Es wird enden
Ich beobachte wie die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwindet und lächle.
Heute ist das letzte Mal.
Das allerletzte Mal.
Heute Nacht wird alles zu Ende gehen.
Ich streiche mir eine Strähne meiner langen, schwarzen Haare hinters Ohr und seufze.
Heute werden wir frei sein.
Ich denke an sie.
Sie, die mich vor drei Monaten befreite.
Sie, die mir das Leben gezeigt hat.
Sie, die ich liebe.
Sie ist der einzige Grund für mich zu leben, denn in meinem Leben gibt es nur sie und es wird niemals jemand oder etwas anderes geben.
Sie ist der einzige Mensch, dem ich vertraue und sie ist der einzige Mensch, dem ich überall hin folgen werde.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Flashback*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Ich saß in der Ecke meines kleinen, dunklen Zimmers. Alleine.
Wie immer.
Alles war wie immer.
Ich wusste nicht, seit wann ich schon hier war, nur dass es eine wirklich lange Zeit war.
Ich blinzelte in die Dunkelheit und sah zu dem Tablett mit Essen hinüber, dass sie mir immer, während ich schlief, ins Zimmer stellten.
Ich hatte es noch nicht angerührt, hatte aufgegeben. An jenem Tag hatte ich aufgegeben.
Ich hatte vergessen.
Ich hatte mich vergessen.
Vergessen wer ich war.
Vergessen was ich wollte.
Vergessen wie man fühlte.
Die Dunkelheit war mein Zuhause. Die Dunkelheit beschütze mich. Vor allem.
Ich zog die Knie an, legte meinen Kopf darauf und schloss die Augen.
Hatte ich überhaupt eine Familie? Familie.. was war das nochmal? "Wie fühlt es sich an, eine Familie zu haben?", wisperte ich in die Dunkelheit.
Ich bekam keine Antwort. Von wem auch.
Niemand war hier. Niemand kam und niemand ging. So war das schon immer.
Ich schlief ein.
Ich wurde von einem leisen Klopfen an die Tür geweckt.
"Hörst du mich?!", ertönte eine Stimme gedämpft von der anderen Seite der Tür.
Verwirrt blinzelte ich in Richtung Tür und versuchte etwas zu erkennen.
"Hallo?!"
Es war eine weibliche Stimme, das erkannte ich.
"Ich weiß, dass ... . Ich will dir helfen. Hörst du? Ich werde dir helfen!"
Wieder sie.
Ich antwortete nicht.
Es war dunkel und solange es dunkel war, war ich sicher. Ich brauchte keine Hilfe, musste nicht gerettet werden. Trotzdem stand ich auf und ging einige zögerliche Schritte in die Richtung, in der ich die Tür vermutete.
"Ich komme jetzt rein, okay?"
Ich hörte wie die Tür geöffnet wurde und erstarrte.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Flashback ende *~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Ich schaue auf meine Uhr.
Nur noch zwei Stunden, dann wird sie kommen.
Endlich.
Dann ist sie wieder bei mir. Nach so langer Zeit, wie es mir vorkommt - auch wenn es nur zwei Tage her ist, dass ich sie das letzte mal gesehen habe.
Gedankenverloren starre ich in die Dämmerung.
Ich erinnere mich an mein vorheriges Leben, wenn man es denn Leben nennen kann. Daran, wie wenig ich damals gefühlt und gedacht habe.
Ich war wie ein Geist.
Nicht wirklich tot, gleichzeitig aber auch nicht wirklich am Leben.
Bis sie gekommen ist und mir ihre Hand gereicht hat.
Bis sie kam und mich rettete.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Flashback*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Im Türrahmen stand ein Mädchen. Ein Mädchen mit langen nussbraunen Haaren und dunkelgrünen Augen, die mich sofort in den Bann zogen.
Ich konnte mich einfach nicht von ihr abwenden.
Ihr Blick traf den meinen und sie lächelte.
Sie lächelte mich wirklich an.
Ein paar Schritte ging sie auf mich zu, dann streckte sie zögerlich eine Hand nach mir aus.
"Komm. ", sagte sie.
Ihre Stimme beruhigte mich. Sie hypnotisierte mich regelrecht.
Aus irgendeinem Grund vergaß ich all das Negative, reagierte impulsiv und ehe ich realisierte was ich da tat, hatte ich ihre Hand ergriffen und rannte mit ihr in die Nacht hinaus.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Flashback ende *~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Ich strecke eine Hand nach oben und greife nach den Sternen.
Sie sehen so schön aus. So unendlich schön, dass ich mich für immer in ihnen verliere könnte.
Ich beobachte sie und wünsche mir, dass sie für mich greifbar sind, dass sie für uns greifbar sind.
Doch sie sind unerreichbar.
Ich seufze und lasse meine Hand wieder sinken, kann das Rascheln der Blätter im Wald hinter mir hören. In manchen Momenten hört es sich an wie ein Flüstern.
Als würden sie sich über mich unterhalten.
Über uns.
Ich schließe die Augen und erinnere mich.
Durch diesen Wald sind wir damals geflohen und genau hier, an dieser Schlucht, hat sie mir ihren Namen genannt und mir meinen gegeben.
Ich lächle.
Das ist eine meiner schönen Erinnerungen und ich kann mich noch ganz genau an alles erinnern, als wäre es eben erst gewesen.
Ich schließe die Augen und erinnere mich.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Flashback *~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Wir liefen stundenlang durch den Wald, bis sich der Wald lichtete. Vor uns war eine tiefe Schlucht und man hörte einen Fluss in der Tiefe rauschen.
"Pause?", sie schaute mich fragend an. Ich nickte leicht.
Sie setzte sich an den Rand der Schlucht und zog mich neben sich. Ich war immer noch total verunsichert und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich wusste nicht mal wer sie war.
Wir schwiegen beide und beobachteten die aufgehende Sonne. Sie war wunderschön.
Viel schöner, als ich gedacht hätte.
Ich hatte sie noch nie zuvor in meinem Leben gesehen und doch hatte ich noch nie etwas so schönes gesehen.
Ich senkte meinen Blick und starrte zum Fluss hinunter.
Man konnte ihn kaum sehen, so tief war die Schluch, aber sie hörte sich gefährlich an. Gefährlich und Todbringend, doch gleichzeitig fazinierte er mich auch und zog mich an.
"Wie heißt du eigentlich?", fragte sie. Ich erschrak.
Hatte ihre Anwesenheit völlig vergessen.
Während sie mich erwartungsvoll ansah, beobachtete ich sie aus dem Augenwinkel.
Wie ich hieß? Was mein Name war? Hatte ich überhaupt einen Namen? Ich konnte mich nicht daran erinnern.
"Hm.. hast du überhaupt einen?"
Ich schwieg. Beobachtete sie nur. Nach einiger Zeit der Stille, schüttelte ich den Kopf.
"Dann nenne ich dich.. hmm..", sie überlegte kurz, "Heaven!" Sie grinste.
Ich zeigte keinerlei Reaktion.
Nach kurzem Schweigen: "Ich bin Hope. Heaven und Hope. Das passt doch, meinst du nicht?"
Wieder grinste sie mich an.
Sie klang so glücklich. Ich verstand sie nicht, doch ich nickte. Mehr hatte sie als Antwort scheinbar auch nicht erwartet, denn sie sagte nichts weiter.
"Wir sollten gehen."
Ihre Stimme riss mich zurück in die Wirklichkeit. Die Sonne war schon lange aufgegangen und stand hoch am Zenit.
Sie stand auf und hielt mir ihre Hand hin. Doch dieses mal, sah ich nur daran vorbei und starrte ihr ins Gesicht.
Warum hatte sie mich gerettet? Welchen Grund hatte sie dafür?
Konnte ich ihr wirklich vertrauen? Ich wusste nicht warum ich plötzlich an ihr zweifelte, doch ich konnte nichts dagegen tun.
Ich sah ihr in die Augen.
Dieses Grün.. und bevor ich mich daran hindern konnte, schlug ich ihre Hand zu Seite und platzte mit meiner Frage heraus: "Warum hast du... warum hast du mich mitgenommen?"
Ihr Augen weiteten sich und ich sah ihr an, dass ich sie erschrocken hatte, doch sie antwortete nicht. Sie schaute mich nur weiterhin mit diesem leicht geschockten, doch wohl mehr verwirrten, Gesichtsausdruck an.
"Welchen Grund hattest du mich mitzunehmen?! Ich war dort sicher! Ich war alleine mit der Dunkelheit, die mich beschützte!!", meine Stimme zitterte vor Wut.
Warum? Warum war ich so wütend? Ich hatte doch nur Angst. Ich wollte sie doch gar nicht ..
"Erinnerst du dich denn an gar nichts mehr? Weißt du wirklich überhaupt nichts mehr, .. Heaven?", zögernd ging sie in die Hocke und hob die Hand.
Doch sie hielt mitten in der Bewegung inne und ließ sie wieder neben sich fallen.
"Du hast Angst“, schlussfolgerte sie, " und ich kann dich verstehen, auch wenn du mir nicht glauben willst. Ich war genauso wie du jetzt."
Was redete sie da? Sie so wie ich? Sie kannte mich nicht einmal und doch. Ich verstand rein gar nichts.
Sie erhob sich und entfernte sich etwas von mir. Als sie anfing zu sprechen, blieb ihr Rücken mir zugewandt.
"Ich hab dich gesehen.", begann Hope.
Verwirrt sah ich sie an. Wie meinte sie das 'mich gesehen zu haben.? Sie schien meine Verwirrung zu spüren und sprach weiter.
"Vor zwei Jahren, als sie dich herbrachten. Ich war damals noch 15 und ich glaube du warst nur ein Jahr älter als ich. Er trug dich herein und du hingst so leblos in seinen Armen. Ich dachte du wärst tot."
Sie machte eine kleine Pause und drehte sich wieder mehr in meine Richtung.
'Er' ? Wer war 'er'?
"Ich dachte du wärst tot", fing sie erneut an, "doch als er dich an mir vorbei trug, trafen sich unsere Blicke und du hattest etwas in deinem Blick. Ich kann es dir nicht genau beschreiben, doch du hattest diesen Hass in deinen Augen und dieser Hass schien sich ganz allein gegen dich selbst zu richten."
Sie sah mir in die Augen und lächelte plötzlich.
"Ich hätte nicht gedacht, dass sie dich brechen würden."
Die Wut, die mich eben noch ausgefüllt hatte und gedroht hatte, mich zu verbrennen, verpuffte plötzlich und hinterließ eine Leere, die ich nicht verstand.
Mich brechen würden? Wovon sprach sie da und wer war derjenige der mich hergebracht hatte. Wer war ich?
Ich verstand überhaupt nichts mehr.
Ich wollte etwas sagen, doch sie lies mich nicht zu Wort kommen.
"Es tut mir Leid, dass ich dich mitgenommen habe. Ich hätte das nicht tun sollen. Es war egoistisch von mir, zu glauben, dass du den gleichen Wunsch hättest wie ich. Zu glauben, dass du deine letzten Monate in Freiheit verbringen möchtest."
Freiheit? Was bedeutete es frei zu sein? War ich denn nicht immer frei gewesen? Mich hatte ja niemand dazu gezwungen in diesem Raum zu bleiben oder etwa doch? Sie unterbrach mich in meinem Gedankengang.
"Du hast keinen Grund mir zu vertrauen, du kennst mich nicht mal. Genau, du kennst nur meinen Namen. Mehr nicht.", sie schien eher mit sich selbst zu sprechen als zu mir.
Was war hier los?! Sie holte tief Luft und ihre nächsten Worte schrie sie fast.
"Ich zwinge dich nicht mit mir zu kommen, du bist nun frei! Lebe!"
Dann drehte sie sich um, rannte los und verschwand im Wald.
Entgeistert starrte ich ihr hinter. Was war denn jetzt los? Im einen Moment war sie fröhlich und aufgeweckt, fast schon zu zutraulich, im nächsten dann so.
Ja, ich vertraute ihr nicht wirklich, immerhin kannte ich sie wirklich nicht, aber andererseits, ... vertraute ich ihr vielleicht doch, sonst wäre ich ihr nicht so weit gefolgt oder?
Bestimmt würde sie gleich wiederkommen. Sie konnte mich doch nicht einfach so allein lassen. Oder konnte sie doch? Was wenn sie nicht zurück käme?
Ich sprang auf und rannte sofort los. Sie sollte nicht gehen. Ohne sie würde ich doch ganz alleine sein.
Während ich lief fing ich an zu zittern und bekam Panik.
"Hope?!", rief ich.
Was war los mit mir? Sonst war mir doch auch immer alles egal. Ich war doch immer allein. Nur ich.
Ich in meinem dunklen Zimmer, doch hier war es keineswegs dunkel, nicht einmal im Schatten der Bäume.
Diesmal rief ich lauter: "Hope?!!"
War es das vielleicht? Nur weil es zu hell war? Ruckartig schüttelte ich den Kopf und wäre dabei fast hingefallen.
Schwer atmend blieb ich stehen. Wie sollte ich sie hier bloß wieder finden? Nervös schaute mich um.
Ich stand am Rand einer Lichtung und ... JA! Auf der Lichtung saß tatsächlich sie. Erleichtert ließ ich mich auf die Knie fallen. Ich hatte sie gefunden.
Ich beobachtete sie. Wie sie da saß, erinnerte sie mich irgendwie an mich. Sie saß in der Mitte der Lichtung mit angewinkelten Beinen und hatte den Kopf auf ihren Knien gelegt. Ich konnte nicht erkennen ob sie weinte, doch ich vermutete es.
Ich wusste nicht wann ich genau aufgestanden war und zu ihr gegangen war, doch das nächste woran ich mich erinnern konnte war, dass ich mich vor sie kniete und sie umarmte.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Flashback ende *~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Ich glaube, dass das der Moment gewesen ist, in dem ich mich dazu entschieden habe, bei ihr zu bleiben.
Koste es was es wolle.
Sie hat mich in diesem Moment so sehr an mich selbst erinnert.
Wieder lächle ich.
Das sind Erinnerungen die mir niemand nehmen kann.
Die UNS niemand nehmen kann.
Sie gehören ganz allein uns.
Ich gehe an den Rand der Schlucht, lasse mich nieder und meine Beine in die Tiefe baumeln.
Es ist stockdunkel - eine Mondlose Nacht.
Ich genieße die Dunkelheit, die mich wachen wird bis Hope kommt. Ich starre in den Himmel und beobachte wieder die Sterne, die meinen Blick magisch anzuziehen scheinen. Ich weiß nicht was ich sonst tun soll.
Wir haben nur noch so wenig Zeit und wir haben kaum eine andere Wahl. Ich ballte meine Hände zu Fäusten.
Warum hat er so etwas getan?! Warum hat er uns unsere Zukunft genommen?! Die Verzweiflung, die Wut, die Trauer. All die Gefühle, die ich verdrängt habe, überfluten mich und ich drohe in ihnen unterzugehen. Tränen laufen mir die Wange entlang. Ich versuche sie wegzuwischen, doch es werden immer mehr und schließlich gebe ich auf.
Weine und schreie hemmungslos meine Gefühle heraus.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*Flashback*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Vor knapp 2 Monaten fanden wir so etwas wie ein kleines Haus - mitten im Wald. Es schien schon lange unbewohnt zu sein und da wir nichts hatten, wo wir hätten hingehen können, entschieden wir uns dort zu bleiben.
Hope erzählte mir, dass wir nichts essen mussten um zu überleben. Doch den Grund dafür behielt sie für sich. Egal wie sehr ich sie nervte und löcherte, sie gab nicht nach, bis ich schließlich Ruhe gab. Es war im Grunde egal.
Essen nicht essen. Wen interessierte das schon?
Ich weiß nicht genau was wir all die Zeit taten. Wir lebten vor uns hin und es geschah im Grunde nichts besonderes. Bis Hope begann, sich seltsam zu verhalten.
Anfangs war es gar nicht so auffällig. Sie starrte nur ab und an abwesend auf irgendeinen Punkt und bemerkte nicht was um sie herum geschah.
Doch seit einigen Tagen wurde sie immer abweisender und starrte mich, immer wenn sie dachte, dass ich es nicht bemerken würde, mit ihren dunkelgrünen Augen, traurig zu mir herüber.
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, sie so zu sehen, und ging in einem ihrer abwesenden Momente zu ihr. "Hope?" Sie zuckte zusammen und ihr Blick klärte sich wieder. "Hm? Was? Hast du was gesagt?", verwirrt sah sie mich an.
Nein eigentlich sah sie mich nicht an, sondern durch mich hindurch. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. Aus irgendeinem Grund machte mir dieser Blick Angst. "Hope, was.. was ist los?"
Kurz blitze Erschrecken in ihren Augen auf, bevor sie wieder in die selbe Ausdruckslosigkeit verfiel.
Sie schüttelte den Kopf. "Nichts. Was soll denn sein?" Abschätzend sah ich sie an. Warum sagte sie mir nichts? Warum vertraute sie mir nicht? Ich legte meine Hände auf ihre Schultern und zwang sie so dazu mich richtig anzuschauen. Ich ging erst gar nicht auf ihre Antwort ein. "Was. Ist. Los?", wiederholte ich meine Frage mit zusammen gebissenen Zähnen. Ich bohrte meine Blick in ihren.
Sie fing an zu zittern, wich jedoch meinem Blick aus. Sie wollte aufstehen, doch ich ließ sie nicht.
Ich konnte sie jetzt nicht gehen lassen, sonst würde sie mir niemals antworten. "Ich muss...", sie murmelte irgendwas unverständliches, was ich kaum verstand. Verständnislos sah ich sie an.
"Ich muss gehen", wiederholte sie diesmal ein wenig lauter. Wie meinte sie das? "Ich kann nicht bei dir bleiben. Ich muss weggehen." Ihre Stimme zitterte und eine Träne lief an ihrer Wange entlang. Ich erstarrte.
Sie konnte nicht.. Sie durfte nicht gehen! Sie durfte mich nicht alleine lassen! Ich wollte so viel sagen, doch alles was ich heraus brachte war ein klägliches: "Du darfst nicht." Ich versuchte ihr in die Augen zu schauen, doch sie wich meinem Blick immer noch aus. "Ich muss. Ich hab keine andere Wahl." Ruckartig stand sie auf und versuchte an mir vorbei zu kommen, aber ich hielt sie am Handgelenk fest.
"Ich lasse dich nicht gehen. Ich werde dir überall hin folgen, hörst du.? ÜBERALL! Ganz egal wohin!" Sie starrte mich an. "Auch in den Tod?" Kurz hielt ich inne und sah sie an. Ich konnte nicht ohne sie Leben und ich wollte auch nicht ohne sie Leben. Wie konnte sie also von mir verlangen sie gehen zu lassen? "Ich meine das was ich sage! Ich werde mit dir auch durch die Hölle gehen, wenn es keinen anderen Weg gibt! Also bleib! Bleib bei mir!" "Du weißt nicht was du da sagst. Du würdest nicht.."
Ich zog sie zu mir und sah ihr in die Augen. "Ich weiß genau was ich sage. Ich weiß genau was ich meine. Ich weiß genau was ich will! Warum hast du mich überhaupt daraus geholt, wenn du mich sowieso wieder alleine lassen wolltest .?!"
Ich wusste selbst nicht genau was ich da tat. Ich wusste nicht was ich denken sollte. Ich wusste nur, dass es mich zerstören würde, wenn sie ging.
Allein der Gedanke, dass sie aus meinem Leben verschwinden könnte, schmerzte zu sehr. Sie setzte dazu an mir zu widersprechen, doch ich ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. Stattdessen küsste ich sie.
"Du bist dir sicher, dass du wissen willst, warum ich gehen
wollte?", unsicher sah sie mich aus dem Augenwinkel an. Ohne zu zögern nickte ich und lächelte sie aufmunternd an. Sie holte ein paar Mal tief Luft bevor sie begann zu sprechen.
"Was, wenn ich dir sage, dass ich sterben muss. Was wenn ich dir sage, dass du nur 2 Monate länger zu leben hast als ich? Was wenn ich dir sage, dass wir dem nicht entkommen können?"
Sie brach in Tränen aus und sackte an meiner Schulter zusammen. Ich sah sie nur schweigend an. Ich hörte was sie sagte, doch ich verstand es nichts. Als ich nichts antwortete fuhr sie fort.
"Ich werde dir das nur einmal erzählen. Einmal alles. Du wirst selbst entscheiden müssen, was du danach als nächstes tun willst und tu mir bitte einen Gefallen." Sie atmete kurz tief ein und wieder aus.
"Unterbrich mich nicht."
Dann begann sie zu erzählen.
//Derjenige der mich damals in das Gebäude getragen hatte, war Hopes Vater gewesen. Ich war der erste, doch nach mir folgten noch 98 weitere.
Es waren hauptsächlich Jugendliche - genau wie wir. Sie dachte damals, dass ihr Vater uns alle einfach nur aus Mitleid aus dem Waisenhaus zu sich geholt hatte, denn das Geld und die Mittel dazu besaß er.
Doch nach einem Jahr, begannen immer mehr von uns sich seltsam zu verhalten. Sie verloren Erinnerungen oder wussten plötzlich nicht mehr wo oder wer sie waren. Andere brachen einfach zusammen. Ihre beste Freundin ebenfalls. Sie brach plötzlich zusammen und war tot. Am gleichen Tag starb noch ein weiterer. Sie hatte das kaum überwunden, als zwei Monate später die nächsten vier starben. Einfach so. Aus heiterem Himmel.
Das ganze Wiederholte sich immer und immer wieder und in immer kürzeren Abständen, doch sie hatte es nicht verstanden. Warum starben alle um sie herum? Sie verstand es nicht.
An einem Abend rief ihr Vater sie zu sich. Er schaute sie mit schmerzerfüllten Augen an und er gestand ihr, dass er bald tot sein würde.
Dann erklärte er ihr endlich das, was sie all die Zeit versucht hatte zu verstehen, aber ohne ihn, nicht hatte verstehen können.//
Während sie erzählte, fing sie an zu weinen und ich umarmte sie. Irgendwann schlief sie ein und ich dachte über das nach was sie mir erzählt hatte.
Hope, ich und alle anderen, sowohl freiwilligen, als auch unfreiwilligen Bewohner des Hauses, waren von ihrem Vater irgendwie darauf programmiert worden, nach einer bestimmten Zeit zu sterben.
Eigentlich war das ganze gar nicht so geplant. Er wollte nur etwas über die Lebensdauer der Menschen herausfinden und sie womöglich verlängern.
Doch alles lief komplett schief und konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Um Hope und ihn herum starben alle. Alle außer mir und ihr.
Zuerst die anderen Jugendlichen, dann begann das Sterben auch bei dem Personal. Niemand blieb verschont.
Da er ebenfalls an sich selbst herum experimentiert hatte, war sein Tod zu dieser Zeit auch nicht mehr fern.
Keiner außer ihm wusste, was vor sich ging.
Bis er kurz vor seinem Tod seiner Tochter alles offenbarte. Alle anderen waren bisher zu dem von ihm „bestimmten“ Zeitpunkt gestorben.
Durch unterschiedliche Ursachen, doch sie waren alle tot.
Ich wusste nicht wie sie damit all die Zeit klar gekommen war. Noch dazu hatte sie sich darauf ein ganzes Jahr um mich in meinem für mich sicheren Raum gekümmert. Alleine. Sie war die ganze Zeit alleine gewesen und niemand hatte ihr geholfen.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Flashback ende *~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Ich hole tief Luft, räuspere mich und stehe auf. Bleibe jedoch an der Klippe stehen, mit dem Rücken zum Waldrand. Ich kann sie nicht sehen und trotzdem weiß ich, dass sie da ist. Endlich. Jedoch drehe ich mich nicht um. Ich warte.
Eine kurze Weile bleibt sie stehen und beobachtet mich. Ich spüre ihren prüfenden Blick auf mir liegen und muss augenblicklich lächeln. Ich weiß was sie denkt. Sie hat Angst, dass ich meine Meinung ändere.
Dann höre ich sie näher kommen, bis ihre Schritte schließlich hinter mir verstummen.
Ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter, doch ich drehe mich nicht um, sondern hebe stattdessen meinen Kopf und schaue in die Sterne.
Sie sind so wunderschön. So schön und doch so fern.
Nicht mehr lange und ich werde sie nicht mehr sehen können. Weder die Sterne noch Hope.
Ich werde gar nichts mehr können..
Verhalten seufzend drehe ich mich zu ihr um und schaue ihr in die Augen, die so unglaublich und ungewöhnlich schön sind, dass sie mich, seit dem ich sie das erste mal gesehen habe, in ihren Bann gezogen haben.
„Heaven..“, sagte sie leise. Nur meinen Namen. Mehr nicht. Doch es liegen so viele Gefühle in diesem einen Wort, dass ich Gänsehaut bekomme.
Ich schaue sie an. Sehe sie richtig an. Sie sieht so zerbrechlich und verloren aus, wie sie da vor mir steht. Dennoch ist sie stärker, als ich es je war.
Ich ziehe sie in meine Arme und halte sie fest. Will sie niemals wieder loslassen.
Ich will mehr Zeit. Zeit zum Leben! Zeit mit ihr!!
„Hope, ich…“ Sie bringt mich mit einem Finger auf meinen Lippen zum Schweigen. „Pssssch. Sag es nicht“, flüstert sie mit angespannter Stimme. „bitte!“, setzt sie noch hinzu und ich bleibe still.
Weiß nicht was ich noch sagen soll.
All die ungesagten Dinge und Gedanken, die ich ihr heute noch erzählen wollte, die nun ungesagt bleiben würden.
Es zerreißt mich, doch ich schweige - ihr zu liebe – und vergrabe mein Gesicht in ihren Haaren, atme ihren Geruch ein – sie riecht so unglaublich gut – und genieße diesen seltenen Moment der Nähe mit ihr.
Normalerweise schiebt sie mich weg oder weicht mir aus, so wie sie es in letzter Zeit immer öfter getan hat.
Doch nicht heute. Heute, an unserem letztem Tag und ich bin froh darüber.
Weiß sie, was ich ihr vorhin sagen wollte und jetzt immer noch will? Weiß sie, was mir schon die ganze Zeit durch den Kopf geht? Vielleicht sterben wir ja nicht. Vielleicht hat sich ihr Vater nur einen letzten, sehr schlechten und morbiden Scherz erlaubt? Aber nicht einmal ich selbst kann mir das einreden.
Jedoch zerbreche ich mir weiterhin den Kopf darüber, während ich sie noch fester halte.
Ich habe meine Gefühle so lange erfolgreich im Zaum gehalten. Also warum ausgerechnet heute?! Ich weiß die Antwort schon bevor ich mir die Frage bewusst selbst stelle. Weil heute der letzte Abend ist.
Sie löst sich viel zu schnell wieder von mir, schiebt mich auf Armeslänge von sich und schaut mir prüfend in die Augen. Ich will ihrem Blick ausweichen, doch ich kann nicht, denn er sagt genau das, was ich nicht hören will 'Reiß dich zusammen Heaven. Tus für mich.'
Ich senke den Blick. Ich habe verloren.
Ich fahre mir mit den Fingern durch meine vom Wind zerzausten Haare und seufze.
Ich setze mich wieder an die Kante der Schlucht und lasse meine Beine in die Tiefe baumeln. Nach einer Weile des Schweigens setzt sie sich neben mich. Ich lass mich nach hinten fallen und schaue in die Sterne.
Wie oft habe ich sie mir heute schon angeschaut? Fast schon zu oft, doch sie faszinieren mich einfach zu sehr. Sie sind für mich genauso unerreichbar wie Hope es ist und keinem Mensch, keinem Lebewesen auf diesem Erdball wird auffallen, wenn einer von ihnen plötzlich nicht mehr da ist. Sie verschwinden einfach. Unbemerkt. Genau wie wir. Seelische Wracks bei der Abreise.
Ich wünschte wir hätten noch Zeit. Zeit, diese Welt noch lieben zu lernen. Zeit, etwas anderes kennen zu lernen als Hass und Misstrauen. Ein Jahr, ein Monat, eine Woche oder so gar nur ein Tag würde reichen. Doch wir haben keine mehr. Sie ist abgelaufen. Langsam, fast unbemerkt, lief sie uns davon und jetzt ist es zu spät. Es gibt keinen Ausweg mehr für uns.
Ich schließe die Augen und konzentriere mich. Vertreibe diese Gedanken aus meinen Gehirnwindungen und konzentriere mich auf ihre Nähe. Ich darf jetzt nicht einbrechen. Ich kann und darf nicht.
Die Wolken, die langsam aufgezogen sind, habe ich gar nicht bemerkt und so trifft mich der einsetzende Regenschauer völlig unerwartet.
“Wie passend”, murmelt Hope und setzt sich auf. “Sollen wir dann?”, fragt sie und schaut mir in die Augen. Ich erwidere ihren Blick und nicke. Sie steht auf, reicht mir die Hand und hilft mir hoch.
Wir stehen Hand in Hand am Rande der Klippe und starren in den Abgrund. Man kann den reißenden Fluss so gar von hier oben hören.
Ich bin vor Erfurcht fast erstarrt und flüstere: “Hast du Angst?”
Ihre Hand verkrampft sich in meiner und sie blickt starr in die Schwärze, die droht uns zu verschlingen. “Nein, wieso auch.. und du?” “Nein”, erwidere ich nur. Doch ich weiß, dass sie Angst hat. Sie hat genau so viel Angst wie ich.
“Danke”, sagt sie plötzlich leise.
“Wofür?”
“Für ... alles.”
Ich kann nicht antworten, drücke nur ihre Hand. Ich schlucke hart und versuche die plötzlich wieder aufkommenden Tränen zu unterdrücken.
“Bei drei?”, frage ich. Meine Stimme bricht fast weg.
Ich fühle mich wie in der Mitte zerissen. Zittere am ganzen Körper und kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie fließen in strömen.
“Ja. ... Zählen wir zusammen?” Ihre Stimme zittert. Sie zittert. Auch sie weint.
Ich kann nichts sagen, dass sie zum lächeln bringen würde. Es gibt gar nichts aufmunterndes mehr zu sagen. Ich schweige kurz und streiche mit dem Daumen über ihre Hand. Mehr kann ich nicht mehr tun.
Ich atme tief durch und richte mich ganz auf. “Ja” Meine Tränen versiegen. Das ist das Ende.
“Eins.”
Es kommt mir vor, als würde die Zeit sich verlangsamen.
Ich atme tief ein und erblicke noch ein allerletztes mal die Juwelen des Himmels.
“Zwei.”
Ich schiele zu Hope rüber - auch sie hat aufgehört zu weinen.
Meinen Blick wieder nach vorne gewandt, lächle ich.
“Drei.”
Und wir springen.