Es hätte schlechter kommen können
Es hätte schlechter kommen können
"Eine oder zwei?"
"Scheiße, das ist Scheiße! Was für eine Scheißfrage!" platzte es an jenem Morgen aus ihm heraus; rein in die verruchte, verrauchte, stinkende und erbärmliche Wohnküche. Weiterungen seiner Flucherei verschluckte er; spülte seine Wut mit einer Ladung Milch herunter.
"Mußt du denn immer aus der Flasche trinken?" - sie!
Das gab ihm an dem Morgen den Rest. Und gleich fühlte er auch diese zornige Ohnmacht, diese rasenden Krämpfe; das gesamte Sein schmerzte seinen Leib. Und dann schmeckte er wieder die dünnflüssig beißende Kotze im Hals.
Ja, er erlitt mehr als er dulden konnte, und jetzt noch ihre Hand auf seinem Schädel. Mein Gott!
"Beruhige dich, Junge. Beruhige dich!" Und er öffnete mühsam wieder die eine Faust - dann die andere, und friedete seine Gereiztheit ein, atmete tief und entspannend - sich ruhig. Dann ruckte er aus dem Off ins Jetzt, und bat mit quietschiger Stimme: "Eine Schrippe nur, wie immer Mutter..."
Dann der nächste Rückblick: Sie beide saßen sich gegenüber. Er eine Schrippe vor sich auf dem Teller. Seine Mutter, mit ihrem nicht mehr richtig sitzenden Gebiß, dem verformten Kiefer, sah ihn schrippig fahl an. Und er konnte nicht anders. "Schrippengesicht!" musste er flüstern. Und er wusste nicht warum; konnte auch später vor Gericht den Grund dafür nicht nennen. Er sagte es zunächst leise, setzte nochmals an: "Schrippen..." Das wusste er noch. Und er wusste auch was kommen würde. Da, die schiefe Schnauze biß zu. Die krachte sich mit den schlechtsitzenden Zähnen ins mehlig bräunlich krosse Bäckerbrötchen. Krümel stoben. Schrippenfunken sausten ihm in die Visage und setzten sich blondbackig in seinem dunkelwolligen Pullover fest; eine gewünschte Provokation - vielleicht? Und das Knuspern geiferte und steigerte sich weiterhin. Grell klang es in seinen Ohren und ließ die nervigen Überschallwellen in seine Ohrschnecken hineintaumeln. Und die rasteten nicht, die besetzten dort drinnen den Steigbügel, den Ohrhammer; ein Krach, der alles zum Übertönen brachten. Einer Körperverletzung, einer Tötung gleich, die in ihm weiter kreischte, tobte. Bis rein in die Kaldaune, tiefer noch, bis ran ans Arschloch. Und erst dort raus ...!
Der nächste Einschlag der Zahnreihe ins Brötchen vergewaltigte neu seine Nerven. Unerträglich war es. Und in der folgenden Sequenz der Schluck- und Kaulärmung verlor er die Fassung. Ja - er fühlte rasenden Widerstand in sich; er ließ 'Gut-Böse' und dann 'Mord-Gelüste' in seiner malträtierten Seele wachsen. Ach was - wachsen: er liess die nicht wachsen, die waren schon längst da! Und als er glaubte er hielte das alles nicht mehr aus, die Tonne Leid liefe über, da wechselten die Mißhandlungen ihre Tonart. Anfangs glaubte er -von weither- Quellgemurmel zu hören, bis sich, zu seinem Entsetzen, die altbekannten gurgelnden Trinkgeräusche in seine Seele bohrten. Die Mutter ließ einen halben Liter Milch in einem Schluck im Schrippenrachen vergluckern. Und bevor sie diese Unmenge wegschluckte, durchschwemmte sie mit sattem Gurgelton ihre Zahnprothese damit, um sich letzte Restteige der Freßorgie aus dem Maul zu spülen. Dies Zeugs zur Verdauung dem Darm zuzuführen, um dann, anschließend, wohlgetan mit einem satten kehlkopfigen Aufstoßen der Magenübersäuerung vorzubeugen.
Und damit aus, vorbei; und sie vertönte - im nächsten Moment schon tot - mit einer kräftigen Blähung.
Klaus sah sich dabei im entscheidenden Moment, sah sich entschlossen die, vom vortägigen Besuch einer 'alten Bekannten' Ernas, stehengebliebene Kaffekanne greifen;
'Alte Bekannte', ein Lieblingswort für jedweden Besuch. Scheiße; und hatte sie die Kanne nicht in absichtlicher Vergeßlichkeit auf dem unsäglich häßlichen Küchentisch stehen gelassen?
Egal, er packte die Kanne am Henkel, - und wollte das Porzellan in Wahrheit zum Spülstein tragen - , wippte sich stattdessen leicht in deren Physik, balancierte sich aus, erhob leicht seine Rückseite vom Hocker, zwanghaft beeinflusst von einem Befehl der von sonstwoher kam, - verkürzte, fast vollends erhoben, den Abstand zum Schrippengesicht, legte den linken Arm zur Stütze auf das Tischholz und schlug das Teil dann, locker aus dem Handgelenk, gegen ihre Stirn.
Der Schlag verursachte nur ein mässig-trocken-brechendes Geräusch. Nichteinmal so laut, als wenn ein dürrer Zweig bricht. Nein, mehr wie ungebärdiger Funkenschlag im Kamin, der bruchteilschnell hell aufloht, sich dann demütig und leicht zischelnd ins Nichts verlief.
Es verfolgte ihn noch heute: ein leichtes Aufstöhnen, schlafseufzergleich, ein knarrzendes Stuhlschieben, das dumpfe Wegsacken - fallen eines Leichtgewichts; des Schädels hohltöniger Aufschlag auf den Fliesenboden, und dann unheimlicher Frieden. Köstliche atemlose Zeit der Stille. Minutenlang, Stundenlang, Jahre - sein weiteres Leben lang - !Nichts!
Nun sah er seinen Körper in die gerade Höhe gleiten. Beide Arme hatte er tatenschwer und abgearbeitet auf den Küchentisch gestützt, sah verwaschenen Blickes auf die Mutter. Hatte er Tränen in den Augen? Nein, nichts. Etwas anderes wars: ihr Sterben hatte sie vom 'Schrippengesicht' befreit, das erstaunte ihn.
Und im Voranschreiten des Traumes drückte er ihr die Augen zu, und befand sie im Tod in einer eigenwilligen Art Attraktivität für begehrenswert; - so wie man eine Schwangere für schön begreift.
Mit diesen Gedanken gab er ihr die Würde zurück, glaubte er; und sie verließen den Raum, desertierten der realen Zeit. Jeder wohin er musste.
©2003 michy