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Es empfängt die Urne ...
Das Ost stand vor dem großen Haus und wollte hinein, doch darinnen war gerade das West, welches hinaus wollte. Sie schauten sich eine Weile an, dann sagte das Ost zum West: „Komm doch heraus, dann kann ich hinein.“ Aber das West rührte sich nicht, es stand da und überlegte angestrengt. Schließlich meinte das West: „Ich mag aber nicht heraus kommen, ich will lieber hinaus. Denn schau, wenn ich hinaus gehe, dann kannst du sogleich herein.“
So redeten sie eine Weile aneinander vorbei, die Worte gingen zum einen Ohr hinein und kamen bei dem anderen Ohr wieder heraus und umgekehrt, so dass alsbald die ganze Welt mitsamt ihrer Sprache auf dem Kopf zu stehen schien.
Aus diesem Wirrwarr lösten sich allmählich das Hin und das Her. Sie sangen um ihrer selbst willen und weil sie Freude daran hatten und weil die Welt so schön war und überhaupt ihren uralten Kinderreigen: „Einmal Hin, einmal Her, ringsherum das ist nicht schwer.“ Dabei fassten sie sich bei den Händen, drehten sich im Kreis und lachten voller Übermut. Sie tanzten immer doller, umeinander kreisend wirbelten sie umher, bis sie nicht mehr wussten, ob sie Wirbelkreis oder Kreiswirbel waren, ob Ost oder West oder einig deutsches Vaterland. Und so zertanzten sie die Mauer und den Stacheldraht.
Da gingen nun mählich die Jahre ins Land und alles wurde besser. Die Landschaften erblühten, und aus purer Langeweile wechselte eines Tages die eine Regierung die andre ab. Genug geblüht hatte es, die Natur braucht Ruhe und wer sich erhitzt, der muss abgekühlt werden. So begab es sich schließlich, dass nicht nur Pflanzen, Tiere und gar die Menschen geil wurden, sondern auch noch der Geiz.
Von nun an wurden öffentlich gepriesen Ellenbogen und Raffzahn, eng gegürtet die Geldbeutel, gehuldigt dem Starken und getreten der Schwache, dem Eigenverantwortlichkeit für seine Benachteiligung vor dem Leben aufgebürdet ward. Und garstige Reigen wurden wieder auf den Straßen getanzt. Das war die Zeit, als die Agenda sich breit zu machen begann, gleich nach der Abschaffung der Demark.
„Wir sind der Hartz!“, riefen die Leute, und „Das Volk muss weg!“. Die Widergänger wollten alles ganz anders und so gab es ein Frohlocken, doch kein Manna regnete vom Himmel. Schließlich wusste die Schwester nicht mehr, ob sie dem Bruder trauen durfte und das Kind nicht, ob die Eltern wahr sagten.
Von allen unbemerkt hatte sich eine hurtige Alte herangeschlichen. Sie sah dem wüsten Treiben mit maliziösem Lächeln zu und summte leise vor sich hin:
Denkt ihr, ich hätte nichts bemerkelt?
Das ist so wie gefirlefanzelt –
Und gehört schnell abgekanzelt!“
Sie bedurfte starker Geister, um Bannfluch und Hoffnungsschimmer zu gleicher Zeit zu sein. Ein schöner Bohm ritt auf den verlorenen Seelchen der ungetauften Toten durch ätherische Gefilde. Er sollte ihr Wachrüttler sein für die entwerteten Wertlosen der alten Kolchosen, die ihre Babys schlachteten für die ruchlosen heidnischen Bräuche.
Bald gesellten sich stoibchenweise empörte Klugfurzer schuplattelnd hinzu. Auch sie verkündeten den frustrierten Fontainen und Fontanen, die dort rund um die Brandenburg hausten, den Klang der Trompeten von Jericho, welche vor Jahren die Mauer gestürzt hatten. Die Mauer, die getrennt hatte die Spreu vom Weizen und welche die Brüder schied in die Dummen und die Klugen. Und so schmetterten die Trompeten: „Ihr sollt nicht wählen die, die falsch Zeugnis legen ab von unserer Republik der Bajuwaren, welche ist die wahre Republik, ein freier Staat und Hort der klugen Menschen.“
Da wollte die Alte am liebsten fünfe gerade sein lassen und konnte es doch nicht tun. Die Quadratur von Brutto und Netto im Nullsummenspiel musste bei Hofe gelöst werden, und auch die Kirche sollte nicht fehlen. So begab es sich, dass der Professor die Große Vereinheitlichte Theorie verkündete, seine Vision aufschwebte von den gleichgemachten Akzisebringern. Auf wallte es im ganzen Reich, ein Gemurmel hob an und Scharren von Füßen, ein Murren hier, freudengetaumelte Hosianna-Gesänge dort.
War taub das rechte Ohr oder blind das linke Aug’, in dem erglomm die Träne schweinwerferbestrahlt im TV-Studio? Moderates Gesumm kräuselte sich durch das luftige Stickicht und hüllte die Füße in wattige Weichheit, brachte sie auf schwankenden Planken zum Wanken durch das Wort, gerichtet an die Listenreiche:
Nicht ewig die Zeit, gleich rauscht der Wind.
Ein Kirchhof im Merz
Der Frühling zieht ein
Ein Tandem im Herbst
Gelenkt will es sein.
So weit war es also gediehen und die Geschehnisse hatten ihren Lauf genommen und noch immer war es eine Republik der Leutseligen und der Dummen, der Geraden und der Krummen.
Nur eines ist jetzt so ganz anders als in den guten alten Zeiten: Im Osten geht nichts mehr seinen sozialistischen Gang, und über Wanne-Eickel hängt der Mond so schief wie noch niemals zuvor, nicht einmal bei Frank Zanders Lied von Rosi.
Aufi geht’s und lasset uns spielen mit den Farben der Nation Schwarz-Rot-Gelb, stickt der Flagge eine Borte aus Grün und Rosa ... nur, verehrte Damen und Herren, Parteifreundinnen und Parteifreunde, Genossinnen und Genossen, nur zieht sie nicht durch den Kakao, auf dass sie nicht braun werde und uns ins Verderben führe.
Lasst aufregende Lieder unser mürrisch Gemüt beflügeln am Wahlsonntag, schmettert die blutrünstige Hymne der Nachbarn: Allons enfants de la Patrie, le jour de gloire est arrivé !
Und wieder empfängt die Urne Zettel für Zettel das neue Leben aus jeglicher Keimzelle der Gesellschaft, um zu gebären etwas, das wer wohl so gewollt hat?