Ü B E R A R B E I T U N G
Mit dem Aufstehen setzte bereits die Nervosität ein. „Das ist gut“, dachte Sarah, „ist man vorher nervös, ist man es während der Prüfung nicht". Einige Male hatte sie dieses Phänomen, dass sich Nervosität verbrauchen kann, an sich selbst beobachtet und nahm es als gutes Omen für ihren letzten Unterrichtsbesuch als Referendarin. Von morgen an würde sie endlich mit voller Autorität und Weisungsgewalt den Schülern gegenübertreten können und unterrichten, wie sie es für richtig hielte. Noch aber galten andere Gesetze, so war das Thema der Stunde auch nicht nach ihrem Geschmack, sondern durch die Prüfer vorgegeben: Kants kategorischer Imperativ.
Als Unterrichtseinstieg wählte sie eine Karikatur, die einen Menschen zeigt, der auf dem Weg zu einem erfüllten Leben zwischen Moral, Anstand und Verantwortungsgefühl auf der einen Seite und Triebe, Gier und Egoismus auf der anderen Seite hin und hergerissen ist. Und tatsächlich, die Schüler sprangen darauf an, erst Gelächter, dann Meldungen von fünf, sechs Schülern, die bereits mit dem Interpretieren beginnen wollten.
„Das ging ja schon mal gut“, dachte Sarah Höllengreen, während sie den ersten Schülern das Wort erteilte. „Geradezu lehrbuchhaft wie hier Motivation und Sensibilisierung für das Thema verknüpft wurden.“ In diesen und ähnlichen Gedanken schwelgend, versäumte sie es, die ersten Schüleräußerungen zu verfolgen. Munter erteilte sie jedem das Wort, der sich meldete, manchen bereits zum zweiten oder dritten Mal. Sie streifte den Blick einer Mitreferendarin, die Sarah um Erlaubnis gebeten hatte, an der Prüfung teilzunehmen und die nun hinten bei den Prüfern saß. Der Blick verhieß nichts Gutes und es stimmte, sie war im Begriff den roten Faden und direkten Zug zum Hauptthema zu verlieren. Sollte sie die Diskussion einfach abbrechen und direkt überleiten. Nein, dann hätte sie sich den ganzen Einstieg sparen können. „Leha, mir ist noch nicht ganz deutlich geworden, weshalb du das Medium Fernseher in die Diskussion einbringst? Geht es bei der Karikatur nicht um was ganz anderes?“
„Das habe ich doch versucht klarzumachen“, antwortete Leha: “Das Ziel des Mannes ist ein erfülltes Leben. Auf dem Weg dorthin, steht er im Konflikt zwischen Moral und Selbstsucht. Das ist aber in keiner Weise mehr zeitgemäß: Mit dem Verlust an den Glauben an eine höhere Instanz oder Gerechtigkeit gibt es keinen Grund mehr, wegen Moral oder irgendwas darauf zu verzichten, die eigene Gewinnsucht und Triebe auszuleben.“ „Genau“, fiel Patrick ihr ins Wort, Ethik und so was interessiert doch gar keinen mehr, danach richtet sich auch keiner. Um das zu begreifen, muss man nicht erst den Fernseher anschalten. „Bitte melden, wenn du was sagen möchtest “ reagierte Referendarin Höllengreen und gab Leha das Wort zurück: „Ja, es ist wie Patrick sagt, selbst Gesetze verhindern das nur insoweit, wie der Einzelne klar vor Augen hat, dass bei Verstößen harte Konsequenzen drohen. Aber das alles ist nicht das Problem, das Problem liegt bei der Karikatur ganz woanders: Es gibt keine Träume mehr. Wenn die Menschen noch Träume hätten, würden sie sich von nichts abhalten lassen, sie umzusetzen. Aber statt sich auf den Weg zu einem erfüllten Leben zu machen, hocken die Leute vor der Glotze.“
Wenn es sich um eine normale Stunde handelte, wäre Sarah dankbar für diesen Redefluss. Aber wussten die Schüler denn nicht, dass der Fall hier anders liegt. Patrick, Christopher, gut, den beiden hatte sie eine 5 gegeben, aber Leha müsste wenigstens auf ihrer Seite stehen. Doch woher sollte Leha es besser wissen, hatte Sarah Höllengreen sie doch immer reden lassen und sie am Ende dafür mit guten Noten belohnt, weil sie ein Garant für wenig aufwendige Stunden war: Eine interessante Folie, ein Wort gab das nächste und in Windeseile waren 45 Minuten um.
„Leha, du sagst, die Leute sitzen vor dem Fernseher und entziehen sich auf diese Weise dem sozialen Leben. Gehen wir mal davon aus, dass sie nur abends fernsehen, einen Großteil ihrer Zeit verbringen die meisten Menschen aber auf der Arbeit oder wie wir in der Schule, also mit anderen Menschen. Wenn man das berücksichtigt, ist es dann möglich, ein erfülltes Leben zu haben, wenn man völlig egoistisch und ohne Rücksicht auf andere lebt? Was würde denn passieren, wenn man das täte?“
Dass sich spontan keine Hand erhob, verunsicherte Höllengreen nicht. Sie glaubte, dass sie eine gute Frage gestellt hatte und jetzt nur noch eine Schülerantwort abwarten müsse, bis sie zum kategorischen Imperativ überleiten könne. In den Beratungsgesprächen sagte man ihr immer wieder, dass sie den Schülern mehr Zeit zum Überlegen geben solle und nicht in Endlos-Fragen verfallen dürfe, wenn nicht auf Anhieb eine Meldung erfolgte.
Dann der erste Finger. Ausgerechnet Christopher. Er wusste einiges über Philosophie, zumindest liest er. Allerdings scheint er sich allen Philosophen überlegen zu fühlen und nutzt sein Wissen zur Konfrontation, besonders gegen Höllengreen. Sarah hatte gehofft, immer so viele Meldungen zu haben, dass sie ihn nicht drannehmen müsse. Dann die Ungeheuerlichkeit. Als Sarah ihn ansah, nahm er sich das Wort: „Ich glaube nicht, dass Sie Leha da richtig verstanden haben. Sie sprach eben nicht von der Art und Weise, wie man zu einem erfüllten Leben kommen sollte, sondern davon, dass ein erfülltes Leben gar nicht mehr möglich ist, man lebt zwar, aber es ist ein Leben ohne Träume und somit ein Leben ohne Erfüllung. Gäbe es noch Träume, würde man wie Patrick schon sagt, sicher alles tun, um sie zu erreichen, auch jenseits aller Moral. Das Problem liegt aber tiefer, nämlich bei der Frage, weshalb es keine Träume mehr gibt.“
Sarah Höllengreen wandte sich von der Klasse ab und ging auf die Tafel zu. Sie wollte verhindern, dass man an ihren Augen den Hass ablesen konnte. Wusste Christopher, was er da tat, war es Vorsatz? Wie es auch war, sie musste darauf eingehen und es beiseite räumen, und zwar möglichst schnell und möglichst elegant. Doch wo ansetzen? Wut hinderte sie daran, einen klaren Gedanken zu fassen. War der Lehrerberuf überhaupt das Richtige für sie? Schon öfter hatte sie gezweifelt, doch schob sie alles Unbehagen immer auf das Referendarin-Dasein. Wären die Prüfungen, geschafft, würde es besser, begänne das Leben. Die Vorstellung, sechs lange Wochen Jahr für Jahr in der Karibik verbringen zu können, gab die Kraft, die reichte, um sie bis zu dieser letzten Prüfung zu bringen. „Dass es keine Träume gibt, kann man so aber nicht stehen lassen. Ich wette, jeder von euch hat einen, wenn man sich ihn vielleicht auch nicht öffentlich zu äußern traut.“
„Man müsste erst mal klären“, meldete sich Leha erneut zu Wort, „was Träume überhaupt sind. Meiner Meinung nach sind es Vorstellungen, von denen man glaubt, dass sie Leben wunderbar, zumindest aber besser machen, wenn sie sich erfüllten. Aber eben solche Vorstellungen gibt es nicht mehr. Alles, was es in der Welt gibt, was an Leben möglich ist, kennen wir bereits aus dem Fernsehen. Die Realität erblasst dagegen, denn nichts schmeckt in der Wirklichkeit so gut wie es uns das Fernsehen vorgaukelt.“
„Aber Leha“, entgegnete Höllengreen, „alles, was Leben lebenswert macht, Gerüche, das Fühlen mit der eigenen Haut und dergleichen mehr, kann das Fernsehen doch gar nicht bieten!“
„Joa,“ schnitt nun Sabrina der Referendarin das Wort ab, „ das Leben ist stinkiger. Das ist auch das einzige. Allein der Mief in diesem Klassenzimmer. Und was den Geschmack betrifft: Was schmeckt ist ungesund, haben wir gerade in Biologie gelernt. Gilt nicht immer, aber für all die Dinge, die man heutzutage so in Supermärkten kaufen kann, gilt es.“
„Ach Sabrina“, seufzte Sarah, „stell dich doch nicht dümmer als du bist. Ob man etwas erlebt oder lediglich im Fernsehen sieht, ist doch wohl ein erheblicher Unterschied“. „Weit geringer als Sie meinen,“ Frau Höllengreen, „eigentlich gar nicht. Wenn ich hier nun sitze, erlebe ich auch nur mit Augen und Ohren, im Grunde nichts anderes als Fernsehen. Und so ist es immer, egal was es ist. Nur ist das Fernsehprogramm meist qualitativ hochwertiger. Klar ein Argument gibt es, so können Sie mir jetzt mit Sex kommen. Aber das sagte vorhin schon jemand, Sex und Gewalt werden zunehmen.“
Sarah Höllengreen durchlebte ein Ohnmachtsgefühl. Wollte sie die Prüfung mit einer 2 vor dem Komma abschließen, dürfte sie an dieser Stelle auf keinen Fall mit der Brechstange arbeiten. Sie muss die Schüler dort abholen, wo sie stehen, um sie dann mitzunehmen in das neu zu erschließende Thema. Aber wie sollte sie sie dorthin bekommen? Außerdem gelang es ihr nicht mehr "mitzudenken". Sie kannte das von anderen Prüfungssituationen. Die Schüler reden und sie ist nicht in der Lage, das Gehörte aufzunehmen und zu verarbeiten; auch jetzt war es so: „Warum glaubt ihr denn, dass es keine Träume mehr gibt? Ja, bitte Lars.“
„Also ich habe Leha und Christopher so verstanden, dass alles was an Leben möglich ist, den Menschen aus dem Fernsehen bekannt ist. Sie haben alles bereits vorgelebt bekommen und denken allmählich, ja so doll ist das auch nicht, wenn Dummjungs zu Superstars werden. Und ich kann nur zustimmen, in drei Jahen will niemand mehr ein Superstar werden, geschweige denn einen sehen. Da ist kein Geheimnis mehr, nichts Interessantes. Man wird es über haben. Wenn die Leute überhaupt noch Träume haben werden, dann solche, die man im Fernsehen nicht im Detail vorgelebt bekommt. Praktisch überall dort, wo es sich um Sex oder Gewalt handelt.“
„Gut Lars, aber ist das nicht zu kurz gedacht. Gibt es da nicht viel mehr, was uns Fernsehen nicht bieten kann?“
„Ja“, nahm Lars wieder das Wort an sich, „ das schon, aber es interessiert keinen. Niemand geht in den Wald, um die Frische der Luft zu atmen oder so was. Das ist nicht neu, das begeistert nicht. Ich vermute, es wird eher eine Zuspitzung dessen geben, was bisher Ausnahme ist: Die Leute werden ganz einfach gewalttätiger. Aber Träume, nein, Träume sind da keine mehr, auch das Spazierengehen im Walde ist keiner!“
Sarah verstand, dass die Stunde gelaufen war. Es ging nicht mehr um Noten, es ging nur noch ums Bestehen. Und sie ahnte, dass das Bestehen davon abhängig war, die Schüler von diesem Missverständnis wegzubringen. „Aber Leute, ihr vertretet doch nicht ernsthaft die Meinung, dass es keine Träume mehr gibt, und wenn, dann nicht nur solche, die mit de Ausleben von Gewalt zu tun haben. Das kann doch nicht euer Ernst sein! Was denkt ihr denn, wofür ihr lebt?“
Noch bevor Höllengreen abermals Leha das Wort erteilte, wusste sie, dass diese Frage ein Fehler war. Die verbotene Frage, wie ihr Fachprüfer sie mal im Seminar nannte. Der Schrecken über diese Gedanken durchzuckte sie und nahm ihr die Geistesgegenwart, die sie gebraucht hätte, um noch korrigierend einzugreifen. Sie sah auf die Uhr: Noch sechs Minuten.
Was Leha sagte, konnte Sarah nicht mehr verfolgen. Das hielt sie auch nicht mehr für wichtig. Sie kannte die Antwort, es wäre auch ihre gewesen: „Wir leben, um zu verhindern, dass unser Leben schlechter wird. Deswegen gehen wir zur Schule, deswegen unterwerfen wir uns Prüfungen. Ja wirklich, Leben ist wie Zähneputzen. Für den der putzt, werden die Zähne nicht besser, für den der nicht putzt, werden sie schlechter und schlechter. Glück oder gar Träume haben da keinen Platz.“
Dass die Schüler eine Reaktion auf Lehas Worte erwarteten, bemerkte Sarah nicht. Auch überhörte sie das Klingelzeichen. Ihre Gedanken kreisten um Sommerferien und Karibik und darum, wie wenig es sie schmerzte, dass diese Pläne mit dem heutigen Tage ad acta gelegt sind. Als einzelne Schüler aufstanden und den Raum verließen, kam sie wieder zu sich. Ein letztes Aufbäumen in ihr ließ sie die Worte flüstern: „Den Unterricht beende ich!“ Aber das hörten die meisten Schüler gar nicht mehr. Und auch Sarah wusste, dass es darauf nicht mehr ankam. Doch sie weinte nicht, sie war gefasst und packte ihre Sachen zusammen. Erst als sie in die Gesichter der letzten Reihe sah, wechselte ihre Gemütlslage. In ihren Körper schlich sich eine große Lust, die Abhängigkeitssituation zwischen ihr und ihren Prüfern umzukehren. "Am besten mit Waffengewalt", lautete einer ihrer Gedanken.