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Erwin, der dicke Schneemann
Seit einigen Tagen schneit es unaufhörlich, und das ganze Bergdorf liegt unter einer dicken Schneedecke. Die Kinder freuen sich, denn sie haben schon sehnsüchtig darauf gewartet.
Es sind Winterferien, und nichts tun sie lieber, als so richtig im Schnee zu toben, Ski fahren oder auf dem großen Berg hinter der Kirche bis in das Tal zu rodeln.
Auch Lisa freut sich unbändig über die weiße Pracht. Sie steht am Fenster und schaut zu, wie die kleinen Flocken sanft zur Erde schweben.
Endlich! Am frühen Nachmittag löst sich die dicke Wolkendecke auf. Die Sonne zeigt sich am blauen Himmel und lässt den Schnee glitzern.
„Mama, es hat aufgehört mit Schneien!“, ruft Lisa, „darf ich draußen spielen?“
„Ja, aber zieh dich warm an! Vielleicht geht Simon auch mit.“
„Ich geh ihn mal fragen“, sagt Lisa und verschwindet im Zimmer ihres Bruders.
Simon sitzt vor dem Computer. Er ist in seinem Spiel so vertieft, dass er Lisa nicht kommen hört.
„Hey Simon … gehst du mit raus?“, fragt Lisa nun schon ein zweites Mal.
„Nö, hab keine Lust“, nuschelt Simon, „später vielleicht.“
„Stubenhocker!“,murmelt Lisa. „ Dann gehe ich eben allein!“
Sie zieht ihre warme Jacke an, schlüpft in die dicken Stiefel, streift Mütze und Handschuhe über und geht in den winterlichen Garten. Dicker Raureif hat sich um den Zaun gelegt, und die Äste der großen Fichte hängen unter ihrer Schneelast tief herab.
Lisa muss ein wenig blinzeln, sosehr blendet der weiße Schnee. Übermütig springt sie über die Wiese, die nunmehr von einer dicken Schneedecke überzogen ist. Die kalte Winterluft zwickt auf den Wangen und hinterlässt einen rosigen Schimmer. Aber das macht ihr nichts aus. Winter ist so schön und supertoll, denkt sie und breitet die Arme aus - der Sonne entgegen.
Lisa beginnt einen Schneemann zu bauen: Zuerst formt sie eine kleine Kugel und rollt sie durch den Schnee. Unter ihren Händen wächst der kleine Ball zu einem riesigen Schneemannsbauch heran. Als er so riesengroß ist, dass Lisa ihn keinen Zentimeter mehr bewegen kann, beginnt sie für den Kopf einen neuen Balll. Lisa stöhnt, als sie die schwere Schneekugel auf den dicken Bauch wuchtet. Vorsichtig pappt sie an jede Bauchseite einen Arm fest. Sie gibt sich viel Mühe, weil sie ihren Bruder überraschen möchte. Als der Schneemann fix und fertig vor ihr steht, ist sie mit ihrem Werk zufrieden. Die rote Möhrennase ist gerade, zwei große schwarze Augen sitzen jeweils links und recht, und auf dem Kopf trägt er einen alten Zylinder. Lisa freut sich. Sie hüpft und tanzt um den Schneemann herum und singt: “Erwin, der dicke Schneemann …“
Noch während sie so fröhlich tanzt, landet ein Schneeball auf ihrer Mütze.
Kalter Schnee rieselt in den Jackenkragen und lässt sie für einen Moment erschauern.
„Iiih!“, ruft sie ganz erschrocken und dreht sich um. Stephan und Martin stehen hinter dem Gartenzaun. Lisa mag die Beiden überhaupt nicht, und manchmal hat sie sogar ein wenig Angst vor ihnen. Erst letzte Woche haben sie ihr die Puppe weggenommen, und Lisa hat sie in einer dreckigen Pfütze wieder gefunden. Völlig verschmutzt sah Lola aus, und ihr hübsches rotes Kleidchen war zerrissen. Auch jetzt fängt vor Angst ihr Herz laut und heftig an zu pochen.
„Was soll denn das sein?“, ruft Stephan und wirft schon den nächsten Ball. Jetzt zielt er auf Erwin.
„Sieht aus wie ein Bär“, kichert Martin und schmettert haarscharf an Lisa vorbei.
Lisa will sich wehren und wirft einen Schneeball zurück. Wegen ihrer kleinen schmächtigen Arme landet er noch vor dem Gartenzaun. So ein Mist!, denkt Lisa.
"Peng, daneben ...!", lacht Stephan spöttisch. "Guck mal, so macht man das ...!" Schwungvoll holt er aus und feuert einen Ball Erwin an den Kopf.
Lisa ist entsetzt und ruft den beiden wütend zu: „Ihr seid gemein! Verschwindet wieder!"
„Nein, tun wir nicht ..., jetzt fängt der Spaß erst richtig an!" antwortet Stephan und streckt Lisa die Zunge raus.
"Wir sind doch gerade erst gekommen. Los Stephan, den machen wir platt!", johlt Martin und holt erneut zum Wurf aus.
„Hört auf! Macht ihn doch nicht kaputt!“, entgegnet Lisa. Sie spürt einen dicken Kloß im Hals und ihre Hände fangen an zu zittern.
„Soll er doch auch!“ Dann zielen beide mit Dauerfeuer auf den Schneemann.
„Lasst meinen Schneemann in Ruhe!“, schreit Lisa nun zornig. Wenn doch nur Simon hier wäre. Verzweifelt schaut sie sich nach allen Richtungen um. Aber niemand ist zu sehen, und niemand bemerkt ihre aussichtslose Lage. Immer wieder werfen die Jungen nach Erwin, bis dessen Zylinder im hohen Bogen vom Kopf fällt.
„Treffer!“, rufen Stephan und Martin zugleich. „Und jetzt kommt die Nase dran!“
„Nein, bitte nicht! Ihr sollt aufhören!“, versucht Lisa es noch einmal mit aller Entschlossenheit, die sie noch hat. Aber das ist nicht viel. Sie kämpft gegen die Tränen. Hilfe suchend schaut sie zu Simons Fenster hinauf. Natürlich, wenn man den großen Bruder braucht, ist er nie da! Sie zieht ein wenig die Nase hoch und schnieft. Was soll sie nur tun? Vielleicht nach Simon und Mama rufen? Oder an der Haustür klingeln? Aber das dauert viel zu lange. Dann ist ihr Erwin längst erledigt und nur noch ein Schneehaufen. Auf keinen Fall will sie diesen beiden Stänkerfritzen ihren Erwin überlassen! Langsam kullern ihr die Tränen über das gerötete Gesicht und brennen auf den Wangen. Lisa versucht sie, mit ihren patschnassen Handschuhen wegzuwischen, aber vergebens. Mit verweinten Augen schaut sie hilflos zu, wie die Jungen unermüdlich ihre Bälle abfeuern. Plötzlich sieht sie, wie ein großer Schneeball Stephan mitten ins Gesicht klatscht. Ein zweiter trifft Martin. Lisa traut ihren Augen kaum. Schneemann Erwin bückt sich und langt erneut mit beiden Händen nach Schnee.
Martin bleibt vor Schreck der Mund offen stehen und auch Stephan wagt sich kaum zu rühren. Wie vom Blitz getroffen, starren beide mit großen Augen auf den Schneemann. Als sie sich von dem Schreck erholt haben, suchen sie blitzschnell das Weite.
„Bravo, gut gemacht Erwin!“, jubelt Lisa und strahlt über das ganze Gesicht. Dann drückt sie ihre Wange zärtlich an Erwin’s eiskalten Bauch.
„Wozu sind Freunde da?“, sagt Erwin und zwinkert Lisa zu. Dann setzt er seinen Zylinder wieder auf.
Plötzlich öffnet sich die Haustür und Simon trottet auf Lisa zu. Als er sie so abgekämpft, aber glücklich sieht, fragt er verwundert: „Was ist? War was los?“
„Nein, alles in Ordnung!“, erwidert Lisa.
Simon blickt zu Erwin, der an seinem Platz steht, als wäre nichts gewesen.
„Der ist aber schön geworden!“, sagt er anerkennend.
„Mmm …“, macht Lisa nur und schaut zu Erwin auf. Schön, und ein guter Freund, aber das braucht Simon nicht zu wissen.