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Es war einmal ein Mädchen
von Ute-Maria Graupner
Es war einmal ein Mädchen, das machte sich auf den Weg, Körper, Gefühle und Geist zu erforschen.
Es begegnete vielen Menschen, die sie zum Turnen, Klettern, Atmen, Entspannen und wieder zum Turnen, Klettern, Atmen, Entspannen aufriefen. Das Mädchen hatte viel Freude daran. Eines Tages aber merkte es, dass diejenigen, die ihr zuriefen, „höher, weiter, tiefer, mehr, runder, schwerer...“ auch sehr böse sein konnten, wenn es ihren Aufforderungen nicht kam.
Und es machte sich wieder auf seinen Weg. Es begegnete neuen Menschen, die Empfehlungen zu Heilung und Gesundheit aussprachen. Sie rieten dem Mädchen, „nur so, vermeide das, esse davon, schlucke jenes, nimm auf keinen Fall dieses zu dir, engagiere dich dafür, lass das hier bleiben...“ Mit jeder Empfehlung verlor das Mädchen ein wenig die Freude am Forschen. Eines Tages merkte es, dass es gar nicht möglich war, all den Anweisungen zu folgen.
Es machte sich wieder auf seinen Weg. Es begegnete neuen Menschen. Sie forderten es auf, „zeige deine Gefühle, drücke sie aus, verberge deine Empfindungen, halte Kontakt mit anderen, lebe in einer Gruppe, finde dich selbst oder ziehe dich in die Einsamkeit zurück.“ Nachdem das Mädchen bemerkt hatte, dass sich diese Ratschläge gegenseitig ausschlossen, machte es sich wieder auf seinen Weg.
Es begegnete neuen Menschen, die ihm vorschlugen, „lies dieses Buch, bedenke jene Haltung, schule deinen Verstand, glaube an eine höhere Macht, wende dich auf keinem Fall einem Gott zu, fühle dich eingebettet, verlasse dich nur auf dich selbst, löse dich von deinem Geist.“ Das Mädchen bemerkte, dass diese Menschen sich in ihrer Freiheit begrenzten. Und es machte sich wieder auf seinen Weg.
Da kam es an eine Wegkreuzung und wusste nicht, in welche Richtung es weiter gehen soll. Es setzte sich auf einen Meilenstein und dachte an die vielen schönen Ratschläge. Es wurde traurig, weil das Glück ausblieb, das man ihm dafür versprochen hatte.
Das Mädchen schaute auf Bäume, Gräser, Blumen, hörte Vögel, das Rauschen des Windes in den Baumkronen. Es spürte die Sonnenstrahlen auf seiner Haut, nahm den Geruch des Waldbodens in sich auf. Es wurde ruhig in dem Mädchen. So, dass selbst das Zwitschern der Vögel zum Teil dieser Stille wurde. Es lauschte in sich hinein. Dort, wo sonst Betrachtung, Erwägung, Einordnung und Befürchtung wohnten, war nichts zu vernehmen. Es blickte auf die Bäume, doch kein Widerhall eines Gedankens. Was das Mädchen auch betrachtete, die Stille im Inneren blieb...
Alles war ganz nah, als ob das Mädchen sich mit seiner Umgebung verbunden hatte. Es spürte eine Freude, die ihm unbekannt war. Sie war leise und selbstverständlich. Fast nicht wahrnehmbar, das Wohlwollen für die Dinge, die es umgab. Das Mädchen fühlte Dank für sich und das Leben. Es richtete sich auf und ging in irgendeine Richtung weiter. Denn es wusste, dass es egal war, welche es einschlagen würde. Und wenn es nicht gestorben ist, dann lebt dieses Mädchen noch heute in dieser Stille, diesem Wohlwollen und in dieser Nähe zum Sein.