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Erzähler-Perspektive

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25.02.2010
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Erzähler-Perspektive

Hallo zusammen,

explizit hierzu habe ich nichts gefunden, darum eröffne ich diesen Beitrag.
Ich hoffe, mich bei der Suche nicht einfach blöd angestellt zu haben.

Ich schreibe an einer längeren Geschichte mit mehreren Protagonisten, und dabei muss ich mich – wieder einmal – einer Schwierigkeit stellen: der Erzähler-Perspektive.

"Der Erzähler darf nichts erzählen, das er nicht wissen kann", sagt er.
"Okay", sage ich, "ist klar. Aber wo ziehe ich die Grenzen?"

Mal angenommen ich schreibe gerade eine Szene aus der Sicht von Person A.
Diese befindet sich in einem sehr emotionalen Streit mit Person B.
Dürfte ich z.B. schreiben "... Das musste als Geste genügen, und Person B verstand." oder "Sie schwiegen eine Weile, da keiner von beiden wusste, was er darauf erwidern hätte sollten."
Oder könnte man hier einwenden, dass der Erzähler – aus der Sicht von Person A – gar nicht wissen kann, ob Person B versteht oder ob Person B nicht weiß, was er sagen könnte?

Darf der Erzähler das "wissen", was man an der Mimik der anderen ablesen könnte?
Oder darf er das erwähnen, das ganz offensichtlich ist? (z.B. Wenn einer im Streit nichts sagt, weiß er einfach wahrscheinlich nicht, was er sagen soll.)

Mich würden Eure Meinungen dazu sehr interessieren. Wie geht Ihr an dieses Thema heran?

Danke Euch

elisabeth

 
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"Sie schwiegen eine Weile, da keiner von beiden wusste, was er darauf erwidern hätte sollten."

Ich kann jetzt nur für mich sprechen, aber einen solchen Satz würde ich tatsächlich nicht schreiben. Das ist dann ein anderer Erzähler, der steht über den Dingen, der weiß alles und so, das wirkt auf mich entweder literarisch und klug (2666, infinite Jest) oder altmodisch und verstaubt. Ich würde es eher so machen (Sicht Person A): A senkte den Kopf und schwieg. Das war in der Tat eine Scheißsituation. Wie war es nur so weit gekommen? B hatte auch den Kopf gesenkt. Offenbar wusste er auch nicht, was er sagen sollte.

Also ich meine, dass Autoren, die so schreiben, gerne Wörter wie "offenbar" und "scheinbar" oder "ihm schien", oder "er sah aus, als hätte er keine Ahnung" … und so verwenden.

Wirklich "wissen", wie der andere denkt … eher weniger.

Also ich find, das kann man sich fast so vorstellen, wenn man wirklich ganz nah rangehen will und diese beschränkte Sicht und so, das ist fast so, als würde man in der ersten Person schreiben. Wie würde man es denn da formulieren? Da geht es auch immer irgendwie.

Aber ich finde das ist ein interessantes Thema. Mich würde auch interessieren, wie das andere machen. Hier gibt es so viele Text in der Ich-Form, da kommt das Thema nicht auf, Cube schreibt allwissend, aber immer auch bisschen literarsich und so … ich muss grad überlegen, Texte in letzter Zeit … weiß nicht. Gibt natürlich viel, aber nichts was mir in der Hinsicht grad exemplarsich in den Kopf kommt.

Also wenn ich das so anguck, was ich grad spontan so geschrieben hab:

A senkte den Kopf und schwieg. Das war in der Tat eine Scheißsituation. Wie war es nur so weit gekommen? B hatte auch den Kopf gesenkt. Offenbar wusste er auch nicht, was er sagen sollte.

Für mich ist:
Das war in der Tat eine Scheißsituation
der interessanteste Satz. Mich würden da die Grenzen interessieren, … also für mich ist da kein Erzähler, der das von außen bewertet, das ist Person A, die denkt: Scheißsituation. Man könnte es auch so machen: Das ist eine Scheißsituation, dachte A. Aber im Kontext meine ich, das geht auch ohne "dacht er". Bin mir aber auch nicht immer hundert pro sicher, wie weit man das so machen darf. Ist wohl alles bisschen Stilsache.
Aber wie gesagt, ich seh das so, wenn man so schreibt, dann ist man ein Tick distanzierter als in der ersten Person, aber nicht so wahnsinnig viel. Kommt natürlich auch drauf an, wie nah man dran sein will, man kann vor und zurückzoomen auch, so wie mit der Zeit, in den nächsten wochen ging er häufig Essen und Schuhe kaufen und und ...


Und wenn du, wie ich gerade sehe, 1Q84 liest … guck dir das doch an. Murakami macht das doch auch so beschränkt in der dritten Person, da sind immer nur jeweils die Gedanken von Tengo oder Aomame drin, ich meine, da sind gar nie Murakamis oder Fukaeris Gedanken drin. Alles was geschrieben wird, stammt aus Tengos und Aomames Köpfen, ihre Gedanken fahren durch einen 3rd-person-ruhig-zen-japanisch Filter, und kommen dann so raus. Er beschreibt die Welt durch ihre Augen. Oder besser gesagt: Sie beschreiben die Welt mit seinen Worten. (Und häufig auch mit "ihren".) Ich weiß nicht mal, ob "er", also der Erzähler, ob der wirklich existiert. Ich denke nicht. Man müsste fast sagen: Das sind die umformulierten Gedanken der Hauptfiguren. Manchmal beschreibt "er" sogar ewig Dinge, die nicht wie "Echtzeitgedanken" daherkommen, wo man sich vom Gefühl her von der Figur entfernt, und dann kommt am Ende noch so alibimäßig: "Als Tengo mit seinen Gedanken an dieser Stelle angelangt war, griff die Kassiererin nach dem Korb" (Seite 631)

Und Murakami mixt das auch voll, also stilistisch. Mal schreibt er: Tengo traute seinen Ohren nicht. Kamatso wollte es nicht drücken? Das war aber Unsinn! Und mal: Kamatso wollte es nicht drücken? Das ist aber Unsinn!, dachte Tengo.
(Das grüne Buch 3 hab ich übrigens nicht gelesen, vielleicht ist da wieder was anders.)

Also ich glaube, eigentlich möchte Murakami in der ersten Person schreiben, jetzt hat er aber mehrere Personen in einem Roman, und dann auch noch eine Frau(!), also münzt er das Ganze auf dritte Person um. So hat er noch einen Filter dazwischen, das wirkt nicht immer so direkt, und der kann da vielleicht auch ein bisschen modulieren. Aber der hat nie diesen allwissenden literarischen Blick drauf wie Bolano oder DFW oder Kubus oder so.

 

Hallo Juju,

danke für Deine ausführliche Antwort.
Mir leuchtet das auch alles ein und ich habe beim letzten Kapitel (Tengo) mal drauf geachtet, wie genau Murakami das macht.

Aber, was ich mich frage:

Statt 'nach Lehrbuch' zu schreiben ...
("Das störte ihn offensichtlich." oder
"Er sah seinem Freund an, dass ihn etwas bewegte." oder
"Es schien, als wäre sie unsicher.")

... könnte man doch ebenso nur vom Ergebnis schreiben und des Lesers Vorstellungsvermögen überlassen, woraus sein Gegenüber diesen Schluss zog, oder nicht? (Das ist der Punkt, den ich gerne diskutieren würde.)
("Natürlich störte ihn das." oder
"Seinen Freund bewegte etwas." oder
"Sie war unsicher.")

Der Erzähler weiß das alles nicht mit Sicherheit. Er leitet dieses Halbwissen aus dem Zwischenmenschlichen ab - so wie wir es ja auch jeden Tag tun.
Dadurch wird der Erzähler ja nicht allwissend. Vielleicht ein wenig anmaßend, aber wenn aus der Sicht des Prots erzählt wird, ist das doch legitim, oder?

Also: "Regeln über alles?" oder "Freiheit, Hauptsache konsequent."
Was denkt Ihr?

Übrigens finde ich es persönlich am schönsten, wenn man gar nicht erzählen muss, sondern die Empathie des Lesers weckt:
"In ihren Augen standen Tränen." statt "Sie war offensichtlich traurig."
Aber das geht leider nicht sehr oft, ohne Abstriche im Lesefluss zu machen.

Liebe Grüße
elisabeth

 
Zuletzt bearbeitet:

... könnte man doch ebenso nur vom Ergebnis schreiben und des Lesers Vorstellungsvermögen überlassen, woraus sein Gegenüber diesen Schluss zog, oder nicht? (Das ist der Punkt, den ich gerne diskutieren würde.)
("Natürlich störte ihn das." oder
"Seinen Freund bewegte etwas." oder
"Sie war unsicher.")

Ja … ich denke im Kontext kann man das schon machen, wenn der Leser weiß, wer das denkt. Zum Beispiel:
Tengo schüttelte den Kopf. Er konnte einfach nicht verstehen, warum er sterben musste. Gott, es waren doch genügend Leute hier, die saftiges Fleisch hatten! Warum ausgerechnet er? Sah er wirklich so schmackhaft aus? Die Blondine mit dem Pudel zum Beispiel, die schmeckte mit Sicherheit besser als er. Oder der kleine Hosenscheisser, der nicht zu weinen aufhörte. Der war bestimmt lecker. Aber nein, die doofen Kannibalen wollten ihn! Diese Idioten verstanden überhaupt nichts von Genuss, ihnen ging es einzig und allein ums Kampfgewicht.
"Pssst …", sagte eine Stimme in Tengos Nähe.
"Wer ist da?", fragte er.
"Hier spricht der Teufel, ich will dir ein Angebot machen."
Das konnte jetzt nicht wahr sein.
"Psst … hörst du mich?"
"Nein", sagte Tengo.
Ich meine, dass man da schon merkt, dass das alle Tengos Gedanken sind. Und dass man das so machen kann. Vielleicht verstehen die Kannibalen wirklich was von Genuss, vielleicht ist das wirklich der Teufel, der mit ihm spricht, vielleicht kann das wahr sein, aber … das ist die Figurenperspektive und nicht die eines "Erzählers". So seh ich das jedenfalls. Vielleicht nehm ich das auch anders wahr. Schreib vielleicht ein Besispiel rein, was du konkret meinst, im Kontext ergibt sich vieles.

 

Hallo,

irgendwo gab es doch diese Diskussion hier in einem Strang, Stichwort "Fokalisierung" und auch "unzuverlässiger Erzähler" etc, die war recht aufschlußreich, ich such das nachher mal.

Gruss, Jimmy.

 

Hallo alle zusammen!

Danke Euch - jetzt brauche ich erst einmal eine Weile, bis ich den anderen Beitrag gelesen habe und sollte das nicht das treffen, was ich meine, dann meld ich mich hier noch einmal.

Danke Dir auch JuJu - mal schau was ich finde.

Liebe Grüße
elisabeth

 

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