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Es schmeckt der Schönen - eine Geschichte vom Leid
Am Anfang starrte ich nur, unfähig zu einem klaren Gedanken. War sie denn wirklich unwissend? Wollte sie denn wirklich unwissend sein und für immer bleiben? Und es ist schwierig in solchen Momenten nicht zu verzweifeln, denn der unvoreingenommene Blick in die Welt enthüllt, dass wir wirklich in einer Hölle leben.
Das Grauen ist längst nicht mehr sichtbar. Im Supermarkt ist nichts mehr zu sehen und zu hören; keine Blutlachen, keine Schreie. Sauber verpackt, aus "bester Herkunft", denn Mensch liebt es heutzutage, "bewusst zu essen". Die Schlachthöfe sind draußen, auf dem Land, und keine Wanderwege führen mehr an ihnen vorbei. Man lacht über die, die an das Leid denken, denn es ist leichter, die Augen geschlossen zu halten, und weiter in einer Scheinwelt zu leben."Sind nur Tiere", das ist die Entschuldigung für den unentschuldbaren zigmillionenfachen jährlichen Massenmord, an dem alle beteiligt sind, bei dem alle ihre Finger mit drin haben. Die Welt ist schrecklich. Überall Blut und Leid, überall Kampf ums Überleben, überall Geburt und Tod, in einem ewig andauernden Karussel des Grauens. Und der Mensch, als unangefochtene Krone der Schöpfung, darf stolz auf sich sein: Er ist Perfektionist und produziert Leid am Fließband!
Ein weiterer Bissen, und es scheint ihr zu schmecken. So ein zartes Gesicht, soviel Leben - und sowenig Gewissen? Ob sie weiß, dass sie sich von Leichen ernährt? Ob sie weiß vom Grauen, ob sie jemals fähig sein wird, den Alltag hinter sich zu lassen und zu sehen, wie die Welt wirklich ist, hinter den Leuchtreklamen und Hochglanzpostern? Und wenn man mit ihr reden würde, ob sie verstünde, ob sie bereit wäre, zu verstehen? Und ob sie dann bereit wäre, dagegen anzukämpfen? Denn gibt es etwas wichtigeres, als Leid zu vermeiden, und zwar für alle fühlenden Wesen? Könnte sie, einmal damit konfrontiert, jemals wieder darüber hinwegsehen?
Ist es etwa möglich, dass Menschen Leid einfach nicht sehen wollen, sich beharrlich weigern, Leid anzuerkennen, dass nicht ihr eigenes oder das ihrer Gattung ist? Ist das auf Dauer möglich? Und dann blicke ich in ihre fühlenden Augen, und durch diese direkt in ihr Herz und sehe einen Menschen der fühlt, einen Menschen, der Leid nicht will, nicht für sich und nicht für andere. Ich glaube Augen zu sehen, die sich irgendwann öffnen werden, irgendwann einfach öffnen müssen. Ich sehe Lippen, die nicht länger schweigen und das Unaussperechliche sagen werden.