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Es bleiben die Steine

Monster-WG
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10.07.2019
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Es bleiben die Steine

Na dann,
zog der Schimmel vom Dachbalken zum Isolierschaum. Knisterte ihn an. Fraß an der Statik. Dann am Einkommen. Im Namen der Konsequenz stampfte der Notarstempel einen Notarstempeldruck: Die Dienstleister von Abriss und Abräum verrichteten ihr täglich Werk:
Es blieben die Steine.
Einwohner des Tals stehen vor den Steinen, halten ihre Rollatoren fahrbereit geölt und sagen: „Der schlimmste Winter sei der Sommer im Tal“, daraus habe zu folgen:
„Alle haben Schimmel. Außer einem Haus“, womit gelte:
„Jasmin hat Glück gehabt“, dennoch:
„Niemand tat was. Schon wieder Abriss. Unrecht mit Unrecht vergolten.“
Sie nicken sich zu.
„Wie heißt die Kleine eigentlich?“

*

Jasmin,
ein ungewöhnlich zartes Kind, sehr zart für ein Baby, aber sorgen brauchen Sie sich nicht. Eine Frühgeburt mit 2400 Gramm, ein Fliegengewicht. Diese kleine Schönheit, Jessie lacht, strahlt, sie ist das Zerbrechlichste überhaupt, liebt Jasmin sie an, und bei der Ärztin fühlt sie sich bestens aufgehoben, wie schön das sei, sie lacht. Alle lachen, als begänne hier etwas und selbst die eingewohnten Omas lachen, die ihre Rollatoren eingeparkt und gesichert haben und so schöne Tipps geben, zum Auskochen der Babywindel. Es gibt kostenfreien Traubenzucker und Bonbons, selbst für Oma Mellitus, sind ja kein Zahnarzt, lacht die Sprechstundenhilfe, auch so eine gescheiterte Frühverrentung, Jasmin dankt allen so herzlich, ist es nicht schön, dieser Tag, jetzt mit Bude, jetzt mit Ausbildungsaussicht, bald hält der Schulbus wieder im Dorf, sie wird: Krankenschwester, ganz sicher, im Klinikum am Waldrand, sie wird: Krankenschwester und irgendwann treibt Inkasso-Toni, Christbaumzüchter und Vater der Treusorge, den Unterhalt des Albanen ein, des biologischen Jessie-Vaters, sie hat ein Wort gelernt: Chromosomenspender, buchstabiert es gut: Der albanische Chromosomenspender.

*

Im Büro des Ortsvorstehers,
„Die 17“
„Ist abgerissen. Die 43“
„Hat Schimmel. Und müsste instandgesetzt. Alle haben Schimmel, außer“
„Jasmin, ja, Jasmin." Sonne im Winter, das ist irre im Tal. Es bleibt“
„Moment, die Talstraße 36?“
„Neben Jasmin und dem kleinen? Balkon an Balkon? Fünfe neben dem Baby? Neben unserem einzigen Baby?“
„Das Schreiben des Bürgermeisters hat die Talstraße 36 als Unterkunft benannt. Hier.“
„Hier, ja, hier, ich bin der Ortsvorsteher, ich weiß. Sie ist eben erst eingezogen. Ganz frisch.“
Die Ehefrau hat die Scheiben mit Zeitung poliert, sie kann's einfach.
„Du bist nervös.“
„Ja klar. Ich bin der Ortsvorsteher. Ich, nicht Toni. Ich bin es.“
„Sollen wir Mittag machen?“
Sie kann die Buchteln so himmelperfektsüß kochen, ein talbekannter Genuss. Sie blicken: Talausgang und nackte Bäume von billiger Hand. Christbaumzucht Toni, Merry Christmas and a happy new year und ein Haus spiegelt die Sonne, das Haus der Wintersonne, wo die Jasmin ein Neugeborenes so treudoof hütet - denkt er.

*

Jasmin,
klar, von Mentholzigaretten werden die Finger auch gelb. Dennoch gilt: Kein Rauchen vor Babys, Kindern und Behinderten.
Das Kinderbett „übernahm“ der Christbaumzüchter, hat das Gitter in Schneeweißlack angestrichen:
„So unbefleckt.“
„Kannst gleich abhauen.“
„Ich sag ja nur.“
„Ich sag ja nur auch.“
Die Waschmaschine spendeten die Landfrauen, Babys bei uns, Babys mit uns, eine Eins A Waschmaschine, Turbolader, mit Programmen:
„Jasmin, wir brauchen so etwas nicht."
„Vielen Dank. Ja, echt, danke, ja.“
„Wir freuen uns sehr. Wir haben viele Kinder erzogen, wenn du Hilfe brauchst, sag' Bescheid oder komm' vorbei.“
Das Fernsehgerät spendete der Ortsvorsteher: Eine silbrige, glänzende Flüssigkeit läuft aus, die bei Berührung knistert, soll die Soap dich bilden und lehren vom perfekt gezogenen Lid- und Schlussstrich,
Jasmin.

*

Auf der Christbaumzucht,
wandert Toni samt Frau die Parzellen im Forstschritt ab. Sie zählen sich zum möglichen Bankrott: Trockene Sommer, trockene Weihnacht.
„Stell dir vor, Steiner nimmt die Talstraße 36.“
„Wie? Du meinst, als Unterkunft?“
„Verteidigung. Ich sage: Verteidigung. Das ist der Staatszerfall.“
„Jasmin, in der 38. Die ist alleinerziehend.“
„Das ist klar. Der Vater stapelt Holz aufm Balkan.“
„Chromosomenspender. Passt besser.“
Toni schüttelt einen Christbaum.
„Zu trocken. Schau. Der wird nix.“
„Der ist für den Ortsvorsteher“, sagt die Ehefrau.
„Der ist für den Ortvorsteher“
„Und wir schützen das Tal“, sagt die Ehefrau.
„Und wir schützen das Tal“, sagt der Christbaumzüchter und blickt auf das Haus der Talstraße 38. Ein Fernsehlicht brennt.

*

Rausche durch, rausche weiter, rausche an Bach, an Tal, Bäume unter Bäume, an alter Waldschenke samt Kegelbahn, an Christbaumzucht, rausche weiter und achte auf das Haus ohne Schimmel, das Haus der Wintersonne, sage: Verteidigung der Dörfer, buchstabiere es.
Busscheinwerfer der Buskolonnen blitzen zwischen Himbeer- und Brombeergestrüpp und Toni schreibt an Jasmin, es wird gefährlich, zu gefährlich, es ist alles so verdammt gefährlich, das ist: Der Staatszerfall, er betont das -s- lispelnd, der Staatszerfall, in der Aufregung versagt das sozialistisch-logopädische Training der Kindheit.
Staat-s-z-erfall, Lispeltrauma! Staat-s-z-erfall, Lispeltrauma! Er hasst das Wort.
„Die Gemeinde nimmt fünf auf, fünf an diesem Ort.“
„Sie dort! Sie, ja, Sie: Five! Xamsa! Five!“
Meldung: Ein Bus hält an, Jasmin kippt das Fenster und hinaus geht der Blick auf Ankömmlinge. Dem Abhaken von Busfahrer und Polizist. Den Köfferchen im Kegellicht. Vier Männer, in zerrupften shabby Jeans und rippchenschlank. Jasmin schließt das Fensterkipp. So ist das eben. Tja. Die Nachrichten Tonis? So ein dämlicher Mist, Gefahr, du mich auch, denkt sie. Jessie schläft gut und im Fernseher berichten sie nichts. Die Welt will verarbeitet sein, die Ankömmlinge verschwinden im Nachbarhaus. Gute Nacht.

*

Tja,
es gab da diesen Mann, diesen einen Mann, der von der Christbaumzucht ins Tal zog, der ein dickes Vorhängeschloss zuschloss, am Rande vertrockneter Nordmanntannen, sich eine Beruhigungs-Mentholzigarette anzündete, der seine schweren Stiefel anzog und zum Himmel schaute: Keine Drohne wird mich sehen.
Klar, war das Nacht.
Das einzige Kind im Tal gelte es zu schützen, Jasmin, die prallste Spätpubertät seit Jahren und dass sie, dass sie sich mit albanischen Landarbeitern verdingte, nee, also wirklich, nee.
Es gab da diesen Mann, der hörte, man solle handeln und nicht stehen. Wieder keine Drohne am Sternenhimmel, er stapft vor das Haus. Das Heim, er greift in einen Beutel der Steine. Der Fluchtweg führt hintenrum, ein Klammergriff um Elbsandstein, daneben, in einer Flasche guten bayerischen Klosterbräus, schwappt die transparente Flüssigkeit.
„Es ist die 38“, hatte ihm die Frau gesagt.
„Die 38.“
Lichtlos, das Tal.
Er nimmt den Stein, verdammter Mist, einundzwanzig, zweiundzwanzig, zielen, werfen, beten, der Stein verfehlt die Scheiben.
So fühlt sich das an.
Er nimmt einen zweiten Stein, einundzwanzig, zweiundzwanzig, zielen, werfen, beten, wieder so ein hoher Bogen, wieder so eine schöne Flugbahn und im Flug rotieren die Flächen des Elbsandsteins so schnell, jetzt erkennt er: Der Stein wird treffen. Adrenalin sifft ihn durch, in nächtlichster Talstunde, bis die Scheiben klirren mögen. Der hohe Ton wird ihn nicht verschrecken. Der Stein rotiert, rotiert, trifft den Fensterrahmen, fällt ab:
„Mist.“
Es gab da diesen Mann, hatte Jasmin immer gesagt, diesen einen Mann, der sagte, man muss etwas tun, man muss für sein Tal handeln. Keine Drohne kreist am Himmel und kein Polizist hört den Datenverkehr ab.
Er packt die Flasche bayerischen Klosterbräus. Die hübsche Landschaft auf dem Etikett darf niemals in Flammen aufgehen, hat er mal zu den Arbeitern gesagt. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, zielen, jetzt leuchtet ein roter Punkt auf, im rechten Fenster, ein Signalpunkt des Menthols an die Nacht, verdammter Mist, er harrt aus, nicht zielen:
„Jasmin?“
„Die 36. Es ist die 36.“

 
Zuletzt bearbeitet:

„Was sind neunzig Nazis in einer Ecke?
Ein rechter Winkel.“
aus: „Familien gegen Nazis“,
Dortmunder Schauspiel​

„Jasmin, wir brauchen so etwas nicht und Solidarität ist wichtig, ganz wichtig, wir sind eine Talgemeinschaft.“
[...]
„Die Gemeinde nimmt fünf auf, fünf an diesem Ort.“
„Sie dort! Sie, ja, Sie: Five! Xamsa! Five!“
vllt. See-Adler auf seinem Horst überm superlatiefen Hof

Ja, lieber @kiroly -

es bleiben nicht unbedingt „die“ Steine, aber es bleibt Stein und ich verknüpf mal, was mir beim Lesen durch den Kopf ging, da ich gerade erst an anderer Stelle die Cliff-dwellings - Hunderte von Einzelräumen, die zu großen, schwer zugänglichen Baukomplexen hoch im Fels des Grand Canyon zusammengefasst dem vom Erdboden verschwundenen Volk der Anasazi, „die Alten/Ältesten“ in der Sprache der Diné, („Navajos“) Sicherheit geben sollte, und die "Balkanroute", die von Vorderasien aus neben den am andern Ende der großen asiatischen Halbinsel Europa, die Säulen des Herakles, zweimal große Einwanderungswellen aus Afrika – um es in der Sprache der europäischen Eingeborenen zu sagen – ertragen mussten, die erste noch zu Zeiten des Homo sapiens neandertalensis (von denen maximal 15.000 in Europa lebten) durch den Homo sapiens sapiens und das zwotemal – nun schon des „weißen“, mit überlebenswichtigen Genen des Neandertalers beglückt, eine zweite Welle des Homo sapiens sapiens, der den Ackerbau über die Balkanroute auf die asiatische Halbinsel brachte …

Das Nachdenken über gewesene Hochkulturen – von denen vor allem Stein und Metall und – sofern vorhanden – schriftliche Zeugnisse zeugen, ob in steingehauen, gemalt oder auf Papier verfasst und – nix hält ewig – ggfs. kopiert (zuerst schrieb ich „abgeschrieben“, was aber in der „Abschreibung“erst recht die Vergänglichkeit dessen, was einmal war, aufzeigen würde, und an spätere Generationen überliefert).

Geschichte – das, was wir Historie nennen – und die Erzählung zeigen nur Vergänglichkeit und gegen Änderung ist kein Kraut – ob natürlich oder aus der chemischen Hölle, pardon, dem Labor und erst recht nicht aus Silicon Valley, das ja für Flugstunden gar nicht so weit weg ist vom Death Valley. Selbst für deutsche Verhältnisse sind ca. 300 km nix ... sofern man nicht die Autobahn benutzt.

Da wird jetzt mancher denken, da hätten sich nun zwo gefunden - und hätte keineswegs Unrecht. Man muss nicht immer so deutlich werden wie das Dortmunder Schauspiel wider die selbsternannten Verteidiger der abendländischen Schlachthäuser.

So, noch‘n paar Flusen, eingedenk dessen, dass das SMS-Pidgin – wenn es nur häufig genug auftritt – die Duden Redaktion unterwandern kann und evtl. wird („lol“ ist ja nur der Anfang). Abschlusszeichen (außer den Gänsefüßchen) wörtl. Rede, die fehlenden mein ich, seh ich als gewollt an – es plappert halt so wie ich gerade zuvor … zeigt aber mein Fazit zu Deiner feinen, kleinen Erzählung auf.

„Alle haben Schimmel. Außer ein Haus“, womit gelte:
„außer“ ruft da nach Dativ, „dem“/“einem Haus“,

„Wir freuen uns sehr. Wir haben viele Kinder erzogen, wenn du Hilfe brauchst, sag' bescheid oder komm' vorbei.“
„ … sag Bescheid ...“, wie das Amt jemandem etwas „bescheidet“

Rausche durch, rausche weiter, rausche an Bach, an Tal, Bäume unter Bäume, an alter Waldschenke …
„Bäume unter Bäumen“, oder – üblicherweise „Baum unter Baum“ (was ja auch schon ein plurale Erscheinung ist)

Klar war das Nacht.
Entweder „Klar, war das Nacht“ oder „Klar war die Nacht“

Das einzige Kind im Tal gelte zu schütze, Jasmin, die prallste Spätpubertät ...
besser: … gelte es zu schützen“, oder Du simulierst die Sprache des Zuwanderers, die ja gegenüber SMS-Pidgin schon Kreolisch wäre, wohlgemerkt, Pidgin und Kreolisch sind durchaus vollständige Sprachen – man weiß ja i. d. R., was gemeint ist

Es gab da diesen Mann, der hörte, man solle handeln und nicht stehen.
Der vorbelastete (man kann ein Vor-urteil dafür nehmen) kann im Verb stehen ein stehlen erkennen … und: Stehen als Widerstehen ist oft ein unerwünschtes Handeln … sicherer „nix tun“, was ja auch schon ein "Tun" i. S. von "Tat" ist und als "unterlassene" Hilfeleistung eingang ins Strafrecht gefunden hat.

So, genug geplaudert,
gern gelesen vom

Friedel

 

Hey kiroly

Zunächst etwas Kleinkram:

Einwohner des Tals stehen vor den Steinen, halten ihre Rollatoren fahrbereit geölt und sagen: „Der schlimmste Winter sei der Sommer im Tal“, daraus habe zu folgen:
Würde hier den Indikativ setzen, es handelt sich ja um direkte Rede.
Alle haben Schimmel. Außer ein Haus
einem
„Wie heißt die Kleine eigentlich?“
*
Jasmin,
Das hat mich verwirrt. Der Text ist so schon anspruchsvoll genug. Ich würde da keine zusätzliche Verwirrrung stifften, auch wenn man natürlich sowohl Jasmin wie auch Jessie als die Kleine bezeichnen kann.
aber Sorgen brauchen Sie sich nicht.
sorgen
2400 Gramm, man man, ein Fliegengewicht.
Mann, Mann, (Oder ist das englisch auszusprechen?)
sie ist das zerbrechlichste überhaupt
Zerbrechlichste
Alle lachen, als beginne hier etwas
begänne
auch so eine gescheiterte Frühverrentung, Jasmin dankt allen so herzlich, ist es nicht schön,
WW
„Jasmin, ja, Jasmin. Unser Neugeborenes.
Wieder diese Verwirrrung. Vielleicht: "Und unser Neugeborenes"
Neben Jasmin und dem kleinen?
der Kleinen
Sie kann die Buchteln so himmelperfektsüß kochen, es sei ein talbekannter Genuss.
ist (Du referierst ja keine Meinung, sondern das sagt der Erzähler.)
Das Kinderbett „übernahm“ der Christbaumzüchter, hat das Gitter in Schneeweißlack angestrichen:
Weshalb in Anführungszeichen? Du hast so viele schräge, auch ironische Formulierungen drin, da braucht es keine Abschwächungen.
Die Waschmaschine spendeten die Landfrauen, Babys bei uns, Babys mit uns, eine Eins A Waschmaschine, Turbolader, mit Programmen:
„Jasmin, wir brauchen so etwas nicht und Solidarität ist wichtig, ganz wichtig, wir sind eine Talgemeinschaft.“
Das hat mich verwirrt. Ich beziehe das Fettmarkierte auf die Waschmaschine. Aber die haben sie ihr doch gerade eben geschenkt?
wenn du Hilfe brauchst, sag' bescheid oder komm' vorbei.“
Bescheid
Sie zählen sich zum möglichen „Bankrott“:
Wiederum würde ich die Anführungszeichen weglassen.
Klar war das Nacht.
die
Keine Drohne kreist am Himmel und kein Polizist hört den Datenverkehr ab.
Das finde ich etwas unplausibel. Weil, jetzt steht er draussen in der Nacht, es gibt keinen Datenverkehr. Vielleicht würde er nach dem Telefonat so etwas denken oder nach der Aktion, aber eher nicht während, finde ich. Und die Drohnen. Ich fand das auch etwas seltsam. Weshalb sollten denn Drohnen über dem Haus kreisen? Bisher ist ja nichts geschehen.

Ich habe mehrere Anläufe gebraucht, um in den Text reinzukommen. Aber das hat mir nichts ausgemacht, denn du erzählst und schreibst auf eine eigentümliche Weise, die mich sehr anzieht und fasziniert. Das ist so weit vom sprachlichen Mainstream entfernt, dass es einfach sehr erfrischend ist, sich darauf einzulassen. Ich hab mir immer wieder gedacht, ja, das ist Literatur, da wird nicht einfach was runtererzählt.

Der Effekt deiner Erzählweise ist, dass eine an sich bekannte Konstellation, ein an sich bekannter Plot sich auf eine ganz neue Weise dasellt. Die dörfliche Welt, die vermeintliche Bedrohung wird aus einer Perspektive dargestellt, die mir fremd ist, obwohl ich selbst in einer solchen Welt aufgewachsen bin. Du schreibst nicht nur auf der sprachlichen Ebene originell, sondern du vermittelst dem Leser eine eigene Sichtweise auf die Dinge, du hast da Schlenker drin, die geölten Rollatoren, die graue Substanz, die aus dem Fernseher fliesst, die irritieren, innehalten lassen. Das ist sehr gut gemacht.

Inhaltlich bringt der Text nicht viel Neues aufs Tapet. Aber das will ich ihm auch nicht vorwerfen. Das Thema ist ja leider nicht neu und wird auch nicht verschwinden. Da finde ich es gut, wenn darüber geschrieben wird, vor allem, wenn anders darüber geschrieben wird. Die Stelle, die mich am heftigsten gepackt hat, war der Schluss. Jasmin gibt damit ihr Einverständnis, nicht?

Deine Texte bereichern das Forum!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo,

ein Text, den ich mir gut beim Bachmann-Preis vorstellen könnte. Mich erinnert der an einige Texte, die da in den letzten Jahren gelesen worden sind; da wurde auch die deutsche Schriftsprache gedehnt, die Regeln mehr oder weniger willkürlich ausgelegt, einige Autoren waren auch keine Muttersprachler, aber man konnte natürlich schon immer erkennen, es handelt sich jetzt um Literatur, bzw es muss sich ja um Literatur handeln, weil Bachmann etc.

Mir ist dieser Text aber zu inszeniert. Ich spüre die Gemachtheit, der Trick ist offensichtlich. Was bei deinem Fischer noch funktioniert hat, greift für mich hier ins Leere. Wahrscheinlich, weil du mehrere Figuren hast, und auch so etwas wie Plot. Da wird es klar: deine Figuren sind Schablonen, die durch die Makro-Perspektive zwar eine gewisse Verdichtung perpetuieren, den Text verorten, echt, erlebbar machen sollen, aber ich lese eben immer den Autoren mit, der diese Schablonen ausschneidet. Der Autor schaltet sich zwischen den Text und die Figur, er führt unverdeckt Regie - mir ist schon klar, dass dies dein Stil ist, dieser lapidare Tonfall, diese Fehler, das Überzeichnete, und auch das Kommentierende auf der Meta-Ebene. Man muss diesen Text schnell lesen, damit er eine Wirkung entfaltet, ansonsten beginne ich, mir Fragen zu stellen, und dann zerfällt dieser Effekt in seine Einzelteile, dann bleiben für mich Manierismen übrig. Ich bin für so etwas wahrscheinlich auch einfach der falsche Leser, weil ich Tricks in Texten nicht mag; aber das bin nur ich. Mich erinnert das auch an magischen Realismus, auch an Texte von einigen russischen Autoren, die viel mit skaz arbeiten.

Noch etwas: Mir missfällt hier, wie du die Leute aus dem Tal zeichnest. Da habe ich so ein Bild vor Augen, was eben auch nur ein einziges Klischee ist: Landfrauen, Förster, tiefste Provinz, die gelebte Solidarität muss erwidert werden und wird dann zwangsläufig zu einer Art Kontrollzwang, weil im Tal sowieso jeder Jeden kontrolliert, dann irgendwas mit Rechts und gegen Flüchtlinge, so eine sexuelle Komponente schwingt auch noch mit, dralle Spätpubertät und so ... also, ich kann es auch einfach nicht mehr hören. Das ist mir persönlich viel zu einfach, weil so ein Sujet immer auf Wirkung beim Leser zielt, und mir das immer zu wenig ausdifferenziert ist.

Gruss, Jimmy

 
Zuletzt bearbeitet:

Moin @Peeperkorn ,

hallo @kiroly ,

ich noch mal,
an sich misch ich mich ungern in Kommentare ein. Aber hier muss ich, so find ich jedenfalls.

Es geht um die Passage

Einwohner des Tals stehen vor den Steinen, halten ihre Rollatoren fahrbereit geölt und sagen: „Der schlimmste Winter sei der Sommer im Tal“, daraus habe zu folgen:
zu der Du, lieber Peter, den Indikativ „ist der Sommer ...“ empfiehlst. Tatsächlich ist hier das "sei" nicht der vermeintliche Konjunktiv I, sondern der Imperativ von „sein“, was aus dem darauffolgenden, übergeordneten Satz sich erschließt …

hierzu
Muttertext

2400 Gramm, man man, ein Fliegengewicht.
Peeperkorn
Mann, Mann, (Oder ist das englisch auszusprechen?)

wird das "man" in der Bedeutung von( irgend)jemand bis zu allen (Menschen) stehn und nix anderes als den Ausruf des Tatortreinigers bei der Arbeit meinen: "Man, man, man", oder - zusammengfasst das "Mannomann"

Tschüss und bis bald

Friedel

 

Hey @kiroly ,

habe hier nicht viel auszusetzen. Außerdem habe ich eh das Gefühl, dass du gerade sowieso eher ablieferst, als dich großartig mit Kommentaren etc. auseinanderzusetzen. Kein Ding, wenn sowas dabei rauskommt. Toller Text.

LG

 
Zuletzt bearbeitet:

Tatsächlich ist hier das "sei" nicht der vermeintliche Konjunktiv I, sondern der Imperativ von „sein“, was aus dem darauffolgenden, übergeordneten Satz sich erschließt …
Da ich Jahreszeiten selten Befehle erteile, ist mir diese Lesart nicht in den Sinn gekommen, lieber @Friedrichard. Aber falls das tatsächlich als Imperativ gemeint ist, @kiroly, hätte mir ein Ausrufezeichen nach "Tal" womöglich geholfen!

Und: "man, man"? Da finde ich keine Quelle. Man schreibt ja auch nicht: "Oh man!" sondern "Oh Mann!"

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo!
Vielen Dank für die Kommentare und das ausführliche Feedback @Friedrichard , @Carlo Zwei, @jimmysalaryman, @Peeperkorn .Leider spannt mich die Arbeit gerade sehr stark ein - Krankheitsfälle, Krankheitsfälle - dass ich Eure Hinweise vor Wochenende nicht bearbeiten kann. Aber echt, mir hilft das super weiter, gute Nacht,
kiroly

 

Hej kiroly,

ich habe den Text inzwischen mehrmals gelesen und es hat gedauert, bis der Funke übergesprungen ist.

Nein, das stimmt so nicht ganz.
Es ist eher so, dass ich so lange gebraucht habe, bis ein Verständnis für den Text entstanden ist.

Vorher habe ich mich an allen möglichen Ecken und Enden gestört. Ich habe den Text künstlich gefunden, Passagen, die von meinen Vorrednern gelobt wurden, nicht gemocht. "Geölte Rollatoren" und "Rausche, rausche, rausche", das wirkt auf mich merkwürdig verbrämt, die ständigen Doppelpunkte wie Hände, die mich ungefragt im Text herum führen. Als wäre es nötig, dass ich ständig irgendwo gekniffen und gezwickt werde, damit ich ... was genau verstehe?

Am Ende ist das dann wie ein Kippbild ein Ganzes geworden (aber ein Kippbild ist schon auch sehr künstlich ;)).
Also, ich habe schon vorher verstanden, worum es geht, aber es hat mich zuerst so herumgerissen, als wäre ich winzig auf einer Tischdecke, die jemand anderes glättet.

Am Ende, habe ich das Gefühl, wird mir die Schadenfreude angeboten wie eine Entschuldigung (ich glaube nicht wirklich, dass Du Dich irgendwie für Deinen Text entschuldigen möchtest, das bin wohl eher ich).
Ich mag es nicht, wenn Texte kommentiert werden mit: Das ist ja nichts Neues! Trotzdem hätte ich mir und Deinem Text gewünscht, Du würdest Dich näher heran wagen.

Noch:

Eine Frühgeburt mit 2400 Gramm, man man
Mein Vorschlag hierzu ist, das Fettmarkierte wegzulassen, weil es weder zum "sorgen brauchen Sie sich nicht" einer Ärztin noch zu den Gedanken einer Jasmin-Mutter oder einem x-beliebigen Talbewohner passt. Hier habe ich den Eindruck, Du selbst würdest Dich kurz einschalten, ohne es wirklich zu wollen und für einen vergleichsweise kleinen Effekt.

Jedenfalls mochte ich es, über Deinen Text nachzudenken.

Viele Grüße
Ane

 

Hallo zusammen!

Vielen Dank für Eure Kommentare und ausführliche Bearbeitung! Ich bin immer wieder baff über die Komplexität der Kommentare, dieses tiefe Eindringen in den Text und die Fragen darauf, mir fällt es schwer, darauf klare, plausible Antworten zu geben. Aber ich versuche es mal.

@jimmysalaryman:

Mir ist dieser Text aber zu inszeniert. Ich spüre die Gemachtheit, der Trick ist offensichtlich. Was bei deinem Fischer noch funktioniert hat, greift für mich hier ins Leere. Wahrscheinlich, weil du mehrere Figuren hast, und auch so etwas wie Plot.

Eigentlich ist damit alles gesagt: Denn wenn ich irgendetwas mit diesem Text erreichen wollte, dann das Vermeiden einer künstlichen Konstruktion von Charakteren und Situationen. Nicht dieses typische "Oh, es klingt kompliziert und scheinpoetisch, dann muss es Literatur sein, oh, Literatur, oh oh - nein, ich brauche den Kassenbon nicht, schönen Tag noch". Während des Schreibens hatte ich mich gefragt, ob eine Reduktion auf einen Charakter effektvoller sein könnte; andererseits reizten mich die vielen Perspektiven. Vielen Dank für dein Urteil! Im Grunde "wünsche" ich mir das völlige Verschwinden der Charaktere hinter dem Text, Passivität und Auflösung der Protagonisten in einer Gegenwart, quasi ein Charakter der so lose wie möglich die Einzelteile seiner Wahrnehmung zusammenhält (ich hoffe, das versteht man :confused:).

Noch etwas: Mir missfällt hier, wie du die Leute aus dem Tal zeichnest. Da habe ich so ein Bild vor Augen, was eben auch nur ein einziges Klischee ist: Landfrauen, Förster, tiefste Provinz, die gelebte Solidarität muss erwidert werden und wird dann zwangsläufig zu einer Art Kontrollzwang, weil im Tal sowieso jeder Jeden kontrolliert, dann irgendwas mit Rechts und gegen Flüchtlinge, so eine sexuelle Komponente schwingt auch noch mit, dralle Spätpubertät und so ... also, ich kann es auch einfach nicht mehr hören.

Skurrilerweise wollte ich exakt das vermeiden und das war auch der Grund, warum ich diesen Text geschrieben habe. Zu den Landtagswahlen hier in Sachsen tauchte ja diese typische Ostdeutschland-Reportage auf, Team Hamburg fährt nach Freital und berichtet über DDR-Umbrüche und Wendezeit und und, naja...schon wieder bediene ich Klischees. Egal. Interessant, dass ich trotzdem in diese Spur getreten bin. Danke danke und du hast vollkommen recht.

@Friedrichard:

Vielen Dank für deine Flusenlese!

Das einzige Kind im Tal gelte zu schütze, Jasmin, die prallste Spätpubertät ...
besser: … gelte es zu schützen“, oder Du simulierst die Sprache des Zuwanderers, die ja gegenüber SMS-Pidgin schon Kreolisch wäre, wohlgemerkt, Pidgin und Kreolisch sind durchaus vollständige Sprachen – man weiß ja i. d. R., was gemeint ist

So weit habe ich gar nicht gedacht! Aber auch ein schöner Ansatz, das Pidgin eines Landarbeiters einzuflechten, andererseits sollte das ja auch authentisch bleiben (jetzt klinge ich wie eine erfahrene Altenpflegerin: "Aber wir ziehen das weiße Feinripp an, ja? "Zitat einer großen Gruppe Menschen").

„Was sind neunzig Nazis in einer Ecke?
Ein rechter Winkel.“
aus: „Familien gegen Nazis“,
Dortmunder Schauspiel​

„Jasmin, wir brauchen so etwas nicht und Solidarität ist wichtig, ganz wichtig, wir sind eine Talgemeinschaft.“
[...]
„Die Gemeinde nimmt fünf auf, fünf an diesem Ort.“
„Sie dort! Sie, ja, Sie: Five! Xamsa! Five!“
vllt. See-Adler auf seinem Horst überm superlatiefen Hof

Ja, irgendwie seltsam, denn was ich wollte war: Keine Erzählung einer Flüchtlingssituation, sondern eine Erzählung der Jasmin, in dem das Thema Flucht und Rechtsradikalismus am Rande angestreift wird. Dass natürlich die Intention durch die Gestaltung des Textes radikal versagt, erscheint mir inzwischen ziemlich banal, nach jimmys und Deinem Kommentar (hoffe, das versteht man:confused:) Ist das "superlatief" eine niederländische Anspielung?

Es geht um die Passage
Einwohner des Tals stehen vor den Steinen, halten ihre Rollatoren fahrbereit geölt und sagen: „Der schlimmste Winter sei der Sommer im Tal“, daraus habe zu folgen:
zu der Du, lieber Peter, den Indikativ „ist der Sommer ...“ empfiehlst. Tatsächlich ist hier das "sei" nicht der vermeintliche Konjunktiv I, sondern der Imperativ von „sein“, was aus dem darauffolgenden, übergeordneten Satz sich erschließt …

@Friedrichard, das ist eine schöne Begründung, aber @Peeperkorn, ich habe ein "sei" als passender empfunden und mit Friedrichards Erklärung versuche ich mich mal: Die Einwohner bestimmen ihre Perspektive auf die Jahreszeiten, sie befehlen sich selbst, wie der Winter zu sein hat - ob das objektiv stimmt oder nicht, halte ich für unwichtig.

@Peeperkorn,

vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar, den Kleinkram habe ich größtenteils eingebaut, bis auf ein, zwei Kleinkram-Kleinigkeiten, die ich lieber so belassen wollte. Hilfe, ich habe Sorgen klein geschrieben, da spürte ich eine kurze orthographische Peinlichkeit...

Keine Drohne kreist am Himmel und kein Polizist hört den Datenverkehr ab.
Das finde ich etwas unplausibel. Weil, jetzt steht er draussen in der Nacht, es gibt keinen Datenverkehr. Vielleicht würde er nach dem Telefonat so etwas denken oder nach der Aktion, aber eher nicht während, finde ich. Und die Drohnen. Ich fand das auch etwas seltsam. Weshalb sollten denn Drohnen über dem Haus kreisen? Bisher ist ja nichts geschehen.

Ja, da hast du recht. Das ist etwas unplausibel. Ich hatte eine vage Vorstellung, eine dörfliche Welt zu präsentieren, die sich permament bedroht und beobachtet fühlt, ausgedrückt über die Drohne. Aber war auch nur ein Ideenansatz.

Wieder diese Verwirrrung. Vielleicht: "Und unser Neugeborenes"

Nein, so sehr wollte ich nicht verwirren :) . Aber ganz spontan ist mir da auch keine Idee eingefallen, ich werde mir das nochmal anschauen.

Da finde ich es gut, wenn darüber geschrieben wird, vor allem, wenn anders darüber geschrieben wird. Die Stelle, die mich am heftigsten gepackt hat, war der Schluss. Jasmin gibt damit ihr Einverständnis, nicht?

Vielen, vielen Dank für dieses Kompliment, das motiviert natürlich! Ja es stimmt, Jasmin gibt zum Ende ihr Einverständnis dafür.

@Ane,

danke für Deinen Kommentar und deine sehr ausführliche Auseinandersetzung mit dem Text. Deinem Vorschlag,

Noch:
Eine Frühgeburt mit 2400 Gramm, man man
Mein Vorschlag hierzu ist, das Fettmarkierte wegzulassen

bin ich gefolgt, das fand ich eine sehr gute Idee.

Vorher habe ich mich an allen möglichen Ecken und Enden gestört. Ich habe den Text künstlich gefunden, Passagen, die von meinen Vorrednern gelobt wurden, nicht gemocht.

Ja, das Künstliche. Nee, eigentlich will ich ja nicht künstlich schreiben, aber irgendwie gerate ich da hinein. Ich habe mir nicht so viele Gedanken gemacht, außer dass ich das Tal "dorfklischeefrei" (was mir ja nicht gelungen ist, wie jimmysalaryman zurecht geschrieben hat) und eine Passivität der Charaktere darstellen wollte, eine Art energiefreier Zustand, in dem nur Ereignisse von Außen zu Handlungen führen. Vor diesem Hintergrund fand ich deinen Bild

Also, ich habe schon vorher verstanden, worum es geht, aber es hat mich zuerst so herumgerissen, als wäre ich winzig auf einer Tischdecke, die jemand anderes glättet.

irgendwie sehr passend. Vielen, vielen Dank Ane!

****

Ja, ich wünsche Euch allen ein schönes Wochenende, ich hoffe, ihr konntet mit meinem Kommentar etwas anfangen!

Lg aus Leipzig,
kiroly

@Carlo Zwei ,

ach mist, dich habe ich glatt vergessen: Also, danke für deinen sehr motivierenden Kommentar und freut mich, dass dir der Text gefallen hat. Und Glückwunsch zur verdienten Empfehlung für Bockwurst und Mohnkuchen!

lg
kiroly

 

Ist das "superlatief" eine niederländische Anspielung?
Nee, nix anderes als das nhd. superlativ.
Also, nicht den Kopf zerbrechen ...

Friedel

 

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