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Es lauert in deiner Familie
Mit zwölf Menschen hatte ich an diesem Tag bereits gesprochen, hatte Akten über Diebstahl, Betrug, Beleidigung und Körperverletzung angelegt und jedes Mal mit ernstem Ausdruck gesagt, »Das Verbrechen macht zu Weihnachten keinen Urlaub, wir deshalb auch nicht.« Für mich galt das zumindest noch eine halbe Stunde lang, danach wollte ich den Bruder und die Eltern meiner Verlobten vom Bahnhof abholen. Es erfüllte mich nicht mit Freude, diese Menschen, die früh den Kontakt zu meiner Verlobten abgebrochen hatten, kennenzulernen. Ich verstand nicht, weshalb wir die Feiertage mit ihnen verbringen mussten. Doch es schien meiner Verlobten wichtig und da sie sich tagtäglich liebevoll um meine beiden Kinder kümmerte, behielt ich meine Vorbehalte für mich.
Der Mann mit dem zerknitterten Anzug und der unpassend bunten Krawatte sollte mein letzter Termin vor dem Feierabend sein; ein letzter Fall, den ich noch aufnehmen musste, bevor ich die Uniform gegen Hose und Pullover tauschen konnte. Der Fremde hatte in dem kalten Foyer des Reviers so aufrecht auf einem der billigen Plastikstühle gesessen, so akkurat und geduldig, dass ich erwartete, seinen Fall nach einer ebenso akkuraten Schilderung schnell aufnehmen und den Fremden auch schnell wieder verabschieden zu können. Zwar stießen mich seine Brille mit den kleinen runden Gläsern und seine sich höflich windende Ausdrucksweise unwillkürlich ab. Doch konnte ich mir diese Abneigung nicht erklären und so ließ ich mir nichts anmerken, wies dem Mann, sich zu setzen und mir von seinem Anliegen zu berichten.
»Wenn Sie mir das nachsehen, werde ich etwas weiter ausholen, denn ich denke, dass zuerst ein Gefühl für die Umstände geschaffen werden muss. Mir ist nämlich manchmal, als könnte ein Gespräch, das gerade das konkrete Anliegen auslässt, weit mehr darüber sagen, als es direkte Worte schaffen. Es sei Ihnen versichert, dass ich mich eilen werde und meine Worte mit Bedacht gewählt sind. Also bitte, haben Sie Geduld und hören Sie meine Geschichte an.«
Seine Ausführungen ließen mich müde seufzen. Der Fremde war offenbar ein Wichtigtuer, einer jener Sorte, die glaubten, dass alles, was sie sagten, von größter Bedeutung war. Normalerweise warf ich solche Typen gleich wieder raus. Aber dann hätte ich einen anderen Bürger in mein Büro holen müssen und wer wusste schon, wie lange ich für dessen Anliegen brauchte. Mit teilnahmslosem Gesicht nickte ich dem Fremden daher zu. Sollte er mir eben seine Geschichte erzählen. Ich würde pünktlich Feierabend machen, egal wie weit er kam.
Der Fremde war offensichtlich beruhigt, rückte seine Brille zurecht und begann. »Hätte man mich in jungen Jahren gefragt, hätte ich meinen besten Freund Markus wohl als meine eigentliche Familie bezeichnet. Es war nicht so, dass ich meine Eltern nicht liebte, aber sie waren nun einmal Eltern und so teilten sie ihre Liebe zwischen mir und meiner Schwester, was ich Ihnen heute nicht vorwerfen kann und will, hätte ich sie doch andernfalls noch weniger geschätzt.
Meine Schwester war ungefähr drei Jahre älter als ich. Geschwister mit einem solchen Altersunterschied würden als Babys und Kleinkinder voller Eifersucht sein, später miteinander spielen und in der Pubertät sich wieder voneinander entfernen, um entweder für immer getrennt oder bald wieder vereint zu sein. Das zumindest sagte jeder erfahrene oder auch nicht erfahrene Mensch, egal ob man danach fragte oder nicht. Meine Eltern waren keine hörigen Menschen, aber wenn man etwas oft genug hört, dann fängt man ganz automatisch an, es zu glauben; wenigstens ein bisschen. Jedenfalls nahmen meine Eltern alle Abneigung und allen Streit zwischen uns Kindern als eine Tollerei der Jugend, die schon noch vorbeigehen würde, wenn man nur lange genug wartete.
Wenn ich ihnen erzählte, dass meine Schwester kein Mensch sondern eine Hexe war, dann nahmen sie mich daher nicht ernst; allenfalls schimpften sie mit mir. Sicherlich fragen Sie sich jetzt, wie ich das meine und ob ich verrückt bin. Nun, ich kann Ihnen nur sagen, dass ein Kindergeist manch seltsame Erklärung für Dinge findet, die es nicht versteht. Zumeist bedient es sich dann der Dinge, die es kennt und das ist nun einmal häufig die Magie. Daher steckt hinter einer fantastischen Kindergeschichte manchmal ein gefährlicher Funken Wahrheit. Doch lassen Sie mich erzählen, was ich denn als Kind sah, das mich zu der Schlussfolgerung kommen ließ, dass meine Schwester eine Hexe ist.
Auf meinem Weg zur Schule gab es eine ganz unvermeidbare Stelle, ein schmaler Fußweg, auf der einen Seite von einer hohen Hecke und auf der anderen Seite von einer groben Mietkaserne eingekesselt. An jedem Schultag wartete dort meine Schwester, die doch immer schon vor mir das Haus verlassen hatte. Aus einem zwingenden Gefühl heraus hatte ich bis zu meiner Schulzeit vermieden, mit meiner Schwester alleine zu sein. Nun, im Rückblick würde ich sagen, dass sie mich zu oft, zu kalt und zu lange angestarrt hatte, ihr Gesicht trotz meines zögerlichen Lächelns immer regungslos geblieben war und dass ich zu oft stolperte, wenn ich an ihr vorbeilief. Doch erst an dieser Stelle meines Schulweges verstand ich, dass mein Problem mit meiner Schwester tiefer ging als das.
Es waren ihre mitleidlosen Augen gewesen, die jede Wärme aus meinem Körper gezogen hatten, ihre steife Haltung, als würde sie jeden Moment losspringen, und die Distanzlosigkeit, mit der sich ihr Gesicht dem meinen näherte, um an mir zu riechen; eine Erinnerung, die mich noch heute vor Ekel erschaudern lässt. Ich fühlte mich wie eine Maus, die nicht mehr ist als das Spielzeug einer Katze. Es war eine schlimme Zeit für mich, denn ich war mir meiner Angst bewusst geworden und fühlte sie von nun an in jedem Moment meines Lebens. Zum Glück hatte ich Markus, meinen Verbündeten gegen meine Schwester. Auch er hatte ihr Hexengesicht gesehen. Das mag der einzige Grund sein, dass ich damals nicht verrückt geworden bin.
Meine Schwester aber hatte das erkannt und sie nutzte es, um meine Welt noch stärker zu bedrohen. Sie begann Markus zu schmeicheln und ihm Spitznamen zu geben, mit ihm zu lachen und ihr Hexengesicht vor ihm zu verbergen. Es war nur natürlich, dass Markus glauben wollte, dass er sich in ihr geirrt hatte; wer möchte schon von einer Bedrohung wissen, die er nicht abwenden kann? Ich versuchte verzweifelt, ihn von der Täuschung zu lösen, erzählte, dass sie ihn, wenn wir allein waren, Hänsel nannte und sich über die Lippen leckte. Aber es war zu spät. Markus vertraute ihr.
Einen Moment hatte es gegeben, in dem ich noch hätte hoffen können, ihn wieder auf meine Seite zu ziehen. Sie müssen wissen, Markus hatte damals einen Hund gehabt, ein kuscheliges, unschuldiges, kleines Ding; so vertrauensvoll, nie biss oder knurrte er. Eines Tages verschwand der Hund. Es war derselbe Tag, an dem meine Schwester das erste Mal kochte; einen großen Topf Gulasch, mit großen, saftigen Fleischstücken, die sie von ihrem eigenen Taschengeld gekauft haben wollte.«
Der Mann verzog sein Gesicht; nur ein wenig. »Ich hatte doch nicht gewusst, dass Markus' Hund verschwunden war! Wie hätte ich ihm später sagen sollen, dass ich glaubte, seinen Hund gegessen zu haben?« Der Fremde atmete tief durch und beruhigte sich wieder. Seine Stimme erlangte ihre unbeteiligte Ruhe zurück. »Jedenfalls hatte ich danach nichts mehr mit Markus zu tun. Wir gingen zwar noch zusammen zur Schule, sprachen aber nicht mehr miteinander. Überhaupt schien er immer nur darauf zu warten, zu jener Stelle zu kommen und meine Schwester zu sehen. Markus stürzte – wenn ich mich richtig erinnere –«, der Fremde runzelte kurz seine Stirn, »kurz bevor er zehn Jahre alt wurde, aus einem Schulfenster und starb. Meine Schwester erzählte, er wäre beim Klettern abgerutscht. Ein Unfall, keine gegenteiligen Beweise, keine anderen Augenzeugen als meine Schwester. Die Polizei stellte fest, dass ein Hund oder ein anderes Tier Teile seines Körpers weggebracht haben musste, aber ich konnte nur daran denken, dass sie ihn Hänsel genannt hatte. Seit diesem Moment habe ich nichts mehr gegessen, was meine Schwester gekocht hat.«
Seine Geschichte widerte mich an. Gewalt gegen Kinder, durch Kinder und das alles an Weihnachten, hämmerte es in meinem Kopf. Seine Worte, die er mit soviel Teilnahmslosigkeit, mit soviel Abstand ausgesprochen hatte, erschienen mir unwirklich, konstruiert und falsch. Ich hätte meinem Instinkt vertrauen und den Mann rauswerfen sollen, als ich ihn das erste Mal sah. Wenn ich meiner Tochter und meinem Sohn, meiner Verlobten und ihrer Familie nicht den Abend versauen wollte, würde ich die Geschichte in den dunkleren Bereichen meines Geistes vergraben müssen.
Ich massierte meine Schläfen und sah den Mann gereizt an. »Sie sagen selbst, es gab keine Beweise. Sie selbst haben nichts gesehen und sonst auch niemand. Vielleicht ist Ihre Schwester eine gefährliche Irre – so denn Ihr Verdacht überhaupt stimmt –, aber ich kann nicht – wie viele, 30? – Jahre später, ein Ermittlungsverfahren eröffnen, nur weil Sie mir eine Geschichte erzählen! Ich würde Sie daher bitten, jetzt zu gehen.« Ich blickte auf meine Uhr. »Es ist fast 16 Uhr und ich muss noch Verwandte abholen.« Ich stand auf und deutete so freundlich, wie es mir möglich war, auf die Tür.
Der Fremde erhob sich ebenfalls und nickte ebenso freundlich. »Oh, natürlich, ich habe kein Verfahren erwartet, ich möchte nur, dass Sie diese Geschichte berücksichtigen.« Er sah mich ernst an. »Bitte überlegen Sie sich, ob Sie meine Schwester wirklich heiraten wollen. Denken Sie an Ihre Kinder.« Dann lächelte der Fremde das erste Mal. »Und bitte, Sie müssen sich nicht beeilen. Meine Eltern sind auch schon hier. Sie sitzen gegenüber in dem kleinen Café und warten, so lange es nötig ist.«