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Es empfängt die Urne ...

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30.12.2003
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Es empfängt die Urne ...

Das Ost stand vor dem großen Haus und wollte hinein, doch darinnen war gerade das West, welches hinaus wollte. Sie schauten sich eine Weile an, dann sagte das Ost zum West: „Komm doch heraus, dann kann ich hinein.“ Aber das West rührte sich nicht, es stand da und überlegte angestrengt. Schließlich meinte das West: „Ich mag aber nicht heraus kommen, ich will lieber hinaus. Denn schau, wenn ich hinaus gehe, dann kannst du sogleich herein.“
So redeten sie eine Weile aneinander vorbei, die Worte gingen zum einen Ohr hinein und kamen bei dem anderen Ohr wieder heraus und umgekehrt, so dass alsbald die ganze Welt mitsamt ihrer Sprache auf dem Kopf zu stehen schien.

Aus diesem Wirrwarr lösten sich allmählich das Hin und das Her. Sie sangen um ihrer selbst willen und weil sie Freude daran hatten und weil die Welt so schön war und überhaupt ihren uralten Kinderreigen: „Einmal Hin, einmal Her, ringsherum das ist nicht schwer.“ Dabei fassten sie sich bei den Händen, drehten sich im Kreis und lachten voller Übermut. Sie tanzten immer doller, umeinander kreisend wirbelten sie umher, bis sie nicht mehr wussten, ob sie Wirbelkreis oder Kreiswirbel waren, ob Ost oder West oder einig deutsches Vaterland. Und so zertanzten sie die Mauer und den Stacheldraht.

Da gingen nun mählich die Jahre ins Land und alles wurde besser. Die Landschaften erblühten, und aus purer Langeweile wechselte eines Tages die eine Regierung die andre ab. Genug geblüht hatte es, die Natur braucht Ruhe und wer sich erhitzt, der muss abgekühlt werden. So begab es sich schließlich, dass nicht nur Pflanzen, Tiere und gar die Menschen geil wurden, sondern auch noch der Geiz.

Von nun an wurden öffentlich gepriesen Ellenbogen und Raffzahn, eng gegürtet die Geldbeutel, gehuldigt dem Starken und getreten der Schwache, dem Eigenverantwortlichkeit für seine Benachteiligung vor dem Leben aufgebürdet ward. Und garstige Reigen wurden wieder auf den Straßen getanzt. Das war die Zeit, als die Agenda sich breit zu machen begann, gleich nach der Abschaffung der Demark.

„Wir sind der Hartz!“, riefen die Leute, und „Das Volk muss weg!“. Die Widergänger wollten alles ganz anders und so gab es ein Frohlocken, doch kein Manna regnete vom Himmel. Schließlich wusste die Schwester nicht mehr, ob sie dem Bruder trauen durfte und das Kind nicht, ob die Eltern wahr sagten.

Von allen unbemerkt hatte sich eine hurtige Alte herangeschlichen. Sie sah dem wüsten Treiben mit maliziösem Lächeln zu und summte leise vor sich hin:

„Was wird hier so herumgewerkelt?
Denkt ihr, ich hätte nichts bemerkelt?
Das ist so wie gefirlefanzelt –
Und gehört schnell abgekanzelt!“​

Sie bedurfte starker Geister, um Bannfluch und Hoffnungsschimmer zu gleicher Zeit zu sein. Ein schöner Bohm ritt auf den verlorenen Seelchen der ungetauften Toten durch ätherische Gefilde. Er sollte ihr Wachrüttler sein für die entwerteten Wertlosen der alten Kolchosen, die ihre Babys schlachteten für die ruchlosen heidnischen Bräuche.

Bald gesellten sich stoibchenweise empörte Klugfurzer schuplattelnd hinzu. Auch sie verkündeten den frustrierten Fontainen und Fontanen, die dort rund um die Brandenburg hausten, den Klang der Trompeten von Jericho, welche vor Jahren die Mauer gestürzt hatten. Die Mauer, die getrennt hatte die Spreu vom Weizen und welche die Brüder schied in die Dummen und die Klugen. Und so schmetterten die Trompeten: „Ihr sollt nicht wählen die, die falsch Zeugnis legen ab von unserer Republik der Bajuwaren, welche ist die wahre Republik, ein freier Staat und Hort der klugen Menschen.“

Da wollte die Alte am liebsten fünfe gerade sein lassen und konnte es doch nicht tun. Die Quadratur von Brutto und Netto im Nullsummenspiel musste bei Hofe gelöst werden, und auch die Kirche sollte nicht fehlen. So begab es sich, dass der Professor die Große Vereinheitlichte Theorie verkündete, seine Vision aufschwebte von den gleichgemachten Akzisebringern. Auf wallte es im ganzen Reich, ein Gemurmel hob an und Scharren von Füßen, ein Murren hier, freudengetaumelte Hosianna-Gesänge dort.

War taub das rechte Ohr oder blind das linke Aug’, in dem erglomm die Träne schweinwerferbestrahlt im TV-Studio? Moderates Gesumm kräuselte sich durch das luftige Stickicht und hüllte die Füße in wattige Weichheit, brachte sie auf schwankenden Planken zum Wanken durch das Wort, gerichtet an die Listenreiche:

Nun löse das Rätsel, du Pfarrerskind.
Nicht ewig die Zeit, gleich rauscht der Wind.
Ein Kirchhof im Merz
Der Frühling zieht ein
Ein Tandem im Herbst
Gelenkt will es sein.​

So weit war es also gediehen und die Geschehnisse hatten ihren Lauf genommen und noch immer war es eine Republik der Leutseligen und der Dummen, der Geraden und der Krummen.

Nur eines ist jetzt so ganz anders als in den guten alten Zeiten: Im Osten geht nichts mehr seinen sozialistischen Gang, und über Wanne-Eickel hängt der Mond so schief wie noch niemals zuvor, nicht einmal bei Frank Zanders Lied von Rosi.

Aufi geht’s und lasset uns spielen mit den Farben der Nation Schwarz-Rot-Gelb, stickt der Flagge eine Borte aus Grün und Rosa ... nur, verehrte Damen und Herren, Parteifreundinnen und Parteifreunde, Genossinnen und Genossen, nur zieht sie nicht durch den Kakao, auf dass sie nicht braun werde und uns ins Verderben führe.

Lasst aufregende Lieder unser mürrisch Gemüt beflügeln am Wahlsonntag, schmettert die blutrünstige Hymne der Nachbarn: Allons enfants de la Patrie, le jour de gloire est arrivé !

Und wieder empfängt die Urne Zettel für Zettel das neue Leben aus jeglicher Keimzelle der Gesellschaft, um zu gebären etwas, das wer wohl so gewollt hat?

 

Hi Pied Piper,

da hst du dir ja wohl selbst ein Geburtstagsgeschenk gemacht, wenn auch einen Tag zu spät (Alles Gute nachträglich)

Jedenfalls merkt man der Geschichte an, wie viel Spaß du beim Formuliren gehabt habem musst. Und das tut ihr gut. Habe mich prächtig amüsiert.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Pied Piper,

kann mich sim da voll und ganz anschließen, eine sehr amüsante und kurzweilige Geschichte ganz nach meinem Geschmack.

Einen Tipfehler habe ich bemerkt in der zweiten Zeile "einen Weile" ein n zuviel.

Gruß
Thor

 
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Hallo sim, danke für das nachgetragene Gute :).
Ja, ich hatte Spaß beim Hin- und Herformulieren. Schön, dass sich die Freude daran auf Dich übertragen hat!

@ Thor, danke Dir auch für Dein erfreutes Echo! Und für die Aufmerksamkeit eben so - Fehler ist korrigiert.

Gruß Pied Piper :)

 
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Auch von mir Alles Gute nachträglich! :shy:
Allerdings muss ich sagen, dass mir die Geschichte nicht gefallen hat. Bei der Mitte hörte ich auf zu lesen.
Mir gefiel:
1. der Schreibstil nicht. (Aber das ist Geschmackssache!)
und
2. dass du derartig viele Themen auf die Schippe nimmst, nicht. Ein Thema hätte genügend Stoff für eine Geschichte geboten. (Aber das war ja wahrscheinlich beabsichtigt und ist auch Geschmackssache!)
MfG
ET

 

Hallo ETderAlien,

danke für den Glückwunsch!

Dank der Verschiedenheit unserer Geschmäcker gibt es so viele verschiedene Genres und Stilrichtungen. Dass nicht alles alle erreicht, ist eine ganz natürliche Folge. Schade, dass Du Dich weder Schreibstil noch Machart meines Urnenganges gewogen fühlst, aber so ist das halt.

Ich danke Dir für Deine unverblümte Meinung.

Gruß Pied Piper :)

 
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Mahlzeit!

Also, ich persönlich bin ganz und gar kein Freund solcher Texte, die möglichst viele möglichst große Themen in einem möglichst wilden Wortgeschwurbel aufnehmen wollen ... das ist für mich aufgesetzt und zu sehr gewollt und furchtbar aufgeblasen. Erzählerisch gibt das nicht viel her (gibt es hier einen Plot außer der nackten Chronologie neuster deutscher Geschichte?) und ich habe immer den bösen und paranoiden Verdacht, es diene lediglich dem einen Zweck, nämlich den Leser mit folgendem Gefühl zurückzulassen: "Naja, ich hab zwar nur die Hälfte kapiert und fands auch irgendwie echt doof zu lesen ... aber es geht ja um wichtige Themen und so, also wird er sich schon was dabei gedacht haben..."

Zudem ist politische Satire mE heutzutage schon fast redundant, weil die Wirklichkeit in dieser Hinsicht mittlerweile bekloppter ist alles, was man als Autor sich so ausdenken könnte. Zudem in dieser Form hier ... 'tschuldigung, aber ich finde das einfach nur gähn.

Hinzu kommen jede Menge vordergründiger und wirklich platter Wortspielwitzchen, die ich persönlich seit langem schon als ganz dicke "Don't"s in der Satire betrachte. Ich meine... Sachen wie "bemerkelt", "stoibchenweise" und Konsorten!? Paleeeze! Da rollen sich mir wirklich die Zehennägel hoch, sorry. :schiel:

Mein Fazit: Das ist für mich genau jene Form der ach so durchblickenden, tagesaktuellen, wortspielenden "Satire", um die ich sowohl als Leser als auch als Schreiber seit Jahren geflissentlich einen Bogen mache, den man - um schamlos Max Goldt zu zitieren - getrost als "groß" bezeichnen kann...

 

Hallo Horni,

da hast du ja ne Menge Geschwurbel gefunden – und ja, sicher war es gewollt, sonst wärs wohl nicht geschrieben worden (vielleicht lerne ich das noch, etwas ungewollt zu schreiben!).

Naja, ich hab zwar nur die Hälfte kapiert und fands auch irgendwie echt doof zu lesen ... aber es geht ja um wichtige Themen und so, also wird er sich schon was dabei gedacht haben...
Das ist wohl des Pudels Kern und so gesehen scheint es eher eine Frage der persönlichen Einstellung, der Sicht der Dinge zu sein. Das ist eben etwas, das gar nicht beeinflusst werden kann vom Autor, der offen oder versteckt auch seine persönliche Sicht der Dinge mit dem Text offenbart.

Du schreibst, dass „die Wirklichkeit bekloppter ist als alles, was man ... sich so ausdenken kann“ – ich glaub, dieser Punkt trennt uns vollends. Über das Ausgedachte kann ich lachen, manchmal so lange, bis das Lachen – verzögert – im Halse stecken bleibt. Über das, was sich tatsächlich abspielt eben nicht, weil es verdammt zu ernst ist, als es witzig zu finden.

Ich freue mich aber, dass du trotz deines Abscheus den Text gelesen und ausführlich kommentiert hast. Danke dafür!

Gruß Pied Piper :)

 

Naja, du hast halt das "Pech", das dies genau jene Art von "Satire" ist, der ich wirklich überaupt nichts abgewinnen kann ... u.a. weil sie in meinen Augen sehr leicht zu erstellen ist und letzten Endes aber wenig Gehalt für seinen Wortreichtum bietet. Denn mal ganz ehrlich: Wenn man von diesem Text mal das "Geschwurbel" abzieht, was bleibt dann noch an konkreter Kritik? An erzählerischem Inhalt? An echter "Transferleistung"? Was bleibt mehr als eine sprachlich aufgeplusterte und unnötig verschraubte Nacherzählung der Wirklichkeit? In meinen Augen leider nicht viel, sorry...

Pied Piper schrieb:
Du schreibst, dass „die Wirklichkeit bekloppter ist als alles, was man ... sich so ausdenken kann“ – ich glaub, dieser Punkt trennt uns vollends.
Mal ehrlich: Die Tatsache, dass eine Partei damit droht, eine Wahl anzufechten, falls sie verlieren sollte, mit der Begründung, sie hätte ja eigentlich gewinnen müssen, fände ich selbst als Satire-Plot schon fast zu derbe. Tatsächlich ist es mittlerweile politische Realität ... mir fällt da einfach nix mehr zu ein. In meinen Augen hat gerade im Bereich Politik die Wirklichkeit die Satire mehr oder weniger uneinholbar überholt. Insofern finde ich diesen deinen Text noch umso mehr ... naja, "verzichtbar". Er sagt nichts, was wir nicht schon wüssten, und er sagt es auf eine Art, die ich halt leider sehr unleserlich und ermüdend finde. Und zudem zeigt er nicht wirklich etwas auf o.ä., er persifliert nicht einmal. Er beschreibt lediglich mit unnötig geschraubten Worten - das ist wohl einer der Hauptunkte, die mich daran stören und mich schon fast daran zweifeln lassen, ob man das überhaupt noch als "satirische Erzählung" bezeichnen kann...

 

Hallo Horni noch mal,

ich hab schon so ungefähr geschnallt, worauf deine Kritik abzielt, das ist sicher nicht der Punkt. Es betrifft doch nicht nur die Satire, sondern generell die Literatur: Mancher schläft bei bestimmten Autoren ein, ein anderer wird von ihnen mitgerissen. Das ist halt genau so, wie zwischen Dittsche und Scheibenwischer Welten liegen oder nimm beliebige andere Personen.

Nur eine abschließende Bemerkung noch zum Thema Satire:

Es gibt annähernd so viele Bestimmungen der satirischen Schreibweise, wie es Satiriker gibt, und keine Bestimmung trifft auf die Gesamtheit der Satiren zu. Ihre Gegenstände, Mittel und Funktionen wandeln sich im Laufe der Geschichte. Es ist daher unmöglich, sie scharf von der Komik, der Parodie und der Polemik zu trennen.

Satirische Schreibweise

Ich denke, wenn die Geschichte für dich so geringen (oder eher gar keinen) Wert hat, ist sie einer weiteren Diskussion kaum wert.

Gruß Pied Piper :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Deswegen schrieb ich ja auch "für meinen Geschmack". Gibt ja andere, die dem Text offenbar was abgewinnen können. Wollte eben nur kundtun, dass ich selbst das nicht nachvollziehen kann. Ich bevorzuge eben eine ganz andere Art der Satire, that's all. ;)

Was ich allerdings recht objektiv bemängelnswert finde, ist der eklatante Mangel an Charakteren und Plot in dieser "Geschichte" ... je öfter ich über die Kernpassagen drüber lese, desto öfter kommt mir das Wort "Essay" in den Sinn ... :shy:

EDIT: Thx für den Link - werd den Artikel nochmal in Ruhe durchlesen, evtl. kann man den mit in der Rubriken-Präambel verlinken oder so.

 

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