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Etwas Gutes

PHE

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25.08.2001
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Etwas Gutes

Es war wieder geschehen. Sie hatte sich immer wieder gesagt, es darf sich nicht wiederholen, und doch ... Es war wieder geschehen. Das Ticken der Uhr war fast dröhnend in diesem kleinen Zimmer, weiß gekachelt, mit einem festgeschraubten Bett, die Uhr hinter Gittern. Sie war also wieder in diesem Raum aufgewacht, konnte sich an nichts mehr erinnern, nicht einmal an ihren Namen, nur daran, dass es nicht das erste Mal war, dass sie in diesem Raum wach wurde, in einem dieser Räume, doch die anderen Erinnerungen würden wiederkommen. Wie jedes Mal. Doch was wäre, wenn sie nicht wiederkämen? Sie müsste hier bleiben, bis in alle Ewigkeit. Dies war ihr Fegefeuer, so stellte sie es sich vor. Es roch nach Pisse, sie hatte während des Schlafes ins Bett gemacht. Eine Ratte fraß eine Kakerlake und verschwand in ihrem Loch. Die vergitterte Neonröhre brannte nur noch mit halber Kraft. Der Raum war eher finster, als beleuchtet. Sie hörte spitze Schreie von hinter der Wand. Die hohen Töne, die eine Ratte ausstößt, sind die tiefsten, die sie produzieren kann. Manchmal rächen sich die Kakerlaken. Sie lag mit dem Rücken auf dem Bett, die Arme eng am Körper gepresst. Ihre Beine dagegen waren etwas mehr als schulterbreit auseinander. Sie trug ein weißes Leinennachthemd. Ihr Haar war um die Hälfte gekürzt, es reichte ihr nur noch über die Schulter. War das hier passiert, oder war sie vorher beim Frisör gewesen? Hatte sie diese drastische Kürzung ihrer Haare wirklich gewollt? Sie schwang ihre Beine über den Rand des Bettes und setzte sich auf. Sie hatte das Gefühl beobachtet zu werden, doch als sie zur Tür schaute, war dort nichts Verdächtiges. Hinter der rechteckigen Drahtgitterglasscheibe war es dunkel. Sie stand auf und probierte die Tür; sie war nicht verschlossen. Auf der Türschwelle blickte sie zurück ins Zimmer.

"Nicht geöffnet" war auf dem Schild, das von innen an der Tür befestigt war, zu lesen. "Geschlossen" würden die meisten erwarten, doch das klang dem Besitzer des Geschäftes wohl zu hart, zu brutal, zu abschreckend. "Nicht geöffnet" ließ noch den Nebensatz mitschwingen "...aber kommen Sie bitte wieder...", denn irgendwann würde das Geschäft wieder geöffnet haben. So stand sie also vor der Tür und suchte nach einem Anschlag für die Öffnungszeiten. Im oberen Teil der Tür war eine Glasscheibe eingefasst, hinter der man das "Nicht geöffnet"–Schild sehen und durch die man auch einen guten Einblick in das Ladeninnere haben konnte, der untere Teil hatte zwei schmale Glaseinlegearbeiten. Doch nirgends an der Tür waren die Öffnungszeiten zu erkennen. Vielleicht hatte sie am Schaufenster mehr Glück. Nein, auch dort war kein Schild zu sehen. Der Blick in den Laden war durch ein weißes Brett versperrt. Das Fenster war durch eine Spitzengardine halb verhangen. Auf dem Boden des Schaufensters lag der Trödel, der den Betrachter auf der Suche nach mehr in das Innere des Ladens locken sollte. Es hat bei ihr auch geklappt, doch verhinderte die geschlossene Tür, der nicht geöffnete Laden, die Ausführung dieser geschäftlichen Idee. Und es gab keinen Hinweis auf den frühesten Zeitpunkt zur Erfüllung des im potentiellen Kunden geweckten Wunsches. Sie ging zurück zur Tür des Ladens und blickte nochmals zurück zum Schaufenster. Die Sonne trat gerade wieder zwischen den Wolken hervor und sie wurde geblendet. Schnell schloss sie die Augen und ergriff den Türknauf. Die Tür lag etwas zurückgesetzt, so dass man den Fuß auf eine Stufe stellen konnte. Sie rüttelte etwas kräftiger an der Tür, als sie es bisher getan hatte. Vielleicht klemmte die Tür nur. Der rote Fleck, den die Sonne hinterlassen hatte, pulsierte noch vor ihren Augen. Sie würde wohl am Nachmittag wiederkommen müssen. Viel Aufwand für einen Laden, den sie nur zufällig in ihrem Ferienort gefunden hatte. Sie wollte sich in diesem Urlaub einfach nur treiben lassen, nichts war geplant, keine Besichtigungstouren, keine Verabredungen, keine Organisation, kein Telefon, kein Fernsehen, nicht einmal Postkarten schreiben, an die Daheimgebliebenen. Sie ging weiter, am Schaufenster vorbei, hielt jedoch nochmals kurz an, um ihr Spiegelbild zu betrachten. Die Frau, die ihr entgegenblickte sah aus wie Vierzig. Doch so fühlte sie sich nicht. Höchstens Dreißig. Allerhöchstens. Die Augenfarbe konnte man in dem schwachen Bild nicht erkennen. Sie war rehbraun mit hellen grauen Einspritzer. Sie fand ihre Augen das schönste in ihrem Gesicht. Groß und einen Tick zu eng beisammen liegend. Ihr langes hellbraunes Haar fiel ihr über die Schulter. Sie strich es zurück auf den Rücken und ging weiter. In ihrer leichten Bluse fing sich der Wind und blähte sie auf. Ein Mann kam auf sie zu. Er musste aus einem der Häuser herausgetreten sein, sie hätte ihn sonst früher bemerkt. Er lächelte sie an. "Das Geschäft hat zu", sagte er in ihrer Sprache. "Das sehe ich", gab sie zurück, "Wissen Sie, wann es offen ist?" "Kommen Sie heute Nachmittag gegen vier wieder." Und sie kam wieder. Und sie sah ihn wieder. Denn es war sein Geschäft und er stand hinter der altmodischen Theke, als sie den Laden betrat.

Warum dachte sie in diesem Augenblick an ihre erste Begegnung mit ihm zurück? Sie wusste immer noch nicht ihren Namen, aber sie wusste, dass sie seinen Namen trug. Sie war seine Frau. Nein, sie war seine Frau gewesen. Er war tot. Er war ihr genommen worden. Das Verlangen nach einem Drink war riesengroß. Sie war Witwe. Wie altbacken das klang. Wie Jungfer. Dabei war sie doch erst Vierzig; und doch am Ende ihres Lebens. Tränen rannen über ihr Gesicht. Wie kitschig. Sie ging noch einmal zurück in den Raum und schaute auf die Uhr. Sie schien kaputt zu sein, denn nur der Sekundenzeiger hatte sich seit ihrem letzten Blick auf die Uhr bewegt. Sie ging auf den dunklen Gang hinaus und schaute in alle anderen Zellen auf diesem Flur. Nicht viel los heute. Nur sie hatte eine Zelle belegt. Sie konnte sich zwar noch nicht an mehr erinnern, doch irgendwo mussten ihre Sachen sein. Sie konnte sich nicht vorstellen, das sie in diesem Nachthemd hier eingeliefert worden war. Nun ja, möglich wäre es schon gewesen. Vielleicht hatte sie noch den Bullen hier einen Strip geliefert und diese hatten sie dann in diesem Leinenhemd gesteckt. Vielleicht hatten die Bullen einfach ihren Spaß haben wollen und das Ausziehen und wer weiß was sonst noch selbst erledigt. Sie befühlte ihre Scheide. Nein, heute schien sie Glück gehabt zu haben. Sie schaute zurück auf ihre Zellentür: Nummer sieben. Der Gang, von dem die Zellen abgingen, hatte auf der einen schmalen Seite ein Fenster und zur anderen eine Tür. Durch das Fenster konnte sie erkennen, dass immer noch Nacht war. Sie probierte die Tür und betrat einen Raum, von dem rechter Hand Treppen nach oben und unter abgingen und linker Hand ein Büro lag. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich die gleiche Tür wie die, die hinter ihr ins Schloss gefallen war. Sie betrat das Büro. An der Wand befanden sich abschließbare Garderobenschränke, für jede Zelle dieses Stockwerkes einer. Nummer sieben ließ sich nicht öffnen. Ein Schreibtisch mit Stuhl waren die einzigen weiteren Möbel. Sie durchsuchte den Schreibtisch nach dem Schlüsselbund, doch sie fand nur einen Block für die Tagesberichte. Nummer Sieben: Sabine Glas. Sie hatte wieder einen Namen. Nummer Zweiundzwanzig: Andrea Zweig. Es gab auf diesem Stockwerk doch noch eine temporäre Mitbewohnerin. Vielleicht war dort der Sheriff mit den Schlüsseln. Sie öffnete die Tür zum zweiten Flügel des Gebäudes. Aus einem offenen Zimmer hörte sie wie sich der Bulle stöhnend abrackerte. Gestohlen wird hier kaum etwas, man wird meist nur vergewaltigt. Sie nahm den Feuerlöscher, der neben der Tür hing, vom Haken. Sie musste nicht schleichen. Der Kerl hätte auch eine Armee, die über den Flur marschiert wäre, nicht gehört. Die Tür stand sperrangelweit offen. Der Mann, und genau das war er in diesem Moment, nicht Wächter, nicht Sheriff, nur Mann, vielleicht sogar nur Tier, bewegte sich auf der Frau auf dem klapprigen Bett. Seine Hose und Unterhose hingen in den Kniekehlen. Von der Türe aus konnte sie den stark behaarten Hintern des Mannes sehen. Sie ging in die Zelle, hob den Feuerlöscher mit beiden Händen über ihren Kopf und ließ ihn auf den Rücken und auf den Hinterkopf des Mannes fahren. Er bäumte sich nochmals kurz auf und fiel dann in sich zusammen und rollte auf den Boden. Neben dem Bett liegend erschlaffte der hochaufgerichtete Penis wieder. Sie stellte den Feuerlöscher ab und durchsuchte die Taschen des Mannes nach den Schlüsseln. Zwei Schlüsselbunde nahm sie an sich. Dann beugte sie sich über die Frau auf der Pritsche. Sie war ohnmächtig. "Andrea!" Sie rief mehrmals den Namen, den sie im Tagesbericht gelesen hatte. Langsam kam sie zu sich. Glasige, dunkelgraue Augen öffneten sich. "Wer..?" Der Geruch von Kotze und Alkohol kam ihr entgegen. "Ich heiße Sabine." Vielleicht, dachte sie dazu. "Bist du Andrea?" Ein Nicken, kaum merklich, sie drehte den Kopf und schaute auf den Wächter. "Hast du ..?" "Er hat es verdient." Sie half ihr auf. "Komm mit." Sie führte sie den Korridor hinunter, durch die Vorhalle in das kleine Büro. Dort setzte sie sie auf den Stuhl. Dann nahm sie sich die Schlüssel vor und öffnete die Schränke sieben und zweiundzwanzig. Sie durchsuchte die Sachen von Andrea. Die ID-Karte bestätigte, dass die Person auf dem Stuhl Andrea Zweig ist. Doch mehr fand sie nicht. Kein Geld, das hatte bestimmt der Wärter, keine Schlüssel. Die Person auf dem Stuhl war wieder eingenickt. Sie rüttelte sie wach und gab ihr die Klamotten. "Zieh dich an." Sie nahm ihre eigenen Sachen, vergewisserte sich, dass sie wirklich Sabine Glas war und zog sich an. Wie ungewohnt ihr diese Sachen vorkamen, als würde man sich verkleiden. Sie standen sich fertig angezogen gegenüber. "Wo ..?" "Ich bring dich nach Hause", sagte Sabine Glas. Sie hatte die Adresse auf der ID-Karte gelesen.
Es war mal wieder Zeit für etwas Gutes in ihrem Leben...

 

Hallo PHE!

Eine etwas verworrene Kurzgeschichte, die bei mir persönlich noch einige Fragen offen lässt.

Im zweiten Absatz schilderst du doch den Rückblick, oder? Dieser Teil scheint mir nicht ganz hineinzupassen. Vor allem, weil danach folgende Stelle kam:

Warum dachte sie in diesem Augenblick an ihre erste Begegnung mit ihm zurück? Sie wusste immer noch nicht ihren Namen, aber sie wusste, dass sie seinen Namen trug. Sie war seine Frau. Nein, sie war seine Frau gewesen. Er war tot. Er war ihr genommen worden.
Sie war die Frau des fremden Mannes, den der Laden gehört? Oder verstehe ich das falsch? Irgendwie blicke ich da nicht ganz durch.

Auch frage ich mich, wie und vor allem warum deine Protagonistin in diese Art Gefängnis gekommen ist. Und dass ihre Zelle nicht abgeschlossen war, erscheint mir auch merkwürdig.

Die schlimme zweite Hälfte kam dann ein wenig überraschend. Das mit dem Feuerlöscher geschieht dem Wärter Recht.

Sprachlich hast du die Hintergründe schön geschildert und man konnte sich die Umgebung und Ereignisse gut vorstellen.
Ich denke dabei beispielsweise an den dreckigen und ekligen Anfang, aber auch an die Verhaltensbeschreibung des perversen und triebbefriedigenden Wärters.

Rechtschreiberische und grammatikalische Fehler sind mir keine aufgefallen.

Insgesamt eine recht ernste und gut geschriebene Kurzgeschichte, die ich für ein wenig erklärungsbedürftig halte.

Viele Grüße,
Michael :)

 

Hallo Michael,

vielen Dank für die Kritik.

Daß bei dir so viele Fragen offen geblieben sind tut mir leid, oder vielleicht auch nicht. :D Eine Kurzgeschichte soll doch eigentlich nicht alles beschreiben, sondern nur einen Moment oder Sachverhalt beleuchten. Ich wollte dem Leser viel Raum für Interpretationen geben. Aber andererseits habe ich in Nebensätzen einige Erklärungsversuche geliefert.

Aber ich versuche mal, deine Fragen zu klären:
1. Was einem nach einer mehr oder weniger vollständigen Amnesie als erstes wieder einfällt, kann man nicht steuern. Hier ist aber diese Rückblende mit der daraufhin weiteren Erinnerung der erste Aspekt für die Situation, in der sich die Protagonistin befindet. Sie hat einen geliebten Menschen verloren.
2. Und gleich darauf

Das Verlangen nach einem Drink war riesengroß.
D.h., sie hat ein Alkohol-Problem.
3. Und das erklärt auch das 'Gefängnis'. Es sind Ausnüchterungszellen, die nicht abgeschlossen werden.
4. Und mit der 'Errettung' der anderen Frau beginnt sie, sich selbst zu retten. Und sowohl das eine als auch das andere ist eine gute Sache.

Ich hoffe mit diesen Erläuterungen habe ich dir etwas geholfen. Aber, wie gesagt, ich will, daß vieles im Kopf des Lesers passiert.

Gruß

PHE

 

Hallo nochmal!

Eine Kurzgeschichte sollte wirklich ein wenig Spielraum für Interpretationen offen lassen und nicht jedes Detail verraten.
Dennoch sind einige Erklärungen und Hinweise vonnöten, damit der Leser inhaltlich durchblicken kann.
Dass du Hinweise im Text eingebaut hast, finde ich gut. Dennoch waren es mir persönlich etwas zu wenige.

Mittlerweile erscheint mir einiges klarer, allerdings wäre ich ohne deine Erklärung wohl nie auf die Amnesie oder die Alkoholprobleme gekommen.

Viele Grüße - Michael :)

 

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