quelle seiner Träume und den misstrauischen Blicken.
Sein Magen allerdings ist noch der Alte und verlangt nun lautstark nach einem deftigen Frühstück. Skiggs zieht sich an und folgt dem Klappern von Tellern und Besteck in die Küche. Rosa hat ihm den Rücken zugewandt und gießt dampfendes Wasser in eine Tasse.
"Guten Morgen."
Sie fährt herum und lacht erleichtert auf als sie ihren Gast erkennt.
"Guten Morgen. Auch?" Sie schwenkt den Wasserkocher vor ihrem Gesicht herum und Skiggs nickt. Er ist kein großer Teetrinker, aber es erscheint ihm unhöflich nein zu sagen.
"Ich war nicht sicher, ob Sie lieber Toast oder Brot möchten, ich habe einfach beides gemacht." Rosa stellt eine leuchtend grüne Tasse vor ihm ab und bietet Skiggs verschiedene Teebeutel an. Er greift nach dem Pfefferminztee.
"Danke, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Ich bin wirklich nicht wählerisch, was Essen angeht."
Das Frühstück ist schlicht, aber gut und eine halbe Stunde und zu viel Smalltalk später verlässt Skiggs die Küche wieder. Er will heute seine neue Umgebung erkunden und sich nach einem Job umhören.
Der Himmel ist zwar grau, aber es regnet nicht. Dafür klammert sich Nebel an die alten Gebäude und nimmt dem Dorf die wenige Farbe die der Winter ihm gelassen hat.
Die Dorfbewohner sind dem Neuankömmling gegenüber im besten Fall höflich unterkühlt und im schlimmsten Fall offen feindselig und Skiggs gibt sich Mühe, sich seine Frsutration nicht anmerken zu lassen. Er ist ein Eindringling in dieser kleinen Gemeinde. So klein, dass es nicht einen einzigen Polizisten im Dorf gibt. Trotzdem scheint es kein Problem mit Kriminalität zu geben, vermutlich, weil jeder jeden kennt. Das Risiko ist einfach zu hoch. Und sonderlich lohnenswert wäre ein Raub sowieso nicht. Laut Rosa kommt hier schlicht niemand auf den Gedanken, vom Gesetz oder den dorfeigenen Regeln abzuweichen. Man schließt seine Autos oft nicht ab, Fahrräder erst recht nicht. In einer Gemeinde wie dieser regeln die Dinge sich von selbst hat sie gesagt.
Skiggs vergräbt die Hände tief in seinen Manteltaschen und sieht sich nach Läden oder Büros um, in denen er seine Kontaktdaten noch nicht abgegeben hat. Eine schwarze Katze sitzt unter einem Baum und beobachtet ihn. Sie gefällt ihm nicht. Irgend etwas stimmt mit ihren Augen nicht. Sie sind zu intelligent, zu abschätzig. Als wüsste sie, wer er wirklich ist. Vor seinem inneren Auge sieht Skiggs die Katze in hohem Bogen über die Straße fliegen. Er bleibt stehen und starrt zurück in die grünen Augen. Plötzlich springt Tier mit einem Satz auf und Skiggs zuckt ein wenig zurück, würde sich am liebsten umdrehen und rennen. "Was willst du?" will er schreien. Stattdessen steht er nur da und lässt die Katze auf sich zu kommen. Er fühlt sich wie am Morgen, als der Albtraum ihn in seinen Krallen hatte und seinen Körper lähmte. Wie dumm er aussehen muss. Ein erwachsener Mann, vor Angst gelähmt. Wegen einer Katze die gemächlich auf ihn zu geht. Aber das Vieh scheint den Nebel mit sich zu bringen. Er scheint an dem seidigen Fell zu hängen wie ein geisterhafter Schleier der nun um sie beide herum wabert.
Skiggs hört Schritte hinter sich, harte Absätze auf Pflastersteinen. Aus den Augenwinkeln sieht er einen Mann, in einen dunklen Regenmantel gehüllt. Skiggs' Herz schlägt schneller, hämmert nun gegen seine Brust. Aber der Mann beachtet ihn nicht. Scheint den dichten Nebel nicht zu sehen, nicht die schwarze Katze mit leuchtend grünen Augen die ihn viel zu wissend anstarren. In ihn hinein starren.
Skiggs senkt seinen Blick wieder, die Katze ist fort.
Er sieht sich um, er ist allein. Ein Auto brummt irgendwo. Skiggs lacht zittrig, versucht die Angst zu verscheuchen. Er hat für heute genug von seiner neuen Heimat gesehen.
Er macht einige langsame Schritte und lässt den Blick vorsichtig schweifen. Ein Vogel hüpft jetzt unter dem Baum herum. Eine junge Frau kommt um die Ecke. Ihr Gesicht kann er noch nicht sehen, aber sie hat lange blonde Locken, die mit jedem ihrer Schritte wippen. Sie ist ein wenig zu schick für so eine ländliche Gemeinde. Und sie kommt ihm bekannt vor. Erinnerungen an panische Schreie und wimmerndes Flehen kommen an die Oberfläche. Die blonden Strähnen, blutverklebt in seiner Faust. Hände die nach seinen tasten und versuchen, seinen Griff zu lösen. Die Frau kommt nun auf ihn zu und Skiggs fällt einige taumelnde Schritte zurück. Für einen kurzen Moment hat sein Herz ausgesetzt, jetzt rast es.
"Nein..." haucht er, "nein."
Er war so vorsichtig, es ist unmöglich, dass jemand weiß wo er sich aufhält. Er hat es niemandem gesagt und eine umständliche Verbindung gewählt, eine neue Identität bekommen. Einen Neustart. Und trotzdem ist sie hier. Lebendig. Wütend. Sie zieht den Nebel, der sich gerade gelüftet hat, hinter sich her wie einen Schleier.
Er muss an den Tag ihrer Hochzeit denken. Wie schön sie war. Schön auf eine Art, wie eine Waffe schön sein kann. Jetzt sieht sie gefährlich aus, als wäre ihr Inneres nach außen gekehrt worden. Aber Skiggs vermutet, dass sie ihn dieses Mal nicht nur mit Worten verletzen wird wenn sie ihn erreicht. Kalter Schweiß läuft seinen Rücken herunter. Kämpfen oder laufen? Er zwingt seinen Körper, sich zu bewegen, die Lähmung abzuschütteln. Adrenalin rast durch seine Adern als er sich umdreht und rennt. Ohne zu wissen wohin, nur weg von ihr und den Erinnerungen, die sie mit sich bringt. Weg vom Nebel, der viel zu dicht ist. Er kann kaum sehen, hofft nur inständig, dass der Weg frei ist. Skiggs wagt keinen Blick hinter sich aber er weiß, dass sie nicht weit ist.
Die Straße wird steiler und gröber. Seine Lungen brennen und seine Beine schmerzen. Plötzlich ist der Boden unter seinem rechten Fuß verschwunden. Skiggs findet ihn mit dem Rest seines Körpers wieder als er das Gleichgewicht verliert und hart aufkommt. Er nimmt kaum war, dass seine Handflächen und ein Knie anfangen zu bluten. Hastig zieht er seinen Fuß aus dem Schlagloch und kommt stolpernd auf die Beine. Er wirft einen Blick über die Schulter und sieht nichts als den Nebel, der alles verschluckt das nicht unmittelbar vor ihm ist. Aber sie bringt den Nebel, sie kann nicht weit sein. Oder bringt der Nebel sie?
Wie durch Milchglas kann Skiggs große dunkle Schemen erkennen, die in einiger Entfernung vor ihm liegen. Der Wald! Auf der anderen Seite ist eine Landstraße, er muss es nur durch den Wald schaffen. Er ignoriert das scharfe Stechen in seiner Seite und das Aufschreien seiner Lungen und rennt weiter. Kälte streicht über seinen Nacken, kriecht über seine Kopfhaut und seinen Rücken herunter. Er kann sie spüren. Es spüren. Sie ist nicht hier! Sie liegt hunderte von Kilometern weit weg unter der Erde.
'Wegen dir.' Es ist keine Stimme, nur ein Gedanke. Ein fremder Gedanke in seinem Kopf der Bilder und Gefühle mit sich bringt. Skiggs rennt weiter, versucht das Tempo anzuheben aber seine Beine sind müde und seine Lungen und sein Herz überstrapaziert. Er kann nicht mehr.
Er stolpert, als die festgefahrene Erde in Gras übergeht, fängt sich jedoch im letzten Moment. Er hat den Wald erreicht! Vor ihm ragen alte Tannen in den Himmel wie grimmige Wächter. Skiggs streckt beide Arme vor sich aus um niedrige Äste aus seinem Weg zu schieben. Der Nebel wird immer lichter. Skiggs taumelt auf einen schmalen ausgetretenen Weg und läuft weiter, so schnell, wie sein erschöpfter Körper es ihm erlaubt. Er kann nun einen Meter vor sich sehen. Zwei, dann drei. Erleichterung durchströmt ihn, nur, um ihn wenige Sekunden später wieder zu verlassen. Sie steht vor ihm, die Katze zu ihren Füßen. Skiggs kommt zum Stehen, taumelt einige Schritte zurück und wäre beinahe wieder gefallen. Seine Beine zittern, seine Lunge brennt. Der Nebel sammelt sich wie eine weiße Wand hinter seiner Frau und der verfluchten Katze. Skiggs sieht sich gehetzt um.
Die Welt ist verschwunden.
Es gibt nichts als diesen unnatürlichen, undurchdringbaren Nebel, der sie umschließt. Skiggs' Knie geben nach und etwas heißes läuft an seinem Bein herab. Er kann kaum atmen. Der Nebelkreis wird enger, aus den Augenwinkeln flackern Gestalten um ihn herum auf. Aber die sind nicht für ihn bestimmt. Nicht wie sie.
Er hebt den Blick, begegnet nach Luft ringend ihrem anklagenden Blick. Kälte strahlt ihm entgegen und Entsetzen breitet sich aus, treibt verzweifelte Tränen in seine Augen. Er versucht zu sprechen, aber der Ton bleibt in seinem Hals stecken. Auf allen Vieren kriecht Skiggs zurück wie ein Tier. Sie streckt eine Hand nach ihm aus, fast schon einladend. Schluchzend und zittern weicht Skiggs vor ihr zurück, versucht sie anzuflehen, aber er kann kein Wort zustande bringen. Sie kniet nieder, die Hand immer noch ausgestreckt. Nein. Sie kniet nicht. Sie verschwindet, verschmilzt mit dem Nebel und hinterlässt nichts als nacktes Entsetzen. Der weiße Ring schließt sich enger und Skiggs halb wahnsinniger Verstand begreift.
Sie liegt viele Kilometer entfernt unter der Erde.
Sie ist nicht echt.
Nichts ist echt.
Außer das Ding, das jetzt überall ist, wie Eis über seine Haut streicht und durch seine Haare fährt. Das dafür sorgt, dass nichts unbestraft bleibt. Das die Dinge regelt.
Skiggs' Augen rollen blind in ihren Höhlen ohne etwas zu sehen. Das Herz, das gerade noch panisch geschlagen hat, stolpert. Bleibt stehen.