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Es gab wirklich schlimmeres
Es gab wirklich schlimmeres
Mit dreckiger Wäsche und ein paar Büchern im Rucksack ging ich in den Bahnhof rein. Mein Zug fuhr erst in einer halben Stunde, ich kaufte mir eine Dose Cola am Kiosk und sah mich um.
Die Menschen hatten sich ziemlich dünn gemacht. Vereinzelt sassen und standen sie in der Halle herum und warteten auf ihre Gelegenheit. Ich setzte mich auf einen freien Platz. Die Sitze waren so bitterkalt das mein Arsch anfing zu frieren. Manche Leute behaupten ja, davon bekäme man Hämmorriden. Aber das ging mich ja nichts an, war ja noch jung.
Die Dose stellte ich neben mich auf das Gitter und holte ein Buch aus dem Rucksack. "Rocktage" – von Dana Böhnisch. Ich hatte es mir vor ein paar Tagen gekauft. Einfach aus Interesse, nur um zu sehen was diese Popliteraten mal wieder vom Stapel gelassen hatten.
Dann kamen zwei Bullen in meine Richtung angelatscht. Mit breiten Schultern und vollbepackten Gürteln. Die Walter lag ihnen ruhig im Schaft und die Taschenlampe wackelte mit jedem Schritt am Hosenbein. Sie machten einen verdammt entschlossenen Eindruck.
Der Kerl neben mir, sah aus wie ein Inder, wurde ein wenig unruhig. Er wusste das die Typen es auf ihn abgesehen hatten, und nicht auf diesen glatt rasierten Deutschen mit dem Traveller Rucksack für achzig Piepen aus dem Karstadt neben ihm.
"Guten Abend. Können sie sich ausweisen?"
Der Inder stammelte irgend etwas und fing an seine Taschen zu durchwühlen. Die Bullen wurden ungehaltener und fragten erneut nach seinen Papieren. Er meinte er hätte keine Mitführpflicht, da er Deutscher sei. Wenn das stimmte hatte er sogar recht.
"Hey Mann. Zeig denen doch einfach deinen Ausweis, dann verpissen die sich wieder in ihr Loch.", sagte ich zu dem Inder ohne die beiden anderen auch nur anzuschauen.
"Halt dich daraus Junge, sonst bist du auch gleich an der Reihe.", zischte mich der ältere Bulle an. Vom Alter her, hätte er mein Vater sein können. Aber im Gegensatz zu diesem Kerl, ging mein Vater wenigstens einer ehrlichen Arbeit nach, auch wenn sie ihn langsam umbrachte.
Ich las weiter in dem Buch. Ich hatte gekniffen. Mittlerweile gaben sie über Funk seinen Namen durch um seine mündlichen Angaben zu überprüfen. Es sah schlecht für ihn aus, sie nahmen ihn mit.
Früher war ich ja selbst mal bei so einem Verein gewesen. Und was einem als Rekrut im Fach Psychologie so ziemlich als erstes eingebleut wurde, war, das man sich Vorurteile bilden musste, um einen Riecher zu bekommen. Und das Vorurteil vom kriminellen Ausländer, der sich wahrscheinlich noch illegal im Land aufhielt, war mit am verbreitetsten. Tja, so lief der Hase.
Mein Zug wurde angesagt. Zwei Minuten später sass ich im Abteil. Ich las wieder Dana Böhnisch. Das Buch war genauso teuer wie mein Zugticket gewesen. Irgendwie hatte ich das Gefühl das die Zugfahrt spannender war. Ich steckte den Schinken zurück in den Rucksack.
Die Landschaft krachte draussen am Fenster vorbei. Diesen Zug konnte nichts aufhalten. Weder Polizeisperren, miese Schriftsteller noch Selbstmörder hatten eine Chance. Hier war ich sicher.
Ich ging in das Raucherabteil. Dort sass nur die Schaffnerin herum. Sie machte einen ziemlich gelangweilten Eindruck, wartete wohl das es Feierabend wurde. Ich setzte mich in die Sitzreihe ihr gegenüber und stellte mir vor wie es wäre, wenn ich jetzt keine Fahrkarte einstecken hätte.
"Entschuldigen sie, wollen sie mich heute nicht kontrollieren?"
"Nein. Heute nicht mehr.", das war unser ganzes Gespräch.
Der Zug hielt an einer Station. Sie stand von ihrem Platz auf um den Lokführer die Kelle zu schwenken. Was soviel zu bedeuteten hatte wie, freie Fahrt, keine Irren die vom Bahnsteig gerutscht sind oder auf den Zug springen wollten. Weiss der Teufel, irgendwie so was.
Als sie fortging, musste ich ihr auf den Arsch sehen, der sich stramm in ihrer Hose spannte. Sie kam nicht wieder.
Wieder zurück im anderen Abteil setzte ich mich quer zur Fahrtrichtung und stellte lässig meine Schuhe auf die gegenüberliegende Armlehne. Draussen schossen die Lichter vorbei wie Glühwürmchen die man mit dem Laubsauger davon blies. Da es dunkel war, konnte ich jetzt diesen Typ sehen, der sich mir gegenüber im Glas spiegelte und da sass, wie ein aufmüpfiger Klugscheisser der nicht alle Tassen im Schrank hatte. Dieser Idiot der nach Hause fuhr, den alten Zeiten nachtrauerte als würde davon sein Leben abhängen, und vielleicht tat es das auch.
Der zurückfuhr zu denen die zuviel Marx und Charles Bukowski gelesen hatten und sich deswegen verdammt wichtig vorkamen. Zurück zu denen die nur ihre Freundin und deren Eltern im Kopf hatten, und für sonst niemanden Zeit. Zurück zu denen die irgendwo studierten, ohne wirkliches Interesse an der Sache, nur in der Hoffnung ihren Arsch zu retten.
Jetzt bekam ich Durst. Aber ich hatte die Dose auf dem Sitz stehen gelassen, da ihm Bahnhof. Verdammte Scheisse. Irgend jemand freute sich bestimmt tierisch. Naja, es gab schlimmeres als eine Dose Cola zu vergessen.
Es war an der Zeit auszusteigen. Der Zug fing an zu bremsen. Endstation. Es waren nicht viele Leute auf dem Bahnsteig. Was hatte man auch hier verloren, in dieser toten Gegend, ausser man war hier geboren. Ich ging durch die Unterführung, dann noch eine Tür und ich stand auf dem Vorplatz. Eine Autoalarmanlage ging los und ein Kerl hatte es jetzt besonders eilig, sich aus dem Staub zu machen. Ein Schwarzer stand einfach da und pisste an die Mülltonnen. Wow, dachte ich, gibt es doch noch immer Leute mit ein wenig Mumm in dieser Kleinstadt.
Ich schmiss dieses lumpige Buch mit dem Selbstmord am Ende dorthin wo es hingehörte, an die frisch vollgepissten Mülltonnen. Dann stolperte ich die Treppen runter, hinein in diese ungenaue Wirklichkeit, die früher mal mein zu Hause war.