Es tut mir leid, ich hoffe du weißt das. Du Arschloch.
Immer wieder schaut sie auf die beiden Zeilen, die sie auf das kleine Stück Papier geschrieben hat, exakt darauf bedacht jeden Strich genauso schwungvoll wie der vorherige zu ziehen. Und auch wenn sie weiß, dass es die Wahrheit ist, weiß sie, dass sie dieses Stück Papier niemals behalten wird. Es wird vernichtet werden, keine drei Sekunden, nachdem es überhaupt geboren wurde. Und da wären wir wieder, in dieser verdammten Zwickmühle. Man weiß, dass es wahr ist, doch man weiß auch, dass man es nie abschicken wird, nie seinen eigentlichen Empfänger erreichen wird, weil es nicht geht. Es geht nicht, weil es ein Bruch aus der Routine wäre. Weil sich dann plötzlich zeigen würde, dass alles wahr ist, was sie vorher so bedacht mit Ironie verschleiert hat. Weil dann plötzlich das farblose Monster eine Farbe bekommen würde, ihre Farbe und sie sich nicht sicher ist, ob sie alle für dieses Monster bereit wären. Er, die Menschen, und noch weniger sie. Weil sie sich selbst in diese Routine flüchtet, die sie hasst, aber trotzdem ihre einzige Sicherheit ist. Ohne sie würden ihr vielleicht alles entgleiten, das Lächeln, ihr Leben und ihre Fröhlichkeit, die sie sich doch so hart erarbeitet hatte, auf ihrem Gesicht.
Doch ist es nicht überall so? Man hasst sich für etwas und gleichzeitig ist es die Stütze ohne die man nicht leben kann, ohne die man zusammenbrechen wird. Es ist schwierig da herauszukommen. Denn man muss eine neue Stütze finden. Sie glaubte diese Stütze gefunden zu haben. Es war das erste Mal, dass sie sich auf jemand wirklich verließ, dem sie alles anvertraute. Und trotzdem war sie enttäuscht worden. Doch niemand hatte es bemerkt, und das war gut so. Sie hatte ein Hochgefühl gespürt, wie noch nie in ihrem Leben und dann war sie gefallen, doch niemand hatte es gesehen. Denn sie war gut darin, es zu verstecken.
Wann es angefangen hatte, das wusste sie nicht genau. Wahrscheinlich war es einfach schon ihr Wesen gewesen, von Geburt an. Sie war als Kind eine Eigenbrötlerin gewesen, hatte kaum Freunde und wollte eigentlich auch keine. Sie war in einer sehr großen Familie groß geworden, mit Geschwistern, Cousin und Cousinen, und das hatte ihr schon immer gereicht. Eine beste Freundin für die Schule, jemand in ihrem Alter, mit der man sich vielleicht auch mal nach der Schule traf, doch nichts wirklich Tiefes. Und irgendwann trennten sich wieder ihre Wege, eine neue Schule, neue Freunde, eine neue beste Freundin und eine kleine Clique. Es war nicht so, als würde sie sich abschotten, im Gegenteil, sie verstand sich mit fast allen und konnte auch mit jedem reden, doch trotzdem knüpfte sie nie enge Bänder. Und jetzt, wo sie wirklich merkte, was für Ausmaße das angenommen hatte, war es wohl zu spät sein eigenes Wesen zu verändern. Denn auch jetzt, Jahre später, gab es immer noch viele mit denen sie lachen und reden konnte, doch nie erzählte sie wirklich ihr Gedanken und Gefühle. Warum es niemand auffiel? Weil sie keineswegs stumm war, sie redete, viel, und auch über Gefühle und Gedanken, doch nie ging es wirklich um sie, und irgendwann, da hatte sie es wohl verlernt. Ihrer besten Freundin traute sie so manches an, doch das wirklich wichtige, das konnte sie sich nicht eingestehen. Vielleicht weil sie verlernt hatte, Neues in ihr Leben zu lassen, Veränderungen, deren Ausgang sie nicht vorhersehen kann.
Tja, und dann kam er. Es war eine schleichende Freundschaft gewesen, sie hatte fast ein Jahr gedauert, bis sie sich selbst eingestand, dass er ein enger Freund geworden war. Und noch ein weiteres, halbes Jahr, bis sie merkte, dass sie ihn brauchte, dass er sowas wie Balsam war und sie zum ersten Mal ein bisschen das Gefühl hatte, sich nicht verstellen zu müssen. Und ja, es hatte wirklich gut angefangen. Und ihre Freundinnen, die hatten ihr dann schließlich diesen Floh ins Ohr gesetzt, er und sie. Er und sie? Ja, er schien sie auch zu mögen, sie zu brauchen, sagte es ihr sogar, doch sie konnte nicht darauf antworten, lächelte nur, weil sie sich selbst nichts eingestehen konnte. Sie hatte so etwas noch nie gehabt, sie noch nie auf einen Jungen eingelassen, obwohl das mit ihren siebzehn Jahren fast unglaublich erscheinen mag. Doch sie hätte so etwas nicht gekonnt, etwas, dass nur auf Äußerlichkeiten beruht. Und dann war da er gewesen und diese Momente, wo sie über ihren Schatten gesprungen war und hatte auf ihre Art ihm auch gezeigt, dass sie ihn mochte. Und sie hatte gedacht, dass es reichen würde, fürs erste, dass er verstehen würde, dass es für sie nicht so einfach war. Tja, wie naiv sie gewesen war. Und trotzdem musste sie immer wieder an diese drei Wochen denken, an das Gefühl von seiner Hand in ihrer und seine Arme, die sie wärmten. Und ja, dann klammerte sie sich wieder an diesen Strohhalm, dass sie alles vielleicht nur falsch verstanden hat, dass er versteht, dass sie nicht so spontan sein kann, wie die anderen Mädchen, jüngere Mädchen, ältere Mädchen. Weil sie Angst hat. Angst davor, nackt dazustehen und alleine zu sein, weil das, was sie ist, niemand will. Das sind diese Momente, wo es sie einfach nur schmerzt und sie sich wünscht nie die Erfahrung von Freunden gemacht zu haben, weil dann hätte sie auch nicht vermissen können.
Doch so war es nun mal nicht und das unausweichliche war schließlich passiert. Auf einer Party, seiner Party, die eigentlich alles verändern sollte, positiv, nicht negativ. Es war der Abend, als sie ihre Naivität bemerkte und ihr Herz brach, heimlich, hinter ihrer Fassade aus Ironie. Er, wie er ein anderes Mädchen in den Armen hielt, was nichts Ungewöhnliches war und sie erst dann verunsicherte, als sie bemerkte, dass es nichts anderes war, als wenn sie in seinen Armen lag. Wie dumm und naiv sie nur war.
Obwohl es nur eine Nacht war, ein verdammter Abend und ein Morgen, hatte er alles verändert. Er hatte sie verändert. Hatte sie verwirrt zurückgelassen, mit Wut, auf sich und auch ihn und eigentlich auf alles. Ihre Freundschaft, sie war anders geworden und sie hatte das Gefühl, dass sie einfach die ganze Zeit aneinander vorbeiredeten. Mal war sie eingeschnappt, da hatte sie das Gefühl, er wollte sich versöhnen, doch dann war er plötzlich wieder eingeschnappt, weil sie eingeschnappt gewesen war, obwohl sie doch gerade auf die Versöhnung eingehen wollte. Doch in Wirklichkeit hatte sie eigentlich keine Ahnung, weil sie einfach nicht redeten. Jedenfalls nicht darüber. Und mittlerweile tat ihr es so weh, dass sie beschlossen hatte, es einfach ruhen zu lassen. Weil sie diese Berg- und Talfahrt nicht mehr konnte, nicht mehr verstecken konnte und sie gefahrlief ihr Gesicht zu verlieren, das mit dem ewigen Lächeln, mit dem Witz und der Ironie, die eigentlich die Wahrheit ist. Dabei müssten sie einfach nur einmal reden. Doch sie konnte es nicht, jedenfalls nicht nüchtern, und am Tag. Schon manchmal hatte sie abends alleine auf der Couch gesessen, schon weit nach Mitternacht und plötzlich das Verlangen gehabt, ihm die ganze Scheiße ins Gesicht zu spuken um endlich zu wissen, was er wirklich dachte, was hier wirklich abging. Doch sie machte es nicht, weil sie Angst davor hatte die Wahrheit zu hören und sie dann nicht ertragen zu können. Denn im Grunde verbrachte sie die Hälfte aller Schulstunden an seiner Seite. Manchmal schrieb sie ihn an, doch wenn er dann antwortete, schrieb sie wieder mit ihrer Maske, denn sie wusste, dass sie es niemals gefühllos übers Handy machen konnte, sie musste ihn sehen.
Und da war bereits das nächste Problem. Denn eigentlich, außer in der Schule, sah sie ihn nicht, sie lebten in verschiedenen Dörfern, hatten verschiedene Freundescliquen, mit denen sie sich zwar auch super verstand, doch nicht so, dass sie sich zu ihnen einladen würde. Weil sie sich nicht aufdrängte, wahrscheinlich ein weiterer Grund, wieso sie oftmals alleine blieb. Was sie keineswegs störte, hielt es sich denn in gewissen Grenzen.
Wieder sah sie auf das Blatt, ein Teil ihrer eigenen, selbstkonzipierten Therapie um endlich von ihm loszukommen. Von seiner Wärme, seinem Lächeln, aber auch von dem Schmerz und dem Frust. Sie hatte bereits seinen Namen in ihren Kontakten geändert, zu einem Appell an sie selbst, es nicht zu tun. Ihn nicht wieder anzuschreiben, weil sie wusste, dass sie am Ende wieder der Frust bekommen würde. Und das Bild, wie er und dieses Mädchen dort auf dieser Couch saßen, es brachte noch die gleichen Gefühle hervor wie damals, in dieser Sekunde. Hass, viel Hass, doch nicht wirklich auf ihn, sondern mehr auf sie selbst, denn sie hatte es zugelassen, sie war so verdammt, scheiß naiv gewesen. Und sie hatte es ja auch gewusst. Schließlich hörte sie es mehrmals in der Woche. Sie war anders, komisch und hatte Macken. Fette Macken, mit denen sich wohl die wenigsten länger als nötig befassen wollten. Und wie könnte sie es ihnen verachten, sie schaffte es ja selbst kaum.
Egal, es war vorbei, das schwor sie sich. Sie würde am Montag wieder in die Schule gehen und dann wäre er nichts weiter als nur ein Freund, ein Freund wie sie so viele hatte, mit denen man kurz redete, doch die man danach wieder verließ. Doch eigentlich war sie sich nicht wirklich sicher, wie sie das anstellen konnte. Am Ende, würde sie dann doch wieder seinem Lächeln erliegen, nur um später, zu Hause, sich selbst dafür zu hassen. Und eigentlich wollte sie ihm auch nicht wehtun. Denn auch wenn er in ihr nicht das sah, was sie ihn im gefunden zu haben geglaubt hatte, wusste sie, dass er ihren Rückzug spüren würde, und es ihn schmerzen würde. Außerdem gab es da noch dieses Wochenende, das sie vielleicht zusammen mit drei Freunden zusammen verbringen würden. Sie war sich nicht sicher, ob sie es wollte, oder nicht. Denn eigentlich war es der perfekte Ort um mal wirklich zu reden. Und sie würden sich auch nicht hetzen müssen, sie hätten Zeit. Zeit endlich zu wagen diesen Schritt zu tun. Doch dann war da wieder dieser Gedanke. Verdammt, wieso eigentlich sie? Wieso suchte er nicht das Gespräch? Denn dafür konnte es nur einen einzigen Grund geben, es juckte ihn nicht so viel, wie es sie juckte. Und das war dann wieder dieser Moment, wo sie einfach den Wunsch hatte, alles zu beenden. Wegzugehen, aus diesem ganzen beknackten Leben hier, das sie führte, mit diesem fröhlichen Gesicht und an dessen Ende sie dann doch wieder alleine in ihrem Zimmer saß und zu viel nachdachte. Über das, was mal war uns sie versaut hatte.
Konnte man eigentlich auch ohne das alles hier leben? Ohne diese starken Arme, die dich umschließen und dich vor der Welt beschützen. Ja, man kann, das hat die Vergangenheit gezeigt, doch es wird jetzt härter sein, weil man weiß, was man hätte haben können.
Das Beste war wohl, es zu vergessen. Mit einem konzentrierten Blick nach vorn, in dein Leben, das du bestreiten musst, grau und schwer, ohne einen wirklichen Sinn. Denn, mal ganz ehrlich, für was machen wir das hier überhaupt? Leben? Wir atmen die Luft dieses Planeten für eine bestimmte Zeitspanne und dann ist alles vorbei. Vielleicht haben wir etwas geschaffen, das uns überlebt, noch Menschen nach uns erfreut, oder wir haben es eben nicht getan, uns ein Scheiß über die Menschen nach uns geschert und einfach versucht dieses Dasein zu fristen.
Manchmal frage ich mich, ob es irgendetwas außerhalb dieses Universum gibt, das ein Gehirn hat und Spaß daran, kleine, nichtige Kreaturen zu erschaffen, die dann nach und nach diesen Planeten hier überfallen und besiedeln, sich aufspielen und wichtigtun, nur um am Ende doch zu sterben und zu verschwinden. Ob wir nicht eigentlich ein kleines, aus Langweile entstandenes Versuchsprojekt sind, das eigentlich garkeinen Sinn hat. Denn, mal ganz ehrlich, was ist der Sinn von Menschen auf der Erde? Von der ganzen Menschheit auf dieser Erde? Wieso ist die Erde nicht einfach ein weiterer Planet, mit Gestein und Luft, der um die Sonne kreist?