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Es kommt nie wieder vor
Ich warte und warte. Stunde um Stunde. Bei jedem sich nähernden Auto habe ich die Hoffnung, er könnte es sein. Angestrengt starre ich aus dem Fenster. Wir haben schon vor über einer Stunde zu Abend gegessen. Sein Teller und das Besteck bleiben unberührt. Wieder einmal! Ich höre das
Klappern von Geschirr. Meine Mutter deckt den Tisch wieder ab und schaltet den Herd aus; das Essen längst verkocht und ungenießbar. Stundenlang hat sie in der Küche gestanden, sich so viel Mühe gemacht. Schweinebraten mit Rotkraut und hausgemachte Kartoffelklösse, die er so gerne mag.
Noch zwei Stunden später ...
Mir fallen vor Müdigkeit fast die Augen zu, aber ich muss warten. Wieder einmal! „Kind, geh endlich zu Bett, er kommt nicht mehr“ , höre ich sie mit resigniertem Tonfall sagen. Ich sehe in ihr trauriges Gesicht und mein Herz ist schwer. Mir ist klar, in welchem Zustand er später erscheinen würde. Wir wußten es beide. Wenn er um eine gewisse Uhrzeit noch nicht zuhause war, kam er nicht mehr nüchtern. Es war immer so.
„Ich trinke nie wieder. Es kommt nie wieder vor, ich verspreche es!“
Noch vor wenigen Tagen hatte er es doch versprochen; fest versprochen. Geglaubt habe ich es nicht. Zu oft hat er dieses Versprechen schon gebrochen. Meine Mutter klammert sich immer noch verzweifelt an die Hoffnung, dass er sich ändern wird. Wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm.
Ich habe diese Hoffnung längst aufgegeben. In den ganzen letzten Jahren war es immer so gewesen. Ich kenne es gar nicht anders. Solange ich zurückdenken kann, war es so. Was soll sich daran noch ändern?
Ich lade selten Freundinnen ein. Ich habe Angst, sie lernen meinen Vater kennen, wenn er nicht nüchtern ist. Ich habe noch nie mit einer Freundin darüber geredet, auch nicht mit Britta, meiner besten Freundin. Mit niemandem ... ich schäme mich. Britta hat es gut, denke ich. Ihr Vater kehrt jeden Tag pünktlich aus seinem Büro zurück. Immer wenn ich bei ihr zu Besuch bin, taucht ihr Vater pünktlich gegen 17 Uhr auf. Jeden Tag! Am Anfang war ich darüber ganz verwundert. Ich bin so etwas nicht gewohnt. Mein Vater kommt zu den unterschiedlichsten Zeiten heim, selten vor 19 Uhr und oft erst spät in der Nacht. Und dann auch noch in einem Zustand, den man kaum beschreiben und noch weniger ertragen kann. Warum kann mein Vater nicht so sein wie Brittas Vater? Ich möchte auch so einen Vater haben. Einen, auf den ich mich verlassen kann. Der da ist, wenn man ihn braucht. Einen Vater der hält, was er verspricht.
Dabei war der Tag erst so schön. In Mathe habe ich bei der Klassenarbeit eine zwei geschrieben. Eine starke Leistung, meinte der Lehrer. Mathe ist nicht gerade meine Stärke. Ich habe wie verrückt gebüffelt und bin so stolz auf das Ergebnis meiner Arbeit. Ich hätte meinem Vater so gerne das Heft mit der Randnotiz, den lobenden Vermerk meines Klassenlehrers gezeigt.
Meine Leistungen in der Schule sind nicht besonders gut. Ich kann mich oft nicht konzentrieren, weil ich zu müde bin. Weil ich oft zu lange auf meinen Vater warten muss. Ich höre meine Mutter leise weinen und ich weiß nicht, wie ich sie trösten soll. Sie weint oft wegen meinem Vater. Ich nehme ihm das übel, es macht mich traurig und wütend.
Etwas später ...
Ich liege zusammengekauert im Bett und kann nicht schlafen. Wann wird er endlich kommen? Wie lange muss ich noch warten? Ich weiß, sie werden sich wieder streiten, so wie sie es immer tun. Ich habe Angst, dass einmal etwas Schlimmes passieren wird. Meine Mutter spricht manchmal wüste Drohungen aus und beschimpft ihn, wenn er lallend und torkelnd auftaucht.
Früher war es anders. Sie wollte ihm immer helfen und ihn verstehen. Sie hat es im Guten versucht, ihm gut zugeredet. Es hat alles nichts gebracht. Sie hat nach Gründen gesucht, warum er trinkt. Mittlerweile wird sie von ihrem Zorn und der immer größer werdenden Enttäuschung beherrscht. Angespannt lausche ich auf die Geräusche von nebenan. Meine Mutter schläft auch noch nicht, obwohl es längst nach Mitternacht ist. Ich stehe wieder auf, um nach ihr zu sehen. Ich sehe Medikamente auf dem Tisch liegen. Neuerdings nimmt sie Beruhigungsmittel. Meine Angst wächst. Ich fühle mich so hilflos. Sie sitzt teilnahmslos da, ein wenig umnebelt von ihren Pillen und raucht eine Zigarette nach der anderen. Sie regt sich noch nicht einmal darüber auf, dass ich um diese Zeit noch gar nicht schlafe. Die Zeiger der Uhr rücken erbarmungslos vor. Kurz nach ein Uhr hören wir ihn an der Wohnungstür, wie er sich am Schloß zu schaffen macht. Meine Mutter muss ihm öffnen, weil er zu betrunken ist, um selbst aufzusperren. Er findet mit seinem Schlüssel das Schloß nicht. Mit unsicheren Schritten wankt er in den Raum und ich sehe sein - vom Alkohol - entstelltes Gesicht. Ich hasse es, ihn so zu sehen. Er lässt sich auf den nächsten Stuhl fallen und kippt fast vornüber. Er schlägt die Hände vors Gesicht und faselt unverständliches Zeug. Dann greift er nach der Schachtel und steckt sich eine Zigarette an. Zwischen den Zügen fuchtelt er unkontrolliert mit dem Glimmstengel herum. Eines Tages wird er noch die Bude in Brand stecken, denke ich und entdecke auf seinem Anzug und am Hemdkragen kleine Brandlöcher. Keine Seltenheit! Blutunterlaufene, blaue Flecken “zieren“ seine Stirn, eine Wange und den rechten Handrücken. Keine Seltenheit! Bestimmt hatte er wieder einmal nicht ganz die Kurve gekriegt und war irgendwo voll dagegen geschrammt. So wie er auch schon öfter mal in der Wohnung gegen ein Möbelstück geknallt und einfach umgefallen war. Eines Tages würde er sich bei seinen Alkoholexzessen noch das Hirn einrennen.
Mitten in der Nacht drängt ihm meine Mutter ein Gespräch auf, obwohl er gar nicht mehr in der Lage ist, ihr zu folgen und sich am nächsten Tag wohl auch kaum daran erinnern kann. Das tut sie jedes Mal. Und ich sitze jedes Mal dabei. Sie schicken mich auch nicht ins Bett. Ich sitze einfach still dabei. Sie führen immer die gleichen, sinnlosen Gespräche. Ich weiß schon auswendig, was sie zu ihm sagen- und was er ihr antworten wird. So als würde man bei einem CD-Player ständig die Repeat-Taste drücken und immer das gleiche Stück hören. Ewig das gleiche Lied, das gleiche Genöle. Alles so sinnlos! Wie üblich hagelt es von meiner Mutter wieder Vorwürfe und wie üblich fängt mein Vater im Suff zu weinen an. Auch das bleibt mir nie erspart.
„Ich bin ja so ein armer Kerl“ , jammert er , „niemand hält zu mir.“
Ich kenne diese Sprüche schon. Sie beeindrucken mich nicht mehr. Vor ein paar Jahren ... als ich noch ganz klein war, hat mich der Anblick entsetzt. Meinen Vater weinen zu sehen, hat mich ganz furchtbar erschreckt. Ich konnte es gar nicht verstehen. Unfassbar! Voller Mitleid bin ich dann zu ihm gelaufen, habe mich auf seinen Schoß gesetzt und meine Arme um seinen Hals gelegt; ihn getröstet. Während mich eine fürchterliche Alkoholfahne umwehte, hat er mir über den Kopf gestreichelt und gesagt:
„Du bist meine Allerliebste.“
Mit der Zeit haben sich meine Gefühle verändert. Manchmal wünsche ich mir, er käme nie wieder. Ich bin entsetzt über meine eigenen Gedanken. Ich schäme mich dafür, dass mein Mitleid einem Gefühl der Verachtung gewichen ist. Wie ein Häufchen Elend sitzt er da, in sich zusammengesunken, ohne Kontrolle über sich und seinen Körper. Ich empfinde Ekel. Mit dümmlichen Gesichtsausdruck stiert er vor sich hin. Er sieht sich gar nicht mehr ähnlich, wenn er getrunken hat. Meine Mutter hält krampfhaft an dem Glauben fest, dass er sich doch noch ändert und die Trinkerei lässt. Es ist mir völlig schleierhaft, woher sie diesen Glauben nimmt. Vielleicht weil er bei ihren - sich ständig wiederholenden - gleichen Vorwürfen, auch immer artig die gleiche sinnlose Entschuldigung stammelt.
„Es kommt nie wieder vor, ich verspreche es!“
Ich kann es nicht mehr hören. Ach, wenn ich doch nur einfach in mein Bett gehen könnte. Ich möchte gar nichts davon sehen oder hören. Seit meine Mutter einmal gesagt hat, dass sie ihm eines Tages ein Messer in den Bauch rennen würde, getraue ich mich das nicht mehr. Immer habe ich Angst, die Situation könne eskalieren. Ich muss dableiben und aufpassen.
Wenn mein Vater nüchtern ist, ist er ein ganz anderer Mensch. Kein Jammerlappen. Er würde auch niemals weinen, wenn er nüchtern ist. Wenn ich nur wüßte, warum er trinkt. Ich habe mir schon die tollsten Sachen ausgemalt ... warum und wieso. Ich finde keine Erklärung. Eigentlich hat er keinen Grund zu trinken. Er gehört nicht zu den üblichen Pennern, die schon morgens am Kiosk ihren Schnaps - statt Kaffee - zum Frühstück trinken. Ganz im Gegenteil. Morgens geht er (Dank meiner Mutter) noch "schnieke" zur Arbeit. Mein Vater ist ein intelligenter Mann und hat eine leitende Stellung in einem großen Unternehmen. Er hat Erfolg im Beruf, auch keine finanziellen Sorgen. Meine Mutter ist eine hübsche, liebe Frau und er sagt auch immer, wie sehr er sie (uns) liebt. Man kann prima mit ihm auskommen, wenn er nüchtern ist. Leider betrinkt er sich mit schöner Regelmäßigkeit. Ich habe schon so oft geweint und gebettelt:
„Bitte Papa, hör doch auf zu trinken.“ Beruhigend streichelt er mir dann jedes Mal über den Kopf.
„Es kommt nie wieder vor, ich verspreche es, mein Kind!“
Ich fürchte mich immer vor dem nächsten Mal. Mit seiner Trinkerei macht er alles kaputt. Helfen lassen will er sich nicht. Meine Mutter möchte, dass er eine Therapie macht. Er weigert sich.
„Ich bin kein Alkoholiker. Ich habe alles unter Kontrolle. Ich kann jederzeit damit aufhören“, verteidigt er sich vehement, und mit beleidigtem Gesichtsausdruck, wenn man ihn (im nüchternen Zustand) darauf anspricht.
Endlich gehen sie schlafen. Naja, sie geht ... er torkelt ins Bett. Die Uhr zeigt fast zwei. Ich krieche in mein Bett und denke nach. Mein Vater hat nichts unter Kontrolle! Obwohl er kaum noch stehen kann, fährt er betrunken mit dem Auto. Es wird einmal ein böses Ende nehmen. Ich mache mir solche Sorgen. Ich kann nichts tun, ich bin doch noch ein Kind. Ich zittere am ganzen Körper. Angst schnürt mir die Kehle zu und nimmt mir fast die Luft zum Atmen.