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Es war ein trauriger Novembertag
Es war ein trauriger Novembertag, der Wind riß von den Bäumen das Laub und wir fuhren mit unserem alten Toyota nach Lüneburg. Ich blätterte gelangweilt in meinen alten Comics und half Superman und Batman mindestens zum hundertsten mal die Welt zu retten.
Meine Eltern unterhielten sich leise über unsere bevorstehende Ankunft bei unseren Verwandten; Brüder und Schwestern meines Vaters und deren Kinder. Ich war mit meinen fünf Jahren der Jüngste unter meinen Cousins und Cousinen.
Dicke Regentropfen klopften an die Fenster, der Scheibenwischer quietschte und über uns lasteten dunkle Wolken.
Die Mutter meines Vaters, meine Oma war gestorben und morgen sollte die Beerdigung sein.
Ich kannte die kleine Kirche. Schmucklose, graue Wände mit einem festgenaglten Gottessohn in der Mitte. Das Holz des Kreuzes war alt, genauso wie die Kirche, die Farbe blätterte ab, und Jesus hatte überall Flecken am ausgemergelten Körper.
Meine Oma sei an Krebs gestorben, sagten sie. Ich kannte sie kaum. Ich habe sie in meinen jungen Leben bisher nur zweimal gesehen.
Einmal zur Hochzeit einer meiner Cousinen. Als die Feier immer länger dauerte und ich ins Bett mußte setzte sie sich neben mich und erzählte mir solange Märchen bis ich einschlief.
Sie trug immer diese grau-karierte Schürze und roch nach Kölnisch Wasser, davon hatte sie immer eine große Flasche in ihrem kleinen Badezimmer stehen.
Das zweitemal sah ich sie, als sie im Sommer zu Besuch bei uns in München war. Sie pustete immer meine roten Schwimmflügel auf, damit ich im Starnberger See nicht untergehen konnte.
Der Empfang in Lüneburg war überschattet von Trauer.
Der Tag wollte einfach nicht hell werden und das trübe Grau des hereinbrechenden Winters hüllte uns ein.
Die Seele meiner toten Oma schien damit verwoben zu sein und setzte sich schwer auf die Herzen ihrer fünf Kinder und Enkel.
Der nächste Tag war eisig kalt und es roch nach Schnee, doch der Himmel strahlte in einem leuchtenden Blau.
Ich wurde in einen kleinen Anzug mit Minikrawatte gezwängt. Meine widerspenstigen Haare wurden mit viel Wasser und Mamas Spucke an meinem Kopf festgepappt.
Am Friedhofseingang wurden dem alten Pfarrer zur Begrüßung die faltigen Hände geschüttelt und betretene Gesichter ausgetauscht.
Der liebe Gott meinte es gut mit meiner Oma. Wenn die Sonne während eines Begräbnisses so strahlend wie heute schien, dann hatten die Engel sie bestimmt zu ihm geholt.
Von der anschließenden Predigt bekam ich kaum etwas mit. Ich stellte mir vor, wie meine Oma neben dem lieben Gott sitzt und einem neugeborenem Engelchen solange Geschichten erzählt bis es eingeschlafen ist.
Als der verwitterte Pfarrer mit seinen tiefhängenden Wangen seine Predigt beendete, ging die Trauergesellschaft mit leisem Schluchzen und dezentem Kleidergeraschel zum Grab um der Beisetzung des Sarges beizuwohnen. Die Messinggriffe glitzerten wie kostbarer Schmuck in der Sonne.
In Gedanken war ich bei meiner Oma im Himmel und lächelte still vor mich hin, als mein Blick auf die verheulten Augen meiner ältesten Cousine fiel. Ich wunderte mich, daß sie weinte und lächelte ihr aufmunternd zu. Verwundert schaute sie mich an.
Auf einmal registrierte ich, daß neben dem Grab eine Schaufel in der Erde steckte und jeder der Trauergäste eine Schippe voll auf den Sargdeckel platschen ließ. Ich war der Übernächste in der Reihe und verstand das alles nicht. Alle schmissen mit verschlossenen Gesichtern Dreck meiner Oma hinterher. Keiner hatte mir vorher davon erzählt.
Schnell bückte ich mich und riß ein paar Gänseblümchen vom Wegesrand. Als die Reihe an mir war ließ ich die Blümchen auf das Holz fallen. Ich erkannte, daß mein Vater mich beobachtete. Verständnislos schaute er mir bei meinem Tun zu. Vielleicht lag auch ein leichter Vorwurf in seinem Blick.
Als wir wieder im Haus meines Onkels angekommen waren, versammelten sich die Erwachsenen im Wohnzimmer. Die Möbel waren alt und abgewetzt. An den Wänden klebten packpapiebraune Tapeten mit psychedelischen Mustern.
Bier und Korn wurde unter lautem Gejohle auf den Tisch gestellt. Das laute Ploppen der Verschlüsse, die mit verkratzten Feuerzeugen von den Flaschenhälsen runtergehebelt wurden, wird mir noch lange im Gedächtnis haften bleiben. Für mich klangen sie wie Böllerschüsse, die eine rauschende Ballnacht eröffneten.
Alkoholisches rann trockene Männerkehlen hinunter. Die Frauen klemmten ihre mausgrauen Handtaschen auf den Schoß und begnügten sich mit Eierlikör.
Ich saß einsam und allein in der dunklen Küche und kapierte die Welt nicht mehr.
Noch vor einer Stunde blickte ich in betretene und traurige Augen. Jetzt sind die selben Augen glasig von Alkohol und rollen wie betrunkene Murmeln in ihren Höhlen unkontrolliert hin und her.
In mir entstand eine große Leere. Verzweifelt versuchten meine Gedanken diesem Geschehen einen Sinn zu geben. Aber so sehr ich auch grübelte, ich konnte an einem Besäufnis nach einer Beerdigung keinen Sinn finden.
In dieser Leere hinein sprossen Stacheln der Trauer und Wut. Sie bohrten sich tief in mein kindliches Herz, schalteten meinen Verstand aus und übernahmen die Kontrolle über meinen Körper.
Wie von Furien gehetzt raste ich ins Wohnzimmer und schrie die Erwachsenen an :“Wie könnt ihr nur feiern und saufen, jetzt wo die Oma gerade beerdigt wurde.“ Aber die Furien in mir suchten noch weiter nach einem Ventil und so wischte ich mit einer ausholenden Bewegung die meisten Flaschen und Gläser vom Wohnzimmertisch.
Plötzlich war es grabesstill. Fast so wie in der Kirche. Nur das Ticken der großen Wanduhr war zu hören.
Besoffen torkelnde Murmeln versuchten mich als Fixpunkt zu betrachten. Lallende Zungen leckten sich über trockene, aufgesprungene Lippen. Mein Onkel stöhnte kurz auf. Keiner sagte ein Wort. Mein Blick traf den meines Vaters. Auch er kämpfte mit Koordinationsschwierigkeiten. Mir stiegen die Tränen in die Augen. Ich stürmte aus dem Wohnzimmer. In der Küche holte mein Vater mich ein. Ich roch seinen alkoholgeschwängerten Atem, als er mir erklärte, daß Erwachsene nun einmal so sind. Auch er findet es abstosend und ist stolz auf mich, daß ich so reagiert habe. Sein Atem strafte seine Worte Lüge. Wenn er so dagegen war, warum soff er dann mit? Warum wischte er nicht die Gläser vom Tisch? Warum muß dies ein fünfjähriges Kind tun?
Wie schwach und voller Lügen ist doch die Erwachsenenwelt.
Diese Stacheln saßen tief und lange in mir.
Wunden verheilen nicht, sie hinterlassen Narben.