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Es lässt nie los...
Er würde sich bestimmt nicht mehr lange wohlfühlen. Ruby schob mit den Fingern ihrer Linken die Brille zurecht. Sie saß etwas quer auf ihrer Nase und war an den Innengläsern leicht beschlagen. Das war gut, denn so konnte Kemp nicht sehen, dass ein oder zwei Tränen flossen.
Kemp Tyshinski saß am Esstisch und kaute auf seinem Rinderbraten. Er hatte sich gerade darüber ausgelassen, dass das Fleisch zäh und fade schmeckte und dass er, wer weiß wieviel, besser dran wäre, wenn Ruby endlich die Güte besäße, bei gutem Wind das Zeitliche zu segnen.
Ruby schnaubte. Leise, fast unhörbar. Sie drehte ihren Kopf zur Seite. Ihr Blick fiel auf die Doppelläufige, die in der Vitrine hing. Ausstaffiert und glänzend, weil Kemp sie hegte und pflegte, als wäre sie sein Kind.
Ruby ging auf den Glaskasten zu. Als sie das Gewehr anfasste, es aus der Verankerung nahm, war sie nicht Herr über sich selbst. Sie war ein Beobachter. Ruby wusste, dass das Gewehr immer geladen war. Kemp prahlte oft damit, jederzeit jeden abknallen zu können.
Jetzt würde die Waffe zu seinem eigenen Totengräber. Alles, was die «Gute Trudy» heute abknallen würde, wäre ihr eigener Daddy. Kemp. Und den Abzug würde Ruby ziehen. Es wäre wie ein Schrei. Wie das Ausatmen, nachdem sie für Jahre die Luft angehalten hatte.
Ein Knall. Kein Schrei. Nur ein dumpfes Pocheh. Das Klirren einer Gabel, die zu Boden fällt. Ein feuchtes Gurgeln.
Ruby starrte aus dem Fenster. Das Gesicht dieser Person kannte sie nicht. Es kam ihr bekannt vor, fast vertraut. Aber sie war sich sicher, den Fremden in Schwarz noch nie gesehen zu haben. Ein Vertreter vielleicht, womöglich ein Cowboy, der auf der Interstate mit dem Wagen hängen geblieben war.
Nachdem der Mann über die Verandatreppe hochgestiegen war, klopfte es an der Tür.
«Ma´am!»
Ruby ging nicht davon aus, dass es jemand von der Polizei war. Niemand hatte Verdacht geschöpft. Zu keinem Zeitpunkt.
«Ma´am!»
Sie trat einen Schritt vom Fenster weg und wandte sich zur Tür.
«Wer ist da?», krächzte Ruby und zog eine graue Strähne aus dem Gesicht.
«Ich suche etwas zu essen, Ma´am.»
«Die Interstate runter ist ein Motel. Mit einem Diner. Keine fünf Meilen südlich.»
«Ich habe kein Auto. Und ich will kein Diner.»
«Hören Sie, Mister. Ich…ich kann ihnen leider nicht helfen. Bitte gehen sie wieder.»
«Ich suche etwas zu essen, Ma´am.»
Ruby öffnete die Tür. Es war mühsam, sich mit einem Gesichtslosen zu unterhalten.
«Wirklich Mister. Ich habe nichts zu essen zu Hause. Ich…heute…ich war noch nicht einkaufen…verstehen sie?», sagte Ruby. Sie versuchte, sich unauffällig die wenigen Tropfen Schweiß aus dem Gesicht zu wischen.
«Ma´am, ich habe nicht gesagt, dass ich essen möchte.»
Der Fremde in Schwarz setzte sich seinen Hut aufs Haupt. Er nahm ihn von der Kommode, die neben der Eingangstür stand, zurück. Dann verließ er das Haus, ohne sich noch einmal umzusehen. Ohne einen Blick auf Ruby zu werfen. Ruby, die leblos über einem Teller mit gekochtem Fleisch lag. Erstickt an etwas, das wie ein menschlicher Fuß aussah und der noch aus ihrem halb offenen Mund herausragte. Es roch nach Verwesung. Und nach gekochtem totem Fleisch.
Einige Zeit zuvor befand sich Ruby in ihrem Garten. Sie kniete. Und sie bearbeitete mit einer Schaufel den lockeren Boden des Blumenbeets. Sie hob das Grab Kemps aus, denn irgendwo hier hatte sie ihn verscharrt. Nachdem sie ihm mit der Doppelläufigen die Hälfte seines Gesichts weggepustet hatte. Dieselbe Waffe, mit der Ruby jetzt ihrerseits bedroht wurde.
Der Fremde mit dem Gesicht, das sie nicht kannte, das ihr aber so seltsam vertraut war, war zielstrebig auf die Truhe zugegangen, in der Ruby das Gewehr versteckt hatte. Sofort hatte er das Gewehr in seiner Hand auf Ruby gerichtet und darauf bestanden, dass diese ihm das Grab ihres Mannes zeigte.
Der Fremde reagierte überhaupt nicht auf Rubys Beteuerungen, dass dieser sich mit einer Geliebten in den Süden abgesetzt hätte. Er wusste, was Kemp tatsächlich zugestoßen war. Und er bestand darauf, dass Ruby dessen Grab öffnete.
Das wenige Fleisch, das noch an den Knochen haftete, war ledrig und trocken. Und es stank erbärmlich nach Fäulnis. Aber der Fremde zwang Ruby, es vom bleichen Gebein zu lösen. Es zu kochen. Den Fuß musste sie komplett ins siedende Wasser schmeißen. Sie würgte und rülpste, als das stinkende Fleisch langsam den Anschein machte, halbwegs gar zu werden.
Wimmernd und flehend versicherte Ruby, Kemp wäre ein Tyrann gewesen. Sie wäre keine abgefeimte, eiskalte Killerin. Der Fremde starrte durch die Frau hindurch. Setzte sein schiefstes Lächeln auf. Und entsicherte das Gewehr. Er zwang Ruby, das gekochte Fleisch des Toten zu essen. Sie begann zu weinen, stammelte Worte der Entschuldigung, ging auf ihre Knie. Der Fremde zog Luft durch seine Zähne. Er sah Ruby an, als wäre sie eine Fliege auf seinem schwarzen Jackett, die es zu zerquetschen galt.
Nur wenig später hing ihr Kopf blau angelaufen im Teller. Die Augen weit aufgerissen, ein Fuß aus dem Mund ragend. Der Fremde hatte einen Abschiedsgruß hinterlassen. Eine Karte. Sie war leer, abgesehen von einem darauf gekritzelten Namen: Arndt Tyshinski.