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Erwachsenwerden
Jemand hat mal zu mir gesagt :„Wenn du etwas nicht verlieren willst, darfst du es nicht zu fest halten.“ Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wer das gesagt hat, geschweige denn, wo und wann, doch aus irgendeinem Grund beschäftigt mich dieser Satz gerade. Aus den tausend pseudophilosophischen Sätzen, die ich in meinem Leben schon gehört habe, ist es gerade dieser, der mir nicht aus dem Kopf geht. Aber man hat die interessantesten Gedanken, wenn man ein heißes Bad nimmt. Langsam lasse ich meine Finger über die Wasseroberfläche gleiten und lausche dem leisen Plätschern, das dabei entsteht. Ich liebe dieses Geräusch. Jedesmal läuft mir dabei ein Schauder über den Rücken, als würde ein einziger Tropfen kalten Wassers meinen Nacken entlanglaufen. Das ist auch einer der Gründe, weshalb ich nicht so oft bade, um diesen Moment immer wieder genießen zu können. Außerdem habe ich keine Badewanne in meiner Wohnung.
Aber jetzt habe ich genug davon, es gibt noch viel zu erledigen. Ich ziehe den Stöpsel und merke an meinen Zehen, wie das Wasser in die Tiefe gesogen wird. Langsam stehe ich auf und schnappe mir das blaue Handtuch. Eigentlich wollte ich ein weißes, aber dieses tut es auch. Der Spiegel über dem Waschbecken ist mittlerweile so beschlagen, dass man nur noch Schemen darin erkennen kann, aber das ist nicht weiter schlimm, ich habe es nie gemocht, mich darin zu betrachten. Langsam verlasse ich das Bad und hinterlasse eine nasse Spur hinter mir. Meine Klamotten liegen noch im Schlafzimmer bei den anderen.
Als ich die Tür öffne sehe ich sie als erstes. Sie liegt auf dem Boden mit dem Rücken zur Decke und windet sich wie ein Fisch an Land. Ich blicke zum Bett rüber, er liegt dort und blickt mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ich gehe zu ihr und ziehe sie an ihren Fesseln auf die Knie und mit einem weiteren Ruck wieder aufs Bett. Jetzt liegen sie wieder nebeneinander und starren mich an. Immer starren sie. Egal wo ich bin, immer starren sie. Ich krabble über das Bett und lege mich zwischen sie. Meine Familie auf Zeit. Ich habe den Fehler gemacht, meine Familie zu fest zu halten, und so habe ich sie verloren. Doch aus Fehlern lernt man und jetzt gibt es nur noch Familien auf Zeit. Über dem Bett hängt ein großer Spiegel.
Ich döse ein bisschen vor mich hin, während ich mich zwischen sie kuschle, und genieße die Geborgenheit. Die anderen fühlen sich nicht sehr geborgen, denn sie verstehen mich nicht. Ich kenne keine andere Geborgenheit und etwas anderes würde sich auch irgendwie falsch anfühlen. Aber ich darf nicht einschlafen. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich keine Zeit mehr habe, also setze ich mich langsam auf. Sie starren mich beide immer noch an und langsam weicht das Gefühl von Geborgenheit einer leichten Anspannung. Ich rutsche an die Bettkante, doch bin zu klein, um mit den Füßen den Boden zu berühren. Ich finde meinen Rucksack und hole das Rasiermesser raus. Es ist das Einzige was mir geblieben ist, dabei ist es nicht mal besonders teuer oder schön. Es hat einen roten Plastikgriff und die Klinge ist schon lange zu stumpf, um damit zu rasieren. Außerdem ist sie an manchen Stellen eingekerbt. Aber die Klinge reflektiert fast wie ein Spiegel und ich kann mein verschwommenes, dunkelbraunes Auge darin betrachten.
Jetzt wird es Zeit. Ich rutsche wieder an meinen ursprünglichen Platz zurück und jetzt starren sie mich voller Entsetzen an. Ich drehe mich zu ihr und streichle mit meiner linken Hand über ihr Haar bevor ich es mit einem Ruck zurückziehe. Sie wimmert leise. Das Messer ist so stumpf, dass ich ein paar Mal ansetzen muss, bis ich die Halsschlagader treffe. Ich drehe mich um und setze wieder an. Bei ihm ist es noch schwieriger. Ich lege mich auf den Rücken und starre in den Spiegel. Mittlerweile bewegt sie sich nicht mehr, aber er windet sich noch und zeichnet mit seinem Blut Bilder auf die weißen Bettlaken. Jetzt ist es vorbei.
Es ist, als würde ich auf einer Wiese liegen und die roten Wolken beobachten. Ich sehe einen Wolf und ein Kaninchen. Die Ruhe kommt wieder und ich atme flacher. Ich stehe wieder vor dem Bett und betrachte das Handtuch, das ich dort ausgelegt habe. Es sieht aus wie ein Rorschachtest, aber wie schon früher erkenne ich darin nichts. Auf dem Weg zurück hinterlasse ich rote Spuren. Diesmal war es anders, gefühlloser. Ich werde wohl langsam erwachsen.