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Es war die Nachtigall
Diese Geschichte ereignete sich vor vielen, vielen Jahren.
Genauer gesagt zu einer Zeit, als es noch lederhäutige Lindwürmer gab, die von Stadt zu Stadt zogen und holde Jungfrauen entführten, in der Hoffnung auf viele Taler Lösegeld, um sich endlich einen Flugkurs leisten zu können.
Zu einer Zeit, als es noch Ritter gab, welche in rostigen Rüstungen auf klapprigen Kleppern auszogen, die Lindwürmer zu bekämpfen, immer die Hoffnung hegend, die Jungfrau ins Bett und die vielen Taler in ihren Geldbeutel zu bekommen.
Zu einer Zeit, als kaum jemand Arbeit fand, und die, welche Arbeit hatten, sich auch nicht glücklich preisen konnten, denn sie waren Leibeigene.
Zu einer Zeit, als vor den Toren der Städte die Verlierer am Galgen baumelten und mit blicklosen Augen in eine nicht mehr vorhandene Zukunft starrten.
Die Geschichte, die zu erzählen ich hergekommen bin, handelt jedoch weder von Lindwürmern noch von Jungfrauen. Auch auf Ritter, Leibeigene und Gehängte wird man vergebens warten. Die Geschichte handelt von einem Verlierer, dessen Karriere noch nicht auf des Henkers Richtstatt beendet wurde:
In der Fußgängerzone eines mittelalterlichen Marktfleckens saß ein Bettler vor dem einzigen Warenhaus des Städtchens. Es regnete Bindfäden, ein kalter Wind fegte um die Häuserblocks und der Bettler fror sich den Arsch ab. Vor ihm (also dem Bettler, nicht dem Arsch) stand eine Blechdose, in der lagen wenige kupferfarbene Münzen, einige Hosenknöpfe und ein Milchzahn. Vor der Dose war ein Schild, auf dem in krakeliger Schrift geschrieben stand: „Mittelloser mazedonischer Mandolinenspieler bittet um eine milde Gabe.“
Die Menschen hetzten achtlos an dem Bettler vorbei. Wenige nur nahmen sich Zeit, das Schild zu lesen. Kaum einer warf eine Münze in die Blechdose.
Plötzlich kam ein kleiner Vogel angeflattert und landete vor den Füssen des frierenden Mazedoniers. Der Vogel hüpfte von rechts nach links und von links nach rechts. Dabei schaute er unverwandt dem Bettler ins Gesicht. Nach einer Weile blieb er vor dem Schild stehen, legte den Kopf schief und schien das Gekrakel zu lesen.
„Wenn du Musiker bist, warum spielst du nicht etwas?“, fragte er schließlich.
Der Mazedonier war gar nicht erstaunt, dass der Vogel sprechen konnte, schließlich hatte er im Laufe seines Lebens schon viel seltsameres erlebt.
„Ich musste meine Mandoline verhökern“, sagte er. „Sonst wäre ich längst verhungert.“
„Dann sing was“, sagte der Vogel. „Wenn du singst, werden die Menschen dir viel bereitwilliger etwas geben.“
„Ich kann nicht singen“, musste der Mazedonier gestehen.
Der Vogel hüpfte auf einen der ausgelatschten Turnschuhe des Bettlers, breitete seine Flügel aus, flog eine Runde durch die Fußgängerzone und landete schließlich auf der rechten Schulter des Mazedoniers.
„Ich schlage dir einen Deal vor“, flötete er dem Bettler ins Ohr.
„Was denn für einen Deal?“
„Ich verstecke mich unter deiner Mütze und singe die wunderbarsten Melodien, die du je gehört hast. Du musst nur den Mund dazu bewegen.“
„Und du glaubst, das funktioniert?“, fragte der Mazedonier.
„Aber sicher“, antwortete der Vogel.
„Und was hast du davon?“, fragte der Mazedonier.
„Wenn du genug Taler zusammen hast, musst du mir ein Marzipanschweinchen kaufen.“
„Ein Marzipanschweinchen?“
„Ja, genau. Ich verzehre mich nach Marzipan, aber ich kann ja schlecht zu einem Marzipanhändler fliegen und mir ein Marzipanschweinchen kaufen. Ich habe doch kein Geld. Und auf der Straße ist Marzipan seltener zu finden als Gold.“
Der Mazedonier überlegte.
„Warum eigentlich nicht“, sagte er schließlich. „Lass es uns probieren.“
Also schlüpfte der Vogel unter die Mütze des Bettlers und fing an zu singen. Der Mazedonier war zuerst erstaunt ob der Schönheit des Gesangs, fing sich aber schnell und bewegte die Lippen möglichst synchron zu dem Gehörten.
Und wie es der Vogel prophezeit hatte, verlangsamten die Menschen ihren Schritt, kaum das sie den Gesang vernahmen. Viele blieben stehen und schauten den Bettler ehrfürchtig an. Schon zückten die ersten ihre Brieftaschen, da trat ein Mann aus der Menge hervor, hieb dem Mazedonier mit der Faust auf die Mütze und brüllte: „Betrug. Der Kerl singt ja gar nicht.“
Der Gesang verstummte.
Rot rann das Blut des kleinen Vogels an dem Gesicht des Mazedoniers hinab. Die Passanten, die stehen geblieben waren, um dem Gesang zu lauschen, schüttelten ihre Köpfe und gingen schließlich ihrer Wege.
Und so endete der erste bekannt gewordene Versuch, das Publikum mit Playback zu verarschen.