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Es gibt keine Zeitmaschine
Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig ...
Ich muss ruhig bleiben, Sekunden zählen …
Vierundzwanzig, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig …
Sekunden! Als hätten sie eine Bedeutung …
siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig.
Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, alles egal. Ich muss nur ruhig bleiben.
Viel wurde über Zeitmanipulation und Zeitreisen spekuliert. Vieles geschrieben, gelesen, erzählt. Das ist alles Unsinn!
Das weiß ich wohl so gut wie nur wenige andere; nichts anderes hat meine Forschungen in den letzten Monaten angetrieben als meine Gier nach Erkenntnis, die Zeit betreffend. Etwas zu finden, was andere übersehen haben. Alle greifbaren Ideen aus Wissenschaft und Sciencefiction habe ich genommen und mit Hilfe meiner alten Freundin, der Mathematik, objektiv untersucht. Selbstverständlich habe ich versucht, Sponsoren zu finden. Und sei es nur etwas Rechenzeit auf einem Supercomputer irgendeiner Uni. Ebenso selbstverständlich ohne Erfolg.
„Keine praktische Bedeutung“, hieß es. „Hirngespinste“ und „Träumereien“ wurden meine Ideen genannt. Und natürlich, dass ich „von Physik nichts verstehe". Ich muss zugeben, tatsächlich kein Physiker zu sein. Ich habe einige Jahre Biologie studiert, dazu Philosophie, Soziologie, ein wenig Mathematik und auch Physik. Einen Abschluss habe ich nie gemacht. Vielmehr habe ich gelernt, was ich wissen wollte und mich dann wieder um meine eigene Forschung gekümmert.
So führte ich also, allein mit der Mathematik und meinem Verstand bewaffnet, den Kampf mit dem Wesen der Zeit. Ein bescheidenes Einkommen aus wechselnden Jobs hielt mich dabei über Wasser und ermöglichte kleinere Investitionen. Wenn ich erst ein tragfähiges Konzept hätte, so dachte ich, würde sich schon ein Sponsor für den Bau meiner Zeitmaschine finden.
Zunächst entwarf ich drei Kategorien. Dann kamen die Theorien auf den Prüfstand, um sie einzusortieren.
Unmöglich:
• Die Erzeugung eines kleinen Blasenuniversums mit entgegengesetztem Zeitlauf wäre denkbar. Man bräuchte leeren Raum, starke Laser und ein paar Gramm Masse. Aber der Wechsel in dieses Universum oder auch nur ein bloßer Informationsaustausch wäre nicht möglich. Man wüsste noch nicht einmal, ob die Erzeugung des Universums geglückt wäre.
• Superluminares Tunneln ist eine nette Idee, um die Notwendigkeit exotischer Materie zu umgehen. Dafür gilt sie maximal für Photonen und nur in winzigstem Maßstab.
• Und mit Tachyonen müssen wir gar nicht erst anfangen.
Denkbar, aber weit entfernt von unseren Möglichkeiten:
• Ein Wurmloch durch exotische Materie mit negativer Energiedichte offenzuhalten ist eine nette Idee, die funktionieren könnte. Sie scheitert aber daran, dass eine solche exotische Materie wahrscheinlich nicht existiert.
• Ein Wurmloch mit Gauss-Bonnet-Dilation braucht ein Universum mit mindestens vier Raumdimensionen, worauf wir - noch - keinen Zugriff haben.
• Eine Reise um ein schnell rotierendes schwarzes Loch ist indiskutabel, haben wir doch noch immer keinen ernsthaften Schritt über den Erdorbit hinaus gemacht.
• Eine Reise durch Gödels rotierendes Universum verbietet sich aus demselben Grund.
Möglich:
• Leider konnte ich keine Möglichkeit finden.
Das war absehbar. Auch wenn ich etwas anderes erhofft hatte.
All diese Beschäftigung mit der Zeit und ihrer Manipulation diente dazu, meinem Unterbewusstsein das Thema und Futter an die Hand zu geben. Warum soll etwas, das in der Kunst funktioniert, nicht auch in der Wissenschaft seinen Platz finden. Zu dem Zweck las ich sogar Literatur über unerklärliche Phänomene wie das Bermudadreieck, spontane Zeitsprünge und ähnlich verrücktes Zeug.
Geschichten über einen schmächtigen, blonden Jungen, der in Miami im Frühling 1962 für über eine Stunde regungslos eine Stelle in der Luft anstarrte und dann mit einem Knall einfach verschwand. Nichts wurde gefunden, weder seine grüne Sommerjacke oder irgendetwas anderes. Einwohner der Umgebung sagten aus, sie hätten ihn hier und da als Schemen gesehen, als verwischte Erscheinung.
Eine Geschichte über eine Frau aus Ljubljana, die 2003 behauptete, von einem Ufo entführt worden zu sein und zwei Wochen im 18. Jahrhundert verbracht zu haben. Über einen Piloten, der 1953 mit seinem klapprigen Propeller-Zweisitzer auf dem Flug von Havanna nach Freeport eine grün leuchtende Wolke durchquerte und sich drei Stunden vor der geplanten Ankunftszeit in der Nähe seines Zieles wiederfand. Solche Geschichten las ich.
Dazu sogenannte grenzwissenschaftliche Abhandlungen zu verschiedenen Ideen. Zum Beispiel dazu, dass die bekannten Geisteraufnahmen in Wirklichkeit Fotografien von Menschen sind, die sich zu schnell bewegten, um gesehen zu werden. Die aber versuchten, stillzuhalten, bis die Kamera das Bild aufgenommen hatte. Offensichtlich gelang es nur leidlich, so dass die Bilder trotzdem verschwommen und unklar waren.
Oder Artikel über die Möglichkeit, dass Menschen aus dem Jenseits mit uns Kontakt aufnehmen könnten, wenn wir nur schnell genug hinsähen. Angeblich könnten Seelen oder Geister für winzige Bruchteile einer Sekunde in unserer Welt in Erscheinung treten. Gerade lang genug, um bei jemandem, der zufällig hinsieht, das Gefühl zu hinterlassen, dass da doch eben noch etwas war.
Und so kam ich irgendwann tatsächlich auf einen unerwarteten Gedanken. In Berichten von Nahtoderlebnissen und OBEs wird immer wieder beschrieben, wie sehr sich die erlebte Zeit von der physikalischen unterscheidet. Jeder kennt es aus seinen Träumen: Es vergehen Stunden und Tage im Traum; wenn man hochschreckt, sind es aber grade ein paar Minuten gewesen.
Wie ich jetzt weiß, ist das Bewusstsein nicht so sehr an die Gehirnfunktion gekoppelt, wie man bislang annahm. Es existiert vielmehr metaphysisch und das Gehirn setzt im Hypothalamus, dem Mandelkern, lediglich seine Befehle in Biochemie um.
Klingt nach Spinnerei? Sagen wir, es ist unorthodox. Aber dennoch bin ich mir in dieser Sache ziemlich sicher. Nicht zuletzt, weil ich es ausprobiert habe. Besser gesagt: Gerade ausprobiere.
Wohlgemerkt: ich rede nicht davon, dass bei Langeweile die Zeit langsamer zu vergehen scheint. Ich rede von wirklicher kognitiver Zeitdehnung und -stauchung.
Ich habe mir ein überraschend einfaches Gerät, etwa halb so groß wie meine Handfläche, mit Heftstreifen an der Stelle am Kopf befestigt, wo die Wirbelsäule in den Schädel übergeht. Hier misst es die Gehirnströme in der Gegend des Hypothalamus. Diese werden zu höherer oder niedrigerer Frequenz moduliert und zurückgesendet. Im Grunde funktioniert es wie ein Schrittmacher für den Mandelkern. Denn allein er bestimmt, in welcher Geschwindigkeit unser Bewusstsein mit der Welt interagiert. Das Bewusstsein selbst ist unabhängig von der physikalischen Zeit.
Ein Studienfreund half mir, das Gerät mit dem Smartphone anzusteuern. Nun kann ich mit einem einfachen Schieberegler in einer App die Modulationsfrequenz beeinflussen und damit mein Bewusstsein beliebig beschleunigen oder bremsen.
Der erste praktische Test begann mehr oder weniger spontan, als ich auf den Bus wartete. Ich schob den Regler auf doppelte Geschwindigkeit und beobachtete, was geschah. Ich musste anfangs genau hinsehen, denn der Effekt war nicht so deutlich wie erwartet. Autos fuhren schneller um die Ecke, Wolken deuteten auffrischende Winde an. Die Uhr des Smartphones war deutlicher: Sie zeigte, wie die Sekunden verflogen. Einer der Fahrgäste sah mich misstrauisch an. Ahnte er etwas? Nein. Vermutlich hielt er mich für einen Junkie, weil ich mich auffällig langsam bewegte und dämlich in mich hinein grinste. Sollte er doch. Für mich war entscheidend, dass ich nur halb so lange auf den Bus warten musste. Und damit, dass mein Gerät und meine Theorie funktionieren.
Von da an benutzte ich das Gerät häufig und gerne. Wenn ich an meinen Theorien arbeitete, beschleunigte ich meinen Geist. Wartete ich auf etwas, bremste ich. Zugegeben, manchmal wurde ich kindisch und gab damit an oder wettete. So gewann ich fünfzig Euro durch die fehlerfreie Eingabe eines dreihundert Zeichen langen Textes innerhalb einer Minute. Und dabei hatte ich mich nicht einmal angestrengt. Oder ich fing Gegenstände, die sich eigentlich zu schnell oder unberechenbar bewegten. Das einzige Limit war die Geschwindigkeit meiner Muskeln, Sehnen und Nervenimpulse.
Und nun sitze ich hier im Bus auf dem Weg nach Hause. Es wird wohl die längste Busfahrt meines Lebens.
Ich spüre keinen Herzschlag, keine Atmung, nichts. Ich höre nichts, denn die Töne sind um Größenordnungen zu tief, um von meinem Bewusstsein interpretiert zu werden. Das heißt, eigentlich höre ich doch etwas: ein beständiges Rauschen und seit einiger Zeit mischen sich Sprachfetzen hinein. Vermutlich ist mein Geist mit der totalen Abwesenheit von Geräuschen überfordert. Sehen funktioniert glücklicherweise, nur bewegt sich nichts. Ich sehe vor allem Regentropfen hinter der Fensterscheibe, die in der Luft festgeklebt scheinen. Und ich sehe das Handydisplay mit der App, diese verdammte App. Ich hatte nicht daran gedacht, einen Mindestwert oder zumindest eine Sicherheitsabfrage einzubauen.
Der Bus bockte, als er durch ein Schlagloch, über einen Kantstein oder irgendetwas anderes fuhr. Selbst wenn es ein Passant war: der würde in diesem Augenblick vermutlich noch nicht einmal die Schmerzen spüren, weil die Nerven sie noch nicht weiterleiten konnten. Interessanter Gedanke. Jedenfalls ist mein Daumen dabei ganz nach links geruckt und hat den Regler bis ans Ende verschoben. Und hat damit die Beschleunigung auf Maximum gestellt.
Was das heißt? Gammawellen liegen normalerweise bei bis zu 100Hz. Im Manipulator habe ich eine Taktschaltung aus einem handelsüblichen PC verwendet, der mit bis zu 2GHz schwingt. Die Beschleunigung kann man nicht direkt umrechnen, weil verschiedene Interferenzen berücksichtigt werden müssen. Aber ich habe definitiv ein Problem, traue mich gar nicht, diesen Gedanken bis zum Ende zu denken.
Ich weiß nicht, wie lange das schon so geht. Das Zeitgefühl ist schwer zu erhalten, wenn es keine Bezugsgröße gibt. Was bedeutet die Bewegung eines Sekundenzeigers, wenn sie für jeden Schritt doppelt so lange braucht wie sonst – oder eintausend oder eine Million Mal.
Das einzige Maß für meine subjektive, persönliche Zeit ist, welche Gedanken ich fassen kann. Seit Beginn habe ich schon zwei meiner Lieblingsbücher im Gedanken durchgespielt, hatte eine Panikattacke erfolgreich niedergekämpft und Pi bis zur fünfundzwanzigsten Stelle berechnet. Nicht, weil ich so genial bin, sondern weil ich so verdammt viel Zeit habe. Falls ich mich nicht verrechnet habe, ist es eine Drei - oder eine Sieben. Ich kann natürlich nichts notieren und muss mich auf mein Gedächtnis verlassen.
Weil das langweilig wurde, habe ich angefangen, die Regentropfen in meinem Gesichtsfeld zu zählen. Erst beim vierten Versuch bin ich fertig geworden: 392 Tropfen schweben in der Luft, hätte mehr erwartet. Es ist schwierig, sich auf den Rand des Gesichtsfeldes zu konzentrieren, denn ich kann ja nicht einmal meine Augen bewegen. ...
... Die Zeit vergeht - nur für mich. Wie sehr ich mir das Ticken einer Uhr wünsche, irgendetwas um die verstrichene Zeit zu messen oder wenigstens zu spüren. ...
... Natürlich versuche ich, meinen Daumen wieder zurück zu schieben. Aber das ist schwieriger, als es klingt. Ich bilde mir ein, zu spüren, wie der Wille in meinem Gehirn allmählich ein Neuron feuern lässt. Das regt andere Neuronen an, ebenfalls zu feuern. Und vielleicht kommt dieses Signal irgendwann im Daumen an und bewegt ihn wieder nach rechts. Vielleicht aber auch nicht. Bislang konnte ich nicht mal die Bewegung eines Wassertropfens beobachten, es wird wohl noch dauern. Und um ehrlich zu sein: ich weiß ja nicht mal, ob mein Gehirn auf dieses extrem beschleunigte Bewusstsein reagiert. Ich versuche, die Angst, die dieser Gedanke in mir auslöst, zu kontrollieren. …
… Atmen! Ich muss atmen. Nicht schon wieder. Luft! Hilfe! Ich kann nicht rufen, bin ich unter Wasser? Nein, ich muss nicht atmen, brauche keine Luft. Ganz ruhig, bleib locker. Aber ... aber … nein, alles in Ordnung. Nicht in Ordnung, aber auch nicht lebensbedrohlich.
Die Panikanfälle werden seltener und schwächer, aber ganz aufgehört haben sie noch nicht. ...
… Ich bin quasi unsterblich. Aber auf der anderen Seite lebe ich auch nicht wirklich.
Der Gedanke, für ewige Zeit nur durch Gedanken zu leben, keinen Menschen anfassen zu können – überhaupt nichts spüren zu können – erfüllt mich mit Angst. Mit markzerfressender Angst, die meinen Geist zu vergiften droht. Ich muss sie kontrollieren. Es gibt nichts, wovor ich Angst haben müsste, nichts kann mir gefährlich werden. Und doch bin ich ein Mensch, und ich vermisse meine Mitmenschen. Ich wünschte, ich könnte weinen oder wenigstens schluchzen. ...
… Gefühlt ist ein Tag vergangen – oder zwei? Keine Ahnung, aber sehr viel Zeit. Zwei Fahrgäste sehe ich als Spiegelung in der Scheibe, auf der Straße sind trotz des Regens einige Menschen unterwegs. Obwohl ich mitten zwischen ihnen sitze, trennen uns Welten. Es ist scheußlich.
An meiner Aussicht hat sich nichts verändert. Obwohl - war der Tropfen dort nicht anfangs neben dem, der jetzt darüber schwebt? Schwer zu sagen, möglicherweise nur eine Wunschvorstellung. Ganz stehen geblieben kann die Zeit nicht sein, das ist mir klar. Und wenn ich nun eine Bewegung erkennen kann, dann komme ich vielleicht doch schon bald wieder hier heraus. …
… Ich bin der erstarrte Wille Gottes, der in der Ewigkeit alles zu tun imstande ist. Der seine Armeen aus dem leuchtenden Nichts befehligt. Ich sehe alles und strafe jeden. Menschen winden sich unter meinen …
… Woher kam das? Es waren meine Gedanken und doch nicht meine. Nicht durchdrehen, nur nicht durchdrehen. Durchatmen wäre gut. Ich bin ein ganz normaler Typ, der in einer schwierigen Situation gefangen ist. Immerhin bin ich mir mittlerweile sicher, dass sich die Regentropfen tatsächlich bewegen. Sehr langsam, aber immerhin. Allerdings scheinen sie nicht alle nach unten zu fallen.
Die Geisterstimmen haben sich entschlossen, sinnvolle Dinge zu flüstern, zu zischen und zu schreien. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nur Halluzinationen sind. Stimmen aus meiner Vergangenheit, entstanden aus meiner Erinnerung. Aber was sie sagen, ist so einleuchtend, so klar und überraschend …
... Ohmm, Ohmm. Keine Stimmen. Es ist alles ganz normal. Ohmm ...
... Das Display hat sich verändert, es ist im Laufe der letzten Stunden, Tage dunkler geworden. Eine Täuschung? Vielleicht eine Fluktuation in den OLED, die man sonst nicht wahrnimmt. Das wäre zumindest ein Hinweis darauf, dass diese Hölle irgendwann vorbei ist. ...
… Was kann helfen? Rechnen, natürlich. Vielleicht verschwinden dann auch die Stimmen.
Mal überlegen, die Wurzel einer sechsstelligen Zahl, das müsste gehen. Sagen wir 123456. Hmm, näherungsweise irgendwas zwischen 300 und 400. Nehmen wir 350, die zum Quadrat sind 122tausend und irgendwas. 122500. Verdammt, hätte ich doch nicht so oft den Taschenrechner benutzt. Also weiter, ich habe ja Zeit. 360 zum Quadrat …
... 351, yeah! Als nächstes - Moment, stand dort drüben nicht vorhin noch ein Junge? Ich bin mir sicher, erinnere mich genau an seinen schmächtigen Körperbau, hellblonde Haare, die seltsamerweise trocken aussahen und auffällig dunkle Augenbrauen. Eine unmoderne, grüne Sommerjacke und kurze Hosen. Nun ist er weg. ...
… So eine verfluchte Scheiße! Ich will schreien und kann es nicht! Ich will heulen und kann es nicht! Mir bleibt nichts weiter als warten, warten und nochmals warten. Verzweiflung macht sich breit. ...
… wie sehr wünsche ich mir irgendwelche Gefühle. Selbst Schmerzen wären mir willkommen. Aber ich verspüre kein einziges Signal des Körpers. Lediglich das dumpfe Nagen, dass etwas fehlt. Ein bisschen wie Beine, die zucken wollen, wenn man müde auf dem Sofa liegt, aber noch nicht einschlafen will. …
… Ja, ich sehe sie auch. Die Stimmen sagen die Wahrheit: die Bilder in den Regentropfen sind eindeutig. Sie stehen, Sternenbildern gleich, vor meinen Augen. Nur dadurch, dass ich seit einer gefühlten Woche darauf starre, konnte ich sie erkennen. Die Stimmen flüstern mir die Bedeutung ein und langsam verändern sie sich. Die Tropfen verschieben sich gegeneinander. Sie erzählen mir eine Geschichte, ihre Geschichte. Sie zeigen mir das Schicksal der Welt, das Schicksal alles Seienden. Es ist im Regen geschrieben, wenn man nur fähig ist, es zu lesen. Nun, da ich weiß, wie Gottes Botschaften zu lesen sind, werde ich dieses Wissen in die Welt tragen – sobald sich mein Finger bewegt und mich aus dieser Misere befreit hat. Ich werde Hochgeschwindigkeitsbilder fallenden Regens aufnehmen und wieder Gott hören. Denn er ist es, der zu mir spricht. Wer sonst sollte es sein ... oder werde ich jetzt doch wahnsinnig? …
… Seit einer Ewigkeit konzentriere ich mich schon darauf, den Finger zu bewegen. Keine Ahnung, wie lange ich meine Konzentration noch aufrecht halten kann.
Die Stimmen haben mittlerweile ihre Meinung geändert. Das Schreien und Kreischen ist verstummt, dafür haben die wispernden Stimmen die Oberhand gewonnen. Sie flüstern hysterisch auf mich ein, dass im Regen keine Bilder zu sehen seien. Dass mein Verstand mir einen Streich gespielt hat. Aber ich sehe die Botschaft doch deutlich geschrieben vor mir stehen. In einer Schrift, die nur ich sehen kann. …
... Das Display hat mittlerweile die Hälfte seiner Helligkeit eingebüßt. Es ist eine neues Element andeutungsweise zu erkennen: Ein Rahmen. Normalerweise sollte es mir den Magen umdrehen denn ich fürchte zu wissen, was als Nächstes kommt. Das ist nicht gut, das ist definitiv nicht gut.
Andererseits ist jetzt klar, dass sich die Welt verändert. Dass sie nicht vollständig stillsteht. ...
… Der Junge ist wieder da. Er schaut mir in die Augen und winkt. Es ist zwar keine Bewegung sichtbar, aber ich könnte schwören, dass er den Arm vorhin unten hatte. Und dass er mich letztes Mal nicht angesehen hat. ...
... Eine Ewigkeit, was ist das schon? Ich kann es sagen: es ist das, was mir bevorsteht.
Mittlerweile ist im Rahmen auf dem Display der Text lesbar. Er hat zwar noch immer nicht seine volle Helligkeit erreicht, aber da steht eindeutig "Bluetooth Verbindung unterbrochen ".
Der Junge ist mittlerweile näher gekommen. Ich weiß nicht, wie. Es war keine Bewegung zu sehen, aber er verschwand kurz und nun steht er vor dem Busfenster, lacht bewegungslos und heißt mich willkommen. Was das auch bedeuten mag. ...