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Eskapismus Endgame
»Gestern spät geworden, hm?«
Fuck.
Das Gehirn denkt wieder zu laut und lässt mich nicht weiterschlafen. Dazu die schale Erinnerung an einen Traum, den selbst Freud als beunruhigend seltsam bezeichnet hätte. Nie mehr Stranger Things vorm Einschlafen.
Warum wacht man jedes Mal auf, bevor der schlimmste Fall eintritt? Bevor die schwarz rauchenden Sabbertentakel einen von den Beinen holen, die gerade emsig damit beschäftigt waren, sich rennend keinen Millimeter nach vorne zu bewegen?
Gegen die Dünen in meinen Augen ankämpfend, glotze ich eine Weile an die langweilig weiße Zimmerdecke, als würde ich dort eine Portion Realität zu finden hoffen. Oder Sabbertentakel.
Orientierung im Raum-Zeit-Kontinuum: Deutschland. Dienstag. 9. 42 Uhr. Keine Termine heute.
Zeit für die nächste Challenge: Badezimmer. Dusche.
Kein Handtuch. Im Weltraum wäre ich schon tot, denke ich und greife nach einem Shirt, auf dem Spiderman vor geschätzt zwei oder drei Tagen auch noch frischer aussah.
Immerhin. Stage One complete. Stage Two: Kaffee.
15 Minuten später. Ich sitze am Schreibtisch. Von meiner Tasse grinst mir der Joker seine wahnsinnige gute Laune entgegen. Ich grinse zurück. Klappt nicht.
Stattdessen sinniere ich darüber, wann aus Langeweile Depressionen werden. Oder umgekehrt.
Die Spotify Playlist spielt Pain – Natural Born Idiot. Zumindest das passt.
Noch etwas belämmert, aber von Dusche und Kaffee sachte angeschubst, starte ich den Laptop und glotze eine Weile auf das ebenfalls langweilig weiße Word-Dokument, als würde ich dort eine Portion Fantasie zu finden hoffen. Oder Sabbertentakel.
Fantasie sei eine besondere Gabe, ja gar ein Talent, sagen die Leute. Ich halte Fantasie für einen Notausgang für’s Hirn, bevor es sich vor lauter Realität verzweifelt in einer dunklen Ecke des Schädels zusammenkauert, wie ein misshandeltes, weinendes Kleinkind.
Noch drei Wochen. So langsam wird mein Agent dezent ungeduldig. Das lassen zumindest die minutenlangen WhatsApp-Sprachnachrichten vermuten, die er tagtäglich mit Inbrunst in sein I-Phone blökt, der Ansicht, ich würde sie mir bis zu Ende anhören.
Mein laut plärrendes Kleinhirn-Kind wird aus seiner Ecke gezerrt. Eine ungelesene Botschaft macht sich durch ausdauerndes Blinken auf dem Display des pervers großen Smartphones neben mir bemerkbar und nervt meine Augenwinkel. Sicher eine überflüssige Neuigkeit von einem unnötigen digitalen Pseudo-Freund, nicht wert, auch nur ein Mμ an Zeit darauf zu verschwenden.
Ich lese sie.
Facebook sagt mir, dass Thomas sich für eine Veranstaltung in meiner Nähe interessiert.
Aha.
Ich suche den Ist mir egal-Button, finde ihn wieder nicht. Dafür eine Anzeige:
Welchem Game Of Thrones-Haus gehörst du an? Mache jetzt den Test!
So eine Scheiße. Wer fällt auf solch tumben Werbedreck rein?
Ich klicke auf Start.
Nach zehn Fragen, die mich als möglichen Konsumenten von Urlaubsreisen und Haustierbedarf gründlich durchleuchten, steht fest: Haus Stark.
Läuft.
Erneut erschrickt mein mittlerweile etwas leiser vor sich hin schluchzendes Kleinhirn-Kind. Türklingel. Blick auf die Uhr verrät: Postbote. Meine pissgelbe Nemesis.
Noch während die Tür aufschwingt, schreie ich ihm entgegen:
»Wo verdammt bleibt mein Brief aus Hogwarts?«
Der grobschlächtige Gelbuniformierte glotzt mich an. »Paket für Sie.«, stottert er.
Das Kleinhirn-Kind schreit laut auf. Irgendwas läuft heute schon wieder granatenmäßig verkehrt.
Ich unterzeichne, sage brav »Danke«, wie Mutti es mich vor vielen Zeitaltern gelehrt hat und noch bevor Post-Man in seinem Elektro-Batmobil verschwinden kann, was er augenscheinlich schnellstmöglich möchte, besinne ich mich und rufe ihm ein gewichtiges: »Der Winter naht!« hinterher.
Es ist März. Egal. Kann nicht schaden.
Im Wohnzimmer befreie ich den Inhalt des Päckchens aus seinem viel zu großen Pappgefängnis. Das neue Call of Duty. Der Zeitpunkt könnte nicht unpassender sein.
…
Drei Stunden später schalte ich die PS4 wieder aus. Das Hämmern der digitalen Feuerwaffen noch als Echo im Gehirn, besinne ich mich auf die realen Pflichten des Alltags, die mich zurück an den Schreibtisch rufen. Der sechs Meter lange Jakobsweg dorthin führt mich am Bücherregal vorbei, wo Frodo und Samwise noch lauter rufen. Mein Kleinhirn-Kind blickt mich hoffnungsvoll an, bereit den einen Ring überzustreifen und für immer im Dunkel zu verschwinden. Wer kann einem Kind schon einen Wunsch abschlagen?
Abermals Flucht vor der Realität. Die vertrauten Buchstaben machen mich schläfrig. War wirklich spät gestern.
…
»SCHEIßE, HAUPTMANN! WACHEN SIE AUF! SIE SIND DA!«
Fuck.
Das Schreien des Leutnants, zu laute MG-Salven und nicht zuletzt die definitiv zu nahen Einschläge von Granatwerfern, lassen mich nicht weiterschlafen. Dazu die schale Erinnerung an eine Realität, die sich vor drei Jahren kein Autor in seiner fleißigsten Fantasie jemals hätte bunt ausmalen können. Nicht einmal ich.
Ich nehme mir einen letzten Augenblick Zeit, um mich zurückzusehnen, nach der langweilig weißen Zimmerdecke und dem langweilig weißen Word-Dokument. Sogar der digitale Thomas und der pissgelbe Post-Man fehlen mir ein bisschen. Mein Agent weniger. Aber die sind wohl alle schon an einem angenehmeren Ort. Vielleicht Hogwarts. Eher Hades.
Drei Jahre ist es her, seit die Viecher aus der Erde gekrochen waren und mit ihren schwarz rauchenden Sabbertentakeln Europa und Asien plattgemacht haben. Seit meiner Zwangsrekrutierung mangels Menschmaterial.
Realität. Fantasie. Alles verkehrtherum.
Hilft ja nix. Call of Duty. Trotzdem ertappe ich mich dabei, wie ich mir kurz ein Handtuch wünsche, ergreife mein MG und renne los.
Das Kleinhirn-Kind schreit laut.
Ich schreie lauter.