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Es gibt keine Zeitmaschine

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12.06.2013
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Es gibt keine Zeitmaschine

Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig ...
Ich muss ruhig bleiben, Sekunden zählen …
Vierundzwanzig, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig …
Sekunden! Als hätten sie eine Bedeutung …
siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig.
Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, alles egal. Ich muss nur ruhig bleiben.

Viel wurde über Zeitmanipulation und Zeitreisen spekuliert. Vieles geschrieben, gelesen, erzählt. Das ist alles Unsinn!
Das weiß ich wohl so gut wie nur wenige andere; nichts anderes hat meine Forschungen in den letzten Monaten angetrieben als meine Gier nach Erkenntnis, die Zeit betreffend. Etwas zu finden, was andere übersehen haben. Alle greifbaren Ideen aus Wissenschaft und Sciencefiction habe ich genommen und mit Hilfe meiner alten Freundin, der Mathematik, objektiv untersucht. Selbstverständlich habe ich versucht, Sponsoren zu finden. Und sei es nur etwas Rechenzeit auf einem Supercomputer irgendeiner Uni. Ebenso selbstverständlich ohne Erfolg.
„Keine praktische Bedeutung“, hieß es. „Hirngespinste“ und „Träumereien“ wurden meine Ideen genannt. Und natürlich, dass ich „von Physik nichts verstehe". Ich muss zugeben, tatsächlich kein Physiker zu sein. Ich habe einige Jahre Biologie studiert, dazu Philosophie, Soziologie, ein wenig Mathematik und auch Physik. Einen Abschluss habe ich nie gemacht. Vielmehr habe ich gelernt, was ich wissen wollte und mich dann wieder um meine eigene Forschung gekümmert.
So führte ich also, allein mit der Mathematik und meinem Verstand bewaffnet, den Kampf mit dem Wesen der Zeit. Ein bescheidenes Einkommen aus wechselnden Jobs hielt mich dabei über Wasser und ermöglichte kleinere Investitionen. Wenn ich erst ein tragfähiges Konzept hätte, so dachte ich, würde sich schon ein Sponsor für den Bau meiner Zeitmaschine finden.

Zunächst entwarf ich drei Kategorien. Dann kamen die Theorien auf den Prüfstand, um sie einzusortieren.

Unmöglich:
• Die Erzeugung eines kleinen Blasenuniversums mit entgegengesetztem Zeitlauf wäre denkbar. Man bräuchte leeren Raum, starke Laser und ein paar Gramm Masse. Aber der Wechsel in dieses Universum oder auch nur ein bloßer Informationsaustausch wäre nicht möglich. Man wüsste noch nicht einmal, ob die Erzeugung des Universums geglückt wäre.
• Superluminares Tunneln ist eine nette Idee, um die Notwendigkeit exotischer Materie zu umgehen. Dafür gilt sie maximal für Photonen und nur in winzigstem Maßstab.
• Und mit Tachyonen müssen wir gar nicht erst anfangen.

Denkbar, aber weit entfernt von unseren Möglichkeiten:
• Ein Wurmloch durch exotische Materie mit negativer Energiedichte offenzuhalten ist eine nette Idee, die funktionieren könnte. Sie scheitert aber daran, dass eine solche exotische Materie wahrscheinlich nicht existiert.
• Ein Wurmloch mit Gauss-Bonnet-Dilation braucht ein Universum mit mindestens vier Raumdimensionen, worauf wir - noch - keinen Zugriff haben.
• Eine Reise um ein schnell rotierendes schwarzes Loch ist indiskutabel, haben wir doch noch immer keinen ernsthaften Schritt über den Erdorbit hinaus gemacht.
• Eine Reise durch Gödels rotierendes Universum verbietet sich aus demselben Grund.

Möglich:
• Leider konnte ich keine Möglichkeit finden.

Das war absehbar. Auch wenn ich etwas anderes erhofft hatte.
All diese Beschäftigung mit der Zeit und ihrer Manipulation diente dazu, meinem Unterbewusstsein das Thema und Futter an die Hand zu geben. Warum soll etwas, das in der Kunst funktioniert, nicht auch in der Wissenschaft seinen Platz finden. Zu dem Zweck las ich sogar Literatur über unerklärliche Phänomene wie das Bermudadreieck, spontane Zeitsprünge und ähnlich verrücktes Zeug.
Geschichten über einen schmächtigen, blonden Jungen, der in Miami im Frühling 1962 für über eine Stunde regungslos eine Stelle in der Luft anstarrte und dann mit einem Knall einfach verschwand. Nichts wurde gefunden, weder seine grüne Sommerjacke oder irgendetwas anderes. Einwohner der Umgebung sagten aus, sie hätten ihn hier und da als Schemen gesehen, als verwischte Erscheinung.
Eine Geschichte über eine Frau aus Ljubljana, die 2003 behauptete, von einem Ufo entführt worden zu sein und zwei Wochen im 18. Jahrhundert verbracht zu haben. Über einen Piloten, der 1953 mit seinem klapprigen Propeller-Zweisitzer auf dem Flug von Havanna nach Freeport eine grün leuchtende Wolke durchquerte und sich drei Stunden vor der geplanten Ankunftszeit in der Nähe seines Zieles wiederfand. Solche Geschichten las ich.
Dazu sogenannte grenzwissenschaftliche Abhandlungen zu verschiedenen Ideen. Zum Beispiel dazu, dass die bekannten Geisteraufnahmen in Wirklichkeit Fotografien von Menschen sind, die sich zu schnell bewegten, um gesehen zu werden. Die aber versuchten, stillzuhalten, bis die Kamera das Bild aufgenommen hatte. Offensichtlich gelang es nur leidlich, so dass die Bilder trotzdem verschwommen und unklar waren.
Oder Artikel über die Möglichkeit, dass Menschen aus dem Jenseits mit uns Kontakt aufnehmen könnten, wenn wir nur schnell genug hinsähen. Angeblich könnten Seelen oder Geister für winzige Bruchteile einer Sekunde in unserer Welt in Erscheinung treten. Gerade lang genug, um bei jemandem, der zufällig hinsieht, das Gefühl zu hinterlassen, dass da doch eben noch etwas war.
Und so kam ich irgendwann tatsächlich auf einen unerwarteten Gedanken. In Berichten von Nahtoderlebnissen und OBEs wird immer wieder beschrieben, wie sehr sich die erlebte Zeit von der physikalischen unterscheidet. Jeder kennt es aus seinen Träumen: Es vergehen Stunden und Tage im Traum; wenn man hochschreckt, sind es aber grade ein paar Minuten gewesen.
Wie ich jetzt weiß, ist das Bewusstsein nicht so sehr an die Gehirnfunktion gekoppelt, wie man bislang annahm. Es existiert vielmehr metaphysisch und das Gehirn setzt im Hypothalamus, dem Mandelkern, lediglich seine Befehle in Biochemie um.
Klingt nach Spinnerei? Sagen wir, es ist unorthodox. Aber dennoch bin ich mir in dieser Sache ziemlich sicher. Nicht zuletzt, weil ich es ausprobiert habe. Besser gesagt: Gerade ausprobiere.

Wohlgemerkt: ich rede nicht davon, dass bei Langeweile die Zeit langsamer zu vergehen scheint. Ich rede von wirklicher kognitiver Zeitdehnung und -stauchung.
Ich habe mir ein überraschend einfaches Gerät, etwa halb so groß wie meine Handfläche, mit Heftstreifen an der Stelle am Kopf befestigt, wo die Wirbelsäule in den Schädel übergeht. Hier misst es die Gehirnströme in der Gegend des Hypothalamus. Diese werden zu höherer oder niedrigerer Frequenz moduliert und zurückgesendet. Im Grunde funktioniert es wie ein Schrittmacher für den Mandelkern. Denn allein er bestimmt, in welcher Geschwindigkeit unser Bewusstsein mit der Welt interagiert. Das Bewusstsein selbst ist unabhängig von der physikalischen Zeit.
Ein Studienfreund half mir, das Gerät mit dem Smartphone anzusteuern. Nun kann ich mit einem einfachen Schieberegler in einer App die Modulationsfrequenz beeinflussen und damit mein Bewusstsein beliebig beschleunigen oder bremsen.

Der erste praktische Test begann mehr oder weniger spontan, als ich auf den Bus wartete. Ich schob den Regler auf doppelte Geschwindigkeit und beobachtete, was geschah. Ich musste anfangs genau hinsehen, denn der Effekt war nicht so deutlich wie erwartet. Autos fuhren schneller um die Ecke, Wolken deuteten auffrischende Winde an. Die Uhr des Smartphones war deutlicher: Sie zeigte, wie die Sekunden verflogen. Einer der Fahrgäste sah mich misstrauisch an. Ahnte er etwas? Nein. Vermutlich hielt er mich für einen Junkie, weil ich mich auffällig langsam bewegte und dämlich in mich hinein grinste. Sollte er doch. Für mich war entscheidend, dass ich nur halb so lange auf den Bus warten musste. Und damit, dass mein Gerät und meine Theorie funktionieren.
Von da an benutzte ich das Gerät häufig und gerne. Wenn ich an meinen Theorien arbeitete, beschleunigte ich meinen Geist. Wartete ich auf etwas, bremste ich. Zugegeben, manchmal wurde ich kindisch und gab damit an oder wettete. So gewann ich fünfzig Euro durch die fehlerfreie Eingabe eines dreihundert Zeichen langen Textes innerhalb einer Minute. Und dabei hatte ich mich nicht einmal angestrengt. Oder ich fing Gegenstände, die sich eigentlich zu schnell oder unberechenbar bewegten. Das einzige Limit war die Geschwindigkeit meiner Muskeln, Sehnen und Nervenimpulse.

Und nun sitze ich hier im Bus auf dem Weg nach Hause. Es wird wohl die längste Busfahrt meines Lebens.
Ich spüre keinen Herzschlag, keine Atmung, nichts. Ich höre nichts, denn die Töne sind um Größenordnungen zu tief, um von meinem Bewusstsein interpretiert zu werden. Das heißt, eigentlich höre ich doch etwas: ein beständiges Rauschen und seit einiger Zeit mischen sich Sprachfetzen hinein. Vermutlich ist mein Geist mit der totalen Abwesenheit von Geräuschen überfordert. Sehen funktioniert glücklicherweise, nur bewegt sich nichts. Ich sehe vor allem Regentropfen hinter der Fensterscheibe, die in der Luft festgeklebt scheinen. Und ich sehe das Handydisplay mit der App, diese verdammte App. Ich hatte nicht daran gedacht, einen Mindestwert oder zumindest eine Sicherheitsabfrage einzubauen.
Der Bus bockte, als er durch ein Schlagloch, über einen Kantstein oder irgendetwas anderes fuhr. Selbst wenn es ein Passant war: der würde in diesem Augenblick vermutlich noch nicht einmal die Schmerzen spüren, weil die Nerven sie noch nicht weiterleiten konnten. Interessanter Gedanke. Jedenfalls ist mein Daumen dabei ganz nach links geruckt und hat den Regler bis ans Ende verschoben. Und hat damit die Beschleunigung auf Maximum gestellt.
Was das heißt? Gammawellen liegen normalerweise bei bis zu 100Hz. Im Manipulator habe ich eine Taktschaltung aus einem handelsüblichen PC verwendet, der mit bis zu 2GHz schwingt. Die Beschleunigung kann man nicht direkt umrechnen, weil verschiedene Interferenzen berücksichtigt werden müssen. Aber ich habe definitiv ein Problem, traue mich gar nicht, diesen Gedanken bis zum Ende zu denken.

Ich weiß nicht, wie lange das schon so geht. Das Zeitgefühl ist schwer zu erhalten, wenn es keine Bezugsgröße gibt. Was bedeutet die Bewegung eines Sekundenzeigers, wenn sie für jeden Schritt doppelt so lange braucht wie sonst – oder eintausend oder eine Million Mal.
Das einzige Maß für meine subjektive, persönliche Zeit ist, welche Gedanken ich fassen kann. Seit Beginn habe ich schon zwei meiner Lieblingsbücher im Gedanken durchgespielt, hatte eine Panikattacke erfolgreich niedergekämpft und Pi bis zur fünfundzwanzigsten Stelle berechnet. Nicht, weil ich so genial bin, sondern weil ich so verdammt viel Zeit habe. Falls ich mich nicht verrechnet habe, ist es eine Drei - oder eine Sieben. Ich kann natürlich nichts notieren und muss mich auf mein Gedächtnis verlassen.
Weil das langweilig wurde, habe ich angefangen, die Regentropfen in meinem Gesichtsfeld zu zählen. Erst beim vierten Versuch bin ich fertig geworden: 392 Tropfen schweben in der Luft, hätte mehr erwartet. Es ist schwierig, sich auf den Rand des Gesichtsfeldes zu konzentrieren, denn ich kann ja nicht einmal meine Augen bewegen. ...

... Die Zeit vergeht - nur für mich. Wie sehr ich mir das Ticken einer Uhr wünsche, irgendetwas um die verstrichene Zeit zu messen oder wenigstens zu spüren. ...

... Natürlich versuche ich, meinen Daumen wieder zurück zu schieben. Aber das ist schwieriger, als es klingt. Ich bilde mir ein, zu spüren, wie der Wille in meinem Gehirn allmählich ein Neuron feuern lässt. Das regt andere Neuronen an, ebenfalls zu feuern. Und vielleicht kommt dieses Signal irgendwann im Daumen an und bewegt ihn wieder nach rechts. Vielleicht aber auch nicht. Bislang konnte ich nicht mal die Bewegung eines Wassertropfens beobachten, es wird wohl noch dauern. Und um ehrlich zu sein: ich weiß ja nicht mal, ob mein Gehirn auf dieses extrem beschleunigte Bewusstsein reagiert. Ich versuche, die Angst, die dieser Gedanke in mir auslöst, zu kontrollieren. …

… Atmen! Ich muss atmen. Nicht schon wieder. Luft! Hilfe! Ich kann nicht rufen, bin ich unter Wasser? Nein, ich muss nicht atmen, brauche keine Luft. Ganz ruhig, bleib locker. Aber ... aber … nein, alles in Ordnung. Nicht in Ordnung, aber auch nicht lebensbedrohlich.
Die Panikanfälle werden seltener und schwächer, aber ganz aufgehört haben sie noch nicht. ...

… Ich bin quasi unsterblich. Aber auf der anderen Seite lebe ich auch nicht wirklich.
Der Gedanke, für ewige Zeit nur durch Gedanken zu leben, keinen Menschen anfassen zu können – überhaupt nichts spüren zu können – erfüllt mich mit Angst. Mit markzerfressender Angst, die meinen Geist zu vergiften droht. Ich muss sie kontrollieren. Es gibt nichts, wovor ich Angst haben müsste, nichts kann mir gefährlich werden. Und doch bin ich ein Mensch, und ich vermisse meine Mitmenschen. Ich wünschte, ich könnte weinen oder wenigstens schluchzen. ...

… Gefühlt ist ein Tag vergangen – oder zwei? Keine Ahnung, aber sehr viel Zeit. Zwei Fahrgäste sehe ich als Spiegelung in der Scheibe, auf der Straße sind trotz des Regens einige Menschen unterwegs. Obwohl ich mitten zwischen ihnen sitze, trennen uns Welten. Es ist scheußlich.
An meiner Aussicht hat sich nichts verändert. Obwohl - war der Tropfen dort nicht anfangs neben dem, der jetzt darüber schwebt? Schwer zu sagen, möglicherweise nur eine Wunschvorstellung. Ganz stehen geblieben kann die Zeit nicht sein, das ist mir klar. Und wenn ich nun eine Bewegung erkennen kann, dann komme ich vielleicht doch schon bald wieder hier heraus. …

… Ich bin der erstarrte Wille Gottes, der in der Ewigkeit alles zu tun imstande ist. Der seine Armeen aus dem leuchtenden Nichts befehligt. Ich sehe alles und strafe jeden. Menschen winden sich unter meinen …

… Woher kam das? Es waren meine Gedanken und doch nicht meine. Nicht durchdrehen, nur nicht durchdrehen. Durchatmen wäre gut. Ich bin ein ganz normaler Typ, der in einer schwierigen Situation gefangen ist. Immerhin bin ich mir mittlerweile sicher, dass sich die Regentropfen tatsächlich bewegen. Sehr langsam, aber immerhin. Allerdings scheinen sie nicht alle nach unten zu fallen.
Die Geisterstimmen haben sich entschlossen, sinnvolle Dinge zu flüstern, zu zischen und zu schreien. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nur Halluzinationen sind. Stimmen aus meiner Vergangenheit, entstanden aus meiner Erinnerung. Aber was sie sagen, ist so einleuchtend, so klar und überraschend …

... Ohmm, Ohmm. Keine Stimmen. Es ist alles ganz normal. Ohmm ...

... Das Display hat sich verändert, es ist im Laufe der letzten Stunden, Tage dunkler geworden. Eine Täuschung? Vielleicht eine Fluktuation in den OLED, die man sonst nicht wahrnimmt. Das wäre zumindest ein Hinweis darauf, dass diese Hölle irgendwann vorbei ist. ...

… Was kann helfen? Rechnen, natürlich. Vielleicht verschwinden dann auch die Stimmen.
Mal überlegen, die Wurzel einer sechsstelligen Zahl, das müsste gehen. Sagen wir 123456. Hmm, näherungsweise irgendwas zwischen 300 und 400. Nehmen wir 350, die zum Quadrat sind 122tausend und irgendwas. 122500. Verdammt, hätte ich doch nicht so oft den Taschenrechner benutzt. Also weiter, ich habe ja Zeit. 360 zum Quadrat …

... 351, yeah! Als nächstes - Moment, stand dort drüben nicht vorhin noch ein Junge? Ich bin mir sicher, erinnere mich genau an seinen schmächtigen Körperbau, hellblonde Haare, die seltsamerweise trocken aussahen und auffällig dunkle Augenbrauen. Eine unmoderne, grüne Sommerjacke und kurze Hosen. Nun ist er weg. ...

… So eine verfluchte Scheiße! Ich will schreien und kann es nicht! Ich will heulen und kann es nicht! Mir bleibt nichts weiter als warten, warten und nochmals warten. Verzweiflung macht sich breit. ...

… wie sehr wünsche ich mir irgendwelche Gefühle. Selbst Schmerzen wären mir willkommen. Aber ich verspüre kein einziges Signal des Körpers. Lediglich das dumpfe Nagen, dass etwas fehlt. Ein bisschen wie Beine, die zucken wollen, wenn man müde auf dem Sofa liegt, aber noch nicht einschlafen will. …

… Ja, ich sehe sie auch. Die Stimmen sagen die Wahrheit: die Bilder in den Regentropfen sind eindeutig. Sie stehen, Sternenbildern gleich, vor meinen Augen. Nur dadurch, dass ich seit einer gefühlten Woche darauf starre, konnte ich sie erkennen. Die Stimmen flüstern mir die Bedeutung ein und langsam verändern sie sich. Die Tropfen verschieben sich gegeneinander. Sie erzählen mir eine Geschichte, ihre Geschichte. Sie zeigen mir das Schicksal der Welt, das Schicksal alles Seienden. Es ist im Regen geschrieben, wenn man nur fähig ist, es zu lesen. Nun, da ich weiß, wie Gottes Botschaften zu lesen sind, werde ich dieses Wissen in die Welt tragen – sobald sich mein Finger bewegt und mich aus dieser Misere befreit hat. Ich werde Hochgeschwindigkeitsbilder fallenden Regens aufnehmen und wieder Gott hören. Denn er ist es, der zu mir spricht. Wer sonst sollte es sein ... oder werde ich jetzt doch wahnsinnig? …

… Seit einer Ewigkeit konzentriere ich mich schon darauf, den Finger zu bewegen. Keine Ahnung, wie lange ich meine Konzentration noch aufrecht halten kann.
Die Stimmen haben mittlerweile ihre Meinung geändert. Das Schreien und Kreischen ist verstummt, dafür haben die wispernden Stimmen die Oberhand gewonnen. Sie flüstern hysterisch auf mich ein, dass im Regen keine Bilder zu sehen seien. Dass mein Verstand mir einen Streich gespielt hat. Aber ich sehe die Botschaft doch deutlich geschrieben vor mir stehen. In einer Schrift, die nur ich sehen kann. …

... Das Display hat mittlerweile die Hälfte seiner Helligkeit eingebüßt. Es ist eine neues Element andeutungsweise zu erkennen: Ein Rahmen. Normalerweise sollte es mir den Magen umdrehen denn ich fürchte zu wissen, was als Nächstes kommt. Das ist nicht gut, das ist definitiv nicht gut.
Andererseits ist jetzt klar, dass sich die Welt verändert. Dass sie nicht vollständig stillsteht. ...

… Der Junge ist wieder da. Er schaut mir in die Augen und winkt. Es ist zwar keine Bewegung sichtbar, aber ich könnte schwören, dass er den Arm vorhin unten hatte. Und dass er mich letztes Mal nicht angesehen hat. ...

... Eine Ewigkeit, was ist das schon? Ich kann es sagen: es ist das, was mir bevorsteht.
Mittlerweile ist im Rahmen auf dem Display der Text lesbar. Er hat zwar noch immer nicht seine volle Helligkeit erreicht, aber da steht eindeutig "Bluetooth Verbindung unterbrochen ".
Der Junge ist mittlerweile näher gekommen. Ich weiß nicht, wie. Es war keine Bewegung zu sehen, aber er verschwand kurz und nun steht er vor dem Busfenster, lacht bewegungslos und heißt mich willkommen. Was das auch bedeuten mag. ...

 

Ist lange her, dass ich etwas gepostet habe.
Ich hoffe, die Geschichte gefällt und ist nicht zu stümperhaft.

 
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Servus chricken,

Den Charakter oder vielmehr den Typus deines Protagonisten kann man durch Worte wie 'selbstverständlich', 'berechnet' oder auch seine Laufbahn sehr gut erfassen. Die Erzählform unterstützt dies sehr stark. Die Ich-Form wir leider zu selten genutzt. Der Tempus der Gegenwart ermöglicht einen zusätzlichen Spannungsfaktor, da noch nichts 'in trockenen Tüchern' ist.

Die Hinleitung zu plötzlichen Dilemma des Protagonisten ist etwas knapp. Ich habe ein paar Zeilen gebraucht, bis ich verstand was los ist.

Man kann gut nachvollziehen, wie er sich fühlen müsste. Ja, der Konjunktiv ist beabsichtigt. Der Protagonist ist zwar sehr logisch und weniger emotional, sollte aber, nach meinem Dafürhalten, etwas mehr Angst zeigen.

Als Ingenieur und Fantasy-Begeisterten kann ich mit der Thematik gut etwas anfangen. Von meinem Standpunkt ist die Idee innovativ und Kreativ.

Den Hauptteil hast du gerade richtig dimensioniert.

Der Tempus ist super:
'Sie zeigen mir das Schicksal der Welt, das Schicksal alles Seienden.'

Er kann also in der Langsamkeit die Zukunft sehen?

Die Pointe wartet mit einer gelungenen Überraschung auf. Doch: was soll der Junge? Habe ich etwas nicht verstanden?

Die ... würde ich persönlich weglassen. Ebenso 'äh'. Das geht auch besser, obgleich ersteres natürlich ein Gefühl für die lange Dauer gibt.
Sonst stilistisch in Ordnung.

Alles in allem deutlich mehr Lob als Kritik.

Grüße,
Sylver

 

Hallo Sylver,

vielen Dank für Deine angenehmen Worte.
Die Verbesserungsvorschläge werde ich zunächst sammeln und dann einpflegen.
Insbesondere, dass die Hauptperson keine Angst zeigt, habe ich nicht auf die Reihe bekommen. Wie sollte er: es gibt keine Schweißausbrüche, zitternde Gliedmaßen oder Hitzeschübe.
Ich musste seine Gedanken beschreiben.

Ein paar Dinge aber waren gewollt.
Zum Beispiel sollte der Leser zuerst einen "häh"-Moment erleben, als die Probleme anfingen. Um dann dem "aha"-Effekt zu weichen, sobald der Leser kapiert, was los ist. Ich lese so etwas immer sehr gerne, weil es den Leser ein bisschen mehr die Erlebniswelt des Protagonisten zieht.

Der Junge ist bewusst undurchsichtig gehalten. Der Leser soll am Besten leicht verstört zurückbleiben. Und damit wieder die Gefühlswelt des Protagonisten teilen.
Was ist das für ein Junge? Ist er nur Einbildung oder ebenfalls ein Gefangener, der sich aber noch schneller bewegt als er? Oder ist er die Quelle der Stimmen oder dreht der Protagonist einfach durch? Warum heißt er ihn willkommen? Vielleicht ist er auch der Teufel persönlich - oder auch nicht.

Lieben Gruß
Christian

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Christian,

Klar kann er keine körperlichen Symptome der Angst zeigen. Wenn ich das gerade schreibe merke ich, dass er aber sehr wohl, in Relation, normal denken kann. Klar: sonst wäre eine Geschichte auch kaum möglich. Dieses Dogma nutzend, könnte er aber auf diesem Weg Ängste zeigen.

Man impliziert auch automatisch einen männlichen Protagonisten. Aber das nur nebenbei.

Ich muss auch nochmal auf den Jungen zurückkommen: ich verstehe nun dein Motiv, eine gewisse Verstörung auszulösen. An sich passend. Dennoch ist er vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. Du solltest zumindest irgendwo einen Hinweis auf seinen Sinn geben. Dieser darf ruhig genug Spielraum für Interpretation lassen. Ich finde, man wird während des Lesens dazu gezwungen ergebnislos darüber nachzudenken was er ist oder wofür er steht. Zu mal ich nun glaube, dass er bisher keine Sinn hat außer eben nur den beschriebenen Effekt zu erzielen.

Aber das ist meine subjektive Meinung oder Geschmack. Mal schauen, was noch an Kritiken folgt.

 

Hallo chricken,

Das ist eine tolle, ungewöhnliche Idee, Kompliment!

Die Umsetzung gefällt mir eigentlich auch, es liest sich gut und die verstörenden Erlebnisse des Protagonisten sind gut rübergebracht. Trotzdem fehlt mir etwas - ich kann aber noch nicht so richtig den Finger darauf legen. Ich hoffe, du kannst trotzdem etwas mit dem Kommentar anfangen.

Ich habe halt das Gefühl, diese hervorragende Idee hängt irgendwie in der Luft und es gibt eigentlich nicht genug Handlung, um mich zufriedenzustellen. Aber auf der anderen Seite denke ich: Das muss ja eigentlich so sein, dieser Effekt gehört zu der Geschichte. Denn das in der Luft hängen und die fehlenden Handlungsmöglichkeiten ergeben sich ja zwangsläufig aus der Situation des Protagonisten.

Eventuell würde das Gefühl gemildert, wenn der Protagonist mehr Emotionen zeigen würde. Auch wenn durch die besonderen Umstände in der Geschichte nicht viel "äußere" Handlung stattfinden kann (bis auf das Auftauchen und Verschwinden des mysteriösen Jungen), könnte es doch eine Art "innere" Handlung im Bewusstsein des Prots geben.

Man weiß ja kaum etwas über ihn, bis auf seinen wissenschaftlichen Background und seine Forschungen. Aber hat der nicht vielleicht auch Beziehungen mit anderen Menschen - Familie, Freunde? Er verbringt viel Zeit mit mathematischen Überlegungen, aber er denkt nur sehr abstrakt über das Problem nach, dass er keine Möglichkeit zum Kontakt mit anderen hat. Wenn das ein bisschen konkreter wäre, was er durch seine Situation verliert (wenn ich es nicht schaffe, meinen Finger zu bewegen, kann ich nie wieder meinen Freund XY sehen, nie wieder Schokolade essen, nie die letzte Staffel von Breaking Bad gucken ...), dann hätte man vielleicht weniger dieses Gefühl des Stillstands, obwohl die Zeit für ihn still steht, und die emotionale Wirkung der Geschichte wäre wahrscheinlich stärker.

So hyperrationale Protagonisten sind häufig in Science Fiction-Geschichten und ich finde es auch in Ordnung - es steht ja eine Idee im Vordergrund, und wenn der Prot eine Panikattacke nach der anderen hätte, würde das womöglich auch zu stark ablenken. Das ist nur eine Überlegung, ich bin mir selbst gar nicht sicher, ob das wirklich eine Lösung für die Geschichte darstellt bzw. ob es überhaupt ein Problem gibt. :)

Noch eine allgemeine Anmerkung: Seit wir statt der Unterforen die Tags haben, sehe ich es häufiger, dass Geschichten sowohl den "Science Fiction" als auch den "Fantasy" Tag erhalten, wie diese hier auch, und das wundert mich immer.
Das steht natürlich jedem frei seine Tags zu wählen, und es gibt ja auch fließende Übergänge zwischen den Genres. Aber für mich habe ich halt so eine Faustregel: Sowohl in SciFi als auch in Fantasy passieren meistens Dinge, die in unserer Realität nicht möglich sind. Wenn der Grund für das was passiert einen wissenschaftlichen oder technologischen Anstrich hat, ist es Science Fiction, und wenn der Grund eher magischer Natur ist, dann Fantasy. Es kann dabei um ganz ähnliche Ideen oder Phänomene gehen, aber ich würde halt tendenziell sagen: Leute drücken Knöpfe, um sich zu teleportieren: Science Fiction; Leute benutzen eine Zauberformel, um sich zu teleportieren: Fantasy. :)
Es ist nicht ausgeschlossen, dass etwas "beides" ist, aber hier bei deiner Geschichte zum Beispiel finde ich halt, das ist ziemlich eindeutig Science Fiction. Na ja, ist nicht so wichtig, das wollte ich nur mal gesagt haben. :)

Grüße von Perdita

 

Hallo Perdita und alle die bis jetzt kommentiert haben.
Vielen Dank für Eure Worte. Besonders freut mich, tatsächlich etwas Neues gebracht zu haben.

In der neuen Version habe ich verscuht etwas mehr Emotion herüber zu bringen. Ob es gelungen ist, kann ich nicht sagen, denn fehlende Körperreaktionen machen es schwer, Emotionen zu beschreiben. Aber ich denke, besser als vorher ist es schon.

Auch habe ich dem Leser nun etwas mehr Futter gegeben, um den Jungen zu verstehen. Ich habe genaue Erklärungen vermieden, aber versucht, dem Jungen eine Vergangenheit und ein Erleben zu geben. Immerhin habe ich jetzt selbst ein Bild davon, das ist ja auch was wert.

Lieben Gruß
Christian

 

Hallo chricken,

ich habe mir deine neue Version durchgelesen, und habe noch ein paar Anmerkungen dazu.

Es wird jetzt deutlicher im Text, dass das Erlebnis den Protagonisten auch emotional ziemlich fertig macht. Aber ich finde, es wirkt immer noch relativ abstrakt. Er spricht davon, wie sehr er den Kontakt mit anderen Menschen vermisst, und das wäre sicher der Fall in so einer Situation. Aber ich meine, es gibt Leute, auf deren Anwesenheit kann man leichter verzichten, und Leute, die einem mehr fehlen würden. Und ich denke, in so einer Situation würde man doch konkret darüber nachdenken, wen man vermisst - Freundin, Eltern, Lieblingskollege ... Also an der Stelle, wo es um das Fehlen der Mitmenschen geht, würde ich es auf konkrete Personen beziehen an deiner Stelle. Sonst bekommt man den Eindruck, der Protagonist wäre auch vor seinem Missgeschick schon sehr stark von anderen Menschen isoliert gewesen.

Die Stellen mit dem Jungen finde ich interessant, ich denke es war eine gute Idee, das auszubauen. Es scheint, als ob man auch ohne technische Hilfsmittel in diesen Zustand geraten kann, den der Protagonist durch seine App hervorgerufen hat. Voraugesetzt, der Junge ist überhaupt ein gewöhnlicher Mensch und nicht irgendwas anderes. :)

Ja, und zuguterletzt ist beim erneuten Lesen bei mir eine totale Verwirrung entstanden, darüber, wie das mit der subjektiven Zeitwahrnehmung eigentlich funktioniert. Es kann sein, dass das an mir liegt, aber ich habe jetzt den Eindruck, dass es möglicherweise einen Logikfehler gibt, ich versuche es mal zu erklären, damit du das überprüfen kannst.

Es geht um die Stelle hier:

So gewann ich fünfzig Euro durch die fehlerfreie Eingabe eines dreihundert Zeichen langen Textes innerhalb einer Minute. Und dabei hatte ich mich nicht einmal angestrengt. Oder ich fing Gegenstände, die sich eigentlich zu schnell oder unberechenbar bewegten. Das einzige Limit war die Geschwindigkeit meiner Muskeln, Sehnen und Nervenimpulse.

Das bedeutet doch: Wenn die Zeit für ihn subjektiv langsamer vergeht, ist er trotzdem noch in der Lage, sich zu bewegen - und zwar aus Sicht aller anderen viel schneller als gewöhnlich. Anderenfalls wären ja diese Kunststückchen wie die Eingabe des 300-Zeichen-Texts nicht machbar. Aber als er versehentlich das Maximum einstellt und die Zeit für ihn extrem langsam vergeht, ist er dann gar nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Das ist doch ein Widerspruch, oder? Wenn das mit der Bewegung funktioniert, müsste er dann nicht bei maximal verlangsamter subjektiver Wahrnehmung praktisch ein Superheld werden, der sich extrem schnell bewegt?

Grüße von Perdita

 

Tolle Geschichte, die ich auch nicht zu abstrakt oder unemotional fand. Hat mich ein bisschen an "Johnny zieht in den Krieg" erinnert, das Gefangensein im eigenen Körper.
Einer von zwei Kritikpunkten für mich war der etwas zu naturwissenschaftliche Einstieg. Als würde der Autor mit seinem Fachwissen prahlen wollen, was ich dir jetzt mal nicht unterstelle :)
Zum Einwand von Perdita wirst du sicher noch selbst etwas sagen, aber ich habe es so verstanden, dass der Körper normal schnell reagiert (300 Tasten in einer Minute , also 5 pro Sekunde zu drücken ist ja kein Problem, nur die richtigen zu treffen ist das Kunststück), aber das Geistige kann man halt steuern. Und so trifft er auch die richtigen Tasten, weil sein verstand genug Zeit hat, seine Finger quasi zu koordinieren. Wenn er das Bewusstsein aber zu hoch raufdreht, kann der Körper nicht mehr mithalten, weil er an seine physischen und biologischen Grenzen stößt, und der Mensch ist quasi im eigenen zu langsamen Körper gefangen.

Trotzdem ein Einwand: Dass das Bewusstsein quasi unabhängig vom Geist agiert, und scheinbar alles kann was das Gehirn so kann (also Impulse verarbeiten, Rechnen, sich erinnern etc) fand ich komisch und das ist mein zweiter kritikpunkt. Wenn das B-sein eh schon alles kann, warum brauche ich dann noch ein "Rest-Gehirn"? Oder habe ich was falsch verstanden? Ist ja auch schon spät ...

Trotz dieser zwei KritikPunkte eine schöne Story!
Gruß Irony

 

Hallo chricken!

Ich finde die Idee sehr spannend umgesetzt und in der mittlerweile sehr großen Zahl von Büchern und Filmen zum Thema durchaus erfrischend zu lesen.
Physikalische und technische Details müssen hier zwangsläufig unrealistisch bleiben, wie in allen anderen Zeitreisegeschichten, sonst hättest du den Text wohl eher dem Patentamt präsentiert und nicht den Wortkriegern! :D
Was mir fehlt, ist etwas, was die Geschichte zeigen oder gar beweisen könnte. Ich meine, eine moderne Zeitreise-Story schreibt man, um etwas aufzuzeigen (außer der Zeitreise selber), was eben mit einer anderen Art Geschichte nicht möglich ist oder nicht eindringlich genug funktioniert.
Immerhin, was du mit dem Leser veranstalten wolltest, hat bei mir gewirkt. ;)

Lieben Gruß

Asterix

 
Zuletzt bearbeitet:

Lost in deceleration?

chricken schrieb:
Ich hoffe, die Geschichte […] ist nicht zu stümperhaft.
Machst du Witze, chricken?
Also für mich ist das eine wirklich großartige Geschichte.
Auch wenn ich sie die längste Zeit links liegen ließ und den Thread erst heute und sozusagen von hinten zu lesen begonnen habe, nämlich mit dem Kommentar von Irony:

Irony schrieb:
Einer von zwei Kritikpunkten für mich war der etwas zu naturwissenschaftliche Einstieg.
Genau dieser Satz im Kommentar von Irony war es, der mich überhaupt erst in den Text lockte. Mach ich halt mal eine Ausnahme, dachte ich mir, weil ich Geschichten mit dem Stichwort Fantasy üblicherweise nicht anklicke.
Umso positiver war ich dann von dem Text überrascht, also sowohl die Idee als auch die Umsetzung fand ich wirklich klasse. Immerhin spielt sich ein Großteil der Handlung innerhalb eines klitzekleinen, nicht messbaren Bruchteils eines Augenblicks ab, dementsprechend wenig geschieht. Diese Nichthandlung allerdings derart spannend und interessant zu präsentieren, also da ist schon ein kleines Kunststück.

Asterix schrieb:
Physikalische und technische Details müssen hier zwangsläufig unrealistisch bleiben, wie in allen anderen Zeitreisegeschichten, sonst hättest du den Text wohl eher dem Patentamt präsentiert und nicht den Wortkriegern!
Damit hat Asterix zweifellos recht, aber für mein Gefühl gehst du mit diesem Dilemma recht geschickt um.
Unter Physikern werden ja ernsthaft Möglichkeiten erörtert, wie eine funktionierende Zeitmaschine beschaffen sein müsste. ( „Man nehme Materie mit der Dichte derjenigen eines Neutronensterns, bastle sich daraus einen Zylinder mit einer Länge von 100 km und einem Durchmesser von 65 km, versetze ihn in hinreichend schnelle Rotation …“ usw.)
Und als Alternative zu diesem, nun ja, nicht eben unaufwändigen Verfahren bemühst du ganz lässig ein gerademal zigarettenschachtelgroßes, vom Smartphone angesteuertes Frequenzmodulierungsdingsbums.*) Das ist natürlich einigermaßen keck. Aber irgendwie auch sehr originell.
Überhaupt umschiffst du die Klippe der naturwissenschaftlichen Unseriosität sehr souverän: Dein Protagonist redet von Anfang an ja weniger von Zeitreisen, als vielmehr von Zeitmanipulation. Und weil diese nur die individuelle und entsprechend subjektive Weltwahrnehmung des Erzählers betrifft, verletzt der Plot vermutlich kaum ein physikalisches Naturgesetz. Sehr pfiffig.
Und so verschafft sich dieser Typ (unfreiwillig) sein persönliches ewiges Leben, sein ganz privates Jenseits sozusagen und offenbar liegt es jetzt ganz an seiner psychischen Robustheit, was er daraus macht. Ob er seinen Himmel oder seine Hölle erlebt. (Wobei mich das Wurzelziehen im Kopf am ehesten ans Fegefeuer erinnert.)
Oder soll die Figur des Jungen am Schluss andeuten, dass es doch einen möglichen Ausweg aus dieser schrecklichen Paralyse gibt?
Wenn nicht, müsstest du die Stichwortwahl wirklich noch einmal überdenken. Dann fände ich das Stichwort Horror passend.
Wenn ich mir nämlich vorstelle, in welch furchtbarem Paralleluniversum dein Ich-Erzähler da festhängt, scheint mir die Horrorabteilung durchaus angemessen. Das meine ich ganz im Ernst, also sich auszumalen, ob und womöglich was da so abgeht im Gehirn, wenn man bei vollem Bewusstsein seines Körpers quasi verlustig gegangen ist, hat schon was gewaltig Beklemmendes, da kann ich eigentlich gar nicht darüber nachdenken, ohne dass es mir die Nackenhaare sträubt …
Und natürlich könnte man auch noch das Stichwort Philosophisches dranhängen, weil, was ist philosophisch betrachtet spannender als dieses Draußensein aus der wirklichen Welt, dieses Abgeschnittensein von fast allen äußerlichen Reizen, dieses Reduziertsein ausschließlich auf die eigenen Gedanken?… Was ist dann überhaupt noch die Wirklichkeit und natürlich kommt mir da Platons Höhlengleichnis in den Sinn usw., bla bla bla …

Und apropos in den Sinn kommen, bzw. apropos Horror: Beim Lesen fiel mir sehr bald Perditas (großartige!) Geschichte Purgatorium wieder ein, in der es vereinfacht gesagt darum geht, dass das Bewusstsein eines Menschen über seinen physischen Tod hinaus in digitalisierter Form erhalten wird. (Warum und von wem, tut hier nichts zur Sache.) Und ich erinnerte mich daran, wie mir schon damals diese schreckliche Vision im Kopf herumgeisterte, wie es möglicherweise dem einen oder anderen Komapatienten gehen könnte … der vermeintlich jeglicher Außenreize beraubt einfach nur so herumliegt, in Wahrheit aber was weiß ich was für Alpträume erleben muss, ununterbrochen, immer, nix dagegen tun kann … jessasmaria! Eine furchtbar abstruse Vorstellung, ich weiß, aber genau daran musste ich beim Zustand deiner Figur hier wieder denken.

Und apropos Perdita:

Perdita schrieb:
Ja, und zuguterletzt ist beim erneuten Lesen bei mir eine totale Verwirrung entstanden, darüber, wie das mit der subjektiven Zeitwahrnehmung eigentlich funktioniert.
[…] ich habe jetzt den Eindruck, dass es möglicherweise einen Logikfehler gibt.
Das scheint ein diesem Thema immanentes Problem zu sein, glaub ich. Das Phänomen Zeit zu begreifen, ohne dabei dem Wahnsinn anheimzufallen, ist vermutlich nur einer handverlesenen Schar von brillanten Köpfen vorbehalten.
Und weil ich mich leider nicht zu denen zählen darf, war ich mir auch beim Titel meines Beitrages unsicher:

Muss es in Bezug auf diese Geschichte jetzt „Lost in deceleration?“ oder „Lost in acceleration?“ heißen? :D

Eine tolle Geschichte, chricken, die mir wirklich viel zum Nachdenken gab.


offshore

*)

Ich habe mir ein überraschend einfaches Gerät, etwa halb so groß wie meine Handfläche, mit Heftstreifen an der Stelle am Kopf befestigt, wo die Wirbelsäule in den Schädel übergeht. Hier misst sie [?] die Gehirnströme in der Gegend des Hypothalamus.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo chricken,
es war der Titel, warum ich die Geschichte lange nicht gelesen habe. Dann bemerkte ich, dass Deine Geschichte nichts mit der Zeitmaschine von Wells zu tun hat, dafür aber an Wells Geschichte The New Accelerator anknüpft. Wells verwendete keine Apps, sondern neue Pillen, die dem die Protagonisten das Gefühl gaben, die Zeit würde schneller vergehen.

Gammawellen liegen normalerweise bei bis zu 100[Leerzeichen]Hz. Im Manipulator habe ich eine Taktschaltung aus einem handelsüblichen PC verwendet, der mit bis zu 2[Leerzeichen]GHz schwingt.
Und hat damit die Beschleunigung auf Maximum gestellt.
Minimum? Die Zeit steht doch fast still.
... Die Zeit vergeht - nur für mich.
Vorschlag: Die Zeit vergeht für mich langsamer.
Und vielleicht kommt dieses Signal irgendwann im Daumen an und bewegt ihn wieder nach rechts.
Das ist interessant. Jetzt stell Dir vor, zwei Liebende stellen beim Orgasmus auf „langsamer“.
Ich verstehe nicht, warum Du den Tag Fantasy verwendet hast.
Das könnte eine Einführung für viele weitere Geschichten sein. Zeitbeschleunigung im Wartezimmer und Behandlung des Zahnarztes, im Gefängnis, Im Stau, etc. Verlangsamung während Prüfungen, etc.
Ich habe Deine Geschichte sehr gerne gelesen. Den Anfang fand ich etwas zäh; er regte aber zum Nachdenken an. Im zweiten Teil passierte dann das, was mich fesselte.
Viele Grüsse
Fugu

 

Hallo und vielen Dank für Eure angenehmen Worte.
Es freut mich sehr, dass die Geschichte nach Wochen doch noch gelesen wird ;)

Liebe Perdita:
ich liebe Deine Geschichten, insbesondere Purgatorium. Deswegen freue ich mich immer besonders, einen deiner angenehmen, konstruktiven Kommentare zu lesen.
Ich habe nochmal darüber nachgedacht und muss sagen: Kein Logikfehler, nur schwer vorstellbar.
Vielen Dank an Irony an die Ausführungen, denen nichts hinzuzufügen ist.
Besonders freue ich mich, dass der Junge nicht mehr als störend sondern eher als Bereicherung empfunden wird. So war er auch gedacht.

Liebe(r?) Irony,
in der von mir konstruierten Welt ist die einzige Aufgabe des Gehirns, die Gedanken des Bewusstseins in Biochemie umzuwandeln. Quasi in stofflichen Willen.
Dafür, dass das Bewusstsein ohne Gehirn funktioniert, gibt es echte Hinweise in Form von OBEs und Nahtoderfahrungen. Daher auch diese Idee und die Verbindung zum Jungen.

Lieber Asterix,
vielen Dank für Deine warmen Worte.
Und eine Moral hat meine Geschichte durchaus: Denk an Grenzwerte, wenn Du einen Schieberegler programmierst ;)

Lieber Ernst,
wow, so viel Lob in einem Kommentar. Ich bin wirklich gerührt.
Als erstes habe ich natürlich den Fehler korrigiert, den Du angezeigt hattest.
Und ich denke, Du hast Recht. Die Geschichte muss den Tag Horror bekommen und aus Fantasy heraus fliegen. Ich habe nur keinen Plan, ob und wie ich die Kategorien ändern kann.
Kann da jemand aushelfen?

Lieber Fugu,
die Beschleunigung des Bewusstseins sorgt dafür, dass die Außenwelt langsamer wird. Wenn das Bewusstsein immer schneller beschleunigt wird, dass bewegt sich die Außenwelt gefühlt immer langsamer. Bis sie im Extrem zu stehen scheint.
Deswegen steht die Welt still, wenn die Beschleunigung auf Maximum ist.
Ich fürchte, eine Serie gibt das Thema nicht her, bestenfalls eine Fortsetzung. Aber eigentlich glaube ich nicht mal das.

 

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