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Erwachsen werden
Es ist Nacht, und das Auto fährt durch die Straßen. Wir sind zu viert. Schweigend, erschöpft. Mein Nacken schmerzt, und ich kann mir vorstellen, dass du mindestens genau so heiser bist wie ich.
Der Motor schnurrt wie ein Kätzchen, die Musik aus den Boxen tritt in den Hintergrund vor unserem Schweigen.
Du drehst dich halb um und guckst mich an. So, als ob du etwas sagen wolltest, aber nicht weißt, was.
Ich hätte in dieser Situation etwas gesagt. Irgendetwas. Etwas Witziges, vermutlich, über das die beiden Anderen gelächelt hätten. Dich lässt so etwas kalt.
Deine Stimmung ist seltsam heute Abend. Du bist aggressiver als sonst, aufgeputscht von der Musik wahrscheinlich. Der Musik, die mich hinfortgerissen hat. Mich hat vergessen lassen, dass hinter mir zwanzig Leute standen, die sich kaum bewegten. Ich war nur noch fliegende Haare und Bewegung, Schweiß und Blut und Tränen.
Auch wenn du etwas Anderes sagst, war es ein gutes Konzert.
Immer noch ist Stille. Im Radio läuft ein Lied, das auf der Hinfahrt, als wir noch zu zweit waren, eine Gänsehaut bei mir verursacht hat.
"I'd like to love you, but my heart is a stone." Das ist genau das, was mich bewegt. Bewegt hat, bis du gekommen bist und mir mit deiner Musik die Gedanken aus dem Kopf geprügelt hast. Immer noch bin ich leer und irgendwie ausgebrannt.
"Ich glaube, dass die Kleine nur deshalb so unentspannt ist, weil sie in der Gegenwart von Anderen versucht, keine Fehler zu machen" sagst du. Die Kleine, das bin ich. Seit einigen Monaten bin ich das für alle meine Freunde. "Dadurch wird sie immer angespannter."
Damit liegst du falsch, aber das kannst du nicht wissen. Ich bin immer angespannt. Natürlich, ich darf mir keine Blöße geben, das hat man mir abgewöhnt.
"Ich mag dich auch" gebe ich zurück. Du lächelst ein wenig, verächtlich vielleicht, oder überlegen. Ich weiß es nicht. Dein Gesicht sieht mit all der verlaufenen Schminke ziemlich gruselig aus. Deine Züge sind hinter verschmiertem Weiß und rotem Blut kaum zu erkennen. "Das hat nichts mit mögen zu tun" gibst du zurück. "Du bist einfach noch ein Kind."
"Das hat aber nichts damit zu tun" mischt sich Anja vom Sitz neben mir ein. "Natürlich hat sie eine Persönlichkeit, aber sie ist noch nicht fertig. Ich meine, wir alle entwickeln uns ja noch weiter. Es wäre ja auch schrecklich, wenn wir das nicht tun würden, oder?"
Ich nicke. Alex am Steuer nickt auch. Aber du schüttelst den Kopf. "Natürlich nicht" sagst du. "Sie muss erst noch eine entwickeln."
"Ich gebe mein Bestes" sage ich, bemüht, das Gespräch in eine andere Richtung zu treiben. "Wenn ich groß bin, werde ich auch eine eigene Persönlichkeit haben."
Anja lacht, Alex lacht. Aber du schüttelst den Kopf. "Diese Witze sind eine Sache. Es ist dir unangenehm, wenn dich jemand durchschaut, oder?"
Ich lege den Kopf zur Seite, meine wirren Haare gleiten über die Schultern meines Mantels. "Wenn du das weißt, dann kannst du ja aufhören, mich zu analysieren."
Die Kleine. Irgendwo brennt es, jedes Mal. Klein, das bin ich nicht. Tatsächlich bin ich gut zwanzig Zentimeter größer als du, und meine Schminke ist nicht verlaufen. Ich sehe auch nicht seltsam aus, und vermutlich würden kleine Kinder nicht die Straßenseite wechseln, wenn ich auf sie zukomme. Du hast eine Persönlichkeit, ohne Zweifel. Ich glaube, deine Exzentrik wird aus Intelligenz geboren. Ich glaube, dass du mir einmal ähnlich gewesen sein könntest, aber ich kann natürlich nicht sicher sein. Wie könnte ich? Wie kann ich denn mich, einen desorientierten Teenager, mit dir vergleichen?
Ich denke oft, dass du weißt, was du willst. Hinter deinem seltsamen Aussehen steckt ein kluger Verstand. Du bist sehr sicher, in deiner ganzen Art.
Ich bin unsicher. Hinter einer schönen Fassade verbirgt sich eine klaffende Wunde, die mich immer wieder ins Taumeln bringt.
Warst du einmal genauso? Ich könnte Vince fragen, wenn ich ihn einmal wieder sehe. Hinter der Barriere von Buchstaben, hinter der ich mich verstecken kann. Zwischen den Zeilen, zwischen denen ich so gut lesen kann.
"Erwachsen werden bedeutet, sich der Realität zu stellen" unterbricht Anja meine Gedanken. "Ich glaube nicht, dass einer von uns hier das für sich beanspruchen kann."
Wir gucken uns an und lachen leise. Alex starrt auf die Straße.
"Wir brauchen Essen" wechsle ich schließlich abrupt das Thema. "Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich bin hungrig."
Alex nickt. "Bei der nächsten Tankstelle biegen wir ab und kaufen uns was, okay?"
Anja und du, ihr seid auch dafür.
Die Tankstelle ist nicht weit. Der Weg dahin verläuft nicht schweigend, endlich nicht mehr. Du streitest mit Anja über Crawleys Schriften, erklärst und diskutierst. Willenskraft - ein Wort nicht mehr schreiben, nicht mehr sagen, nicht mehr denken. Auf diese Art, sagst du, schreibt Crawley, dass man seinen Willen schulen soll. 666 steht auf deinem Tshirt. Deine Augen sind schwarz umrandet, du siehst aus wie ein Untoter. Anja fragt nach deiner Auffassung von schwarzer und weißer Magie, du erklärst es.
Du weißt viel, sehr viel. Und wie immer bewundere ich deine Sicherheit, ja, deine Selbst-Sicherheit. Wärst du irgendjemand anders, würdest du arrogant wirken. Aber das bist du nicht.
Die Tankstelle kommt in Sicht, wir steigen aus. Ich krieche mühsam aus dem Auto und schiebe Alex' Rucksack beiseite, er und Anja sind schon einige Schritte vorausgeeilt.
Du starrst ins Leere, und gerade will ich dich ansprechen, da sprichst du mich an. "Ich bin nie erwachsen geworden" sagst du.
Ich will dir sagen, dass du mein Freund bist und dass ich dich liebe, oder wenigstens dass ich dich mag, so wie du bist. Aber ich tue es nicht. Warum, weiß ich nicht. Normalerweise würde ich nie so etwas wie "ich liebe dich, mein Freund" sagen. Aus Angst, missverstanden zu werden.
"I'd like to love you, but my heart is a stone."
Glaubst du denn, es stört mich, dass du so bist, wie du bist? Was für eine Freundschaft wäre das dann?
Ich lächele dir zu.
"Ja, ich bin nie erwachsen geworden. Ich bin nur gealtert."
Du wirkst wirklich alt in diesem Moment. Aber es ist mir ein Trost, dass auch du nicht erwachsen bist. Nicht einmal du.