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Erwachsen werden

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24.08.2003
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Erwachsen werden

Es ist Nacht, und das Auto fährt durch die Straßen. Wir sind zu viert. Schweigend, erschöpft. Mein Nacken schmerzt, und ich kann mir vorstellen, dass du mindestens genau so heiser bist wie ich.
Der Motor schnurrt wie ein Kätzchen, die Musik aus den Boxen tritt in den Hintergrund vor unserem Schweigen.
Du drehst dich halb um und guckst mich an. So, als ob du etwas sagen wolltest, aber nicht weißt, was.
Ich hätte in dieser Situation etwas gesagt. Irgendetwas. Etwas Witziges, vermutlich, über das die beiden Anderen gelächelt hätten. Dich lässt so etwas kalt.
Deine Stimmung ist seltsam heute Abend. Du bist aggressiver als sonst, aufgeputscht von der Musik wahrscheinlich. Der Musik, die mich hinfortgerissen hat. Mich hat vergessen lassen, dass hinter mir zwanzig Leute standen, die sich kaum bewegten. Ich war nur noch fliegende Haare und Bewegung, Schweiß und Blut und Tränen.
Auch wenn du etwas Anderes sagst, war es ein gutes Konzert.
Immer noch ist Stille. Im Radio läuft ein Lied, das auf der Hinfahrt, als wir noch zu zweit waren, eine Gänsehaut bei mir verursacht hat.
"I'd like to love you, but my heart is a stone." Das ist genau das, was mich bewegt. Bewegt hat, bis du gekommen bist und mir mit deiner Musik die Gedanken aus dem Kopf geprügelt hast. Immer noch bin ich leer und irgendwie ausgebrannt.
"Ich glaube, dass die Kleine nur deshalb so unentspannt ist, weil sie in der Gegenwart von Anderen versucht, keine Fehler zu machen" sagst du. Die Kleine, das bin ich. Seit einigen Monaten bin ich das für alle meine Freunde. "Dadurch wird sie immer angespannter."
Damit liegst du falsch, aber das kannst du nicht wissen. Ich bin immer angespannt. Natürlich, ich darf mir keine Blöße geben, das hat man mir abgewöhnt.
"Ich mag dich auch" gebe ich zurück. Du lächelst ein wenig, verächtlich vielleicht, oder überlegen. Ich weiß es nicht. Dein Gesicht sieht mit all der verlaufenen Schminke ziemlich gruselig aus. Deine Züge sind hinter verschmiertem Weiß und rotem Blut kaum zu erkennen. "Das hat nichts mit mögen zu tun" gibst du zurück. "Du bist einfach noch ein Kind."
"Das hat aber nichts damit zu tun" mischt sich Anja vom Sitz neben mir ein. "Natürlich hat sie eine Persönlichkeit, aber sie ist noch nicht fertig. Ich meine, wir alle entwickeln uns ja noch weiter. Es wäre ja auch schrecklich, wenn wir das nicht tun würden, oder?"
Ich nicke. Alex am Steuer nickt auch. Aber du schüttelst den Kopf. "Natürlich nicht" sagst du. "Sie muss erst noch eine entwickeln."
"Ich gebe mein Bestes" sage ich, bemüht, das Gespräch in eine andere Richtung zu treiben. "Wenn ich groß bin, werde ich auch eine eigene Persönlichkeit haben."
Anja lacht, Alex lacht. Aber du schüttelst den Kopf. "Diese Witze sind eine Sache. Es ist dir unangenehm, wenn dich jemand durchschaut, oder?"
Ich lege den Kopf zur Seite, meine wirren Haare gleiten über die Schultern meines Mantels. "Wenn du das weißt, dann kannst du ja aufhören, mich zu analysieren."
Die Kleine. Irgendwo brennt es, jedes Mal. Klein, das bin ich nicht. Tatsächlich bin ich gut zwanzig Zentimeter größer als du, und meine Schminke ist nicht verlaufen. Ich sehe auch nicht seltsam aus, und vermutlich würden kleine Kinder nicht die Straßenseite wechseln, wenn ich auf sie zukomme. Du hast eine Persönlichkeit, ohne Zweifel. Ich glaube, deine Exzentrik wird aus Intelligenz geboren. Ich glaube, dass du mir einmal ähnlich gewesen sein könntest, aber ich kann natürlich nicht sicher sein. Wie könnte ich? Wie kann ich denn mich, einen desorientierten Teenager, mit dir vergleichen?
Ich denke oft, dass du weißt, was du willst. Hinter deinem seltsamen Aussehen steckt ein kluger Verstand. Du bist sehr sicher, in deiner ganzen Art.
Ich bin unsicher. Hinter einer schönen Fassade verbirgt sich eine klaffende Wunde, die mich immer wieder ins Taumeln bringt.
Warst du einmal genauso? Ich könnte Vince fragen, wenn ich ihn einmal wieder sehe. Hinter der Barriere von Buchstaben, hinter der ich mich verstecken kann. Zwischen den Zeilen, zwischen denen ich so gut lesen kann.
"Erwachsen werden bedeutet, sich der Realität zu stellen" unterbricht Anja meine Gedanken. "Ich glaube nicht, dass einer von uns hier das für sich beanspruchen kann."
Wir gucken uns an und lachen leise. Alex starrt auf die Straße.
"Wir brauchen Essen" wechsle ich schließlich abrupt das Thema. "Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich bin hungrig."
Alex nickt. "Bei der nächsten Tankstelle biegen wir ab und kaufen uns was, okay?"
Anja und du, ihr seid auch dafür.

Die Tankstelle ist nicht weit. Der Weg dahin verläuft nicht schweigend, endlich nicht mehr. Du streitest mit Anja über Crawleys Schriften, erklärst und diskutierst. Willenskraft - ein Wort nicht mehr schreiben, nicht mehr sagen, nicht mehr denken. Auf diese Art, sagst du, schreibt Crawley, dass man seinen Willen schulen soll. 666 steht auf deinem Tshirt. Deine Augen sind schwarz umrandet, du siehst aus wie ein Untoter. Anja fragt nach deiner Auffassung von schwarzer und weißer Magie, du erklärst es.
Du weißt viel, sehr viel. Und wie immer bewundere ich deine Sicherheit, ja, deine Selbst-Sicherheit. Wärst du irgendjemand anders, würdest du arrogant wirken. Aber das bist du nicht.
Die Tankstelle kommt in Sicht, wir steigen aus. Ich krieche mühsam aus dem Auto und schiebe Alex' Rucksack beiseite, er und Anja sind schon einige Schritte vorausgeeilt.
Du starrst ins Leere, und gerade will ich dich ansprechen, da sprichst du mich an. "Ich bin nie erwachsen geworden" sagst du.
Ich will dir sagen, dass du mein Freund bist und dass ich dich liebe, oder wenigstens dass ich dich mag, so wie du bist. Aber ich tue es nicht. Warum, weiß ich nicht. Normalerweise würde ich nie so etwas wie "ich liebe dich, mein Freund" sagen. Aus Angst, missverstanden zu werden.
"I'd like to love you, but my heart is a stone."
Glaubst du denn, es stört mich, dass du so bist, wie du bist? Was für eine Freundschaft wäre das dann?
Ich lächele dir zu.
"Ja, ich bin nie erwachsen geworden. Ich bin nur gealtert."
Du wirkst wirklich alt in diesem Moment. Aber es ist mir ein Trost, dass auch du nicht erwachsen bist. Nicht einmal du.

 
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ich hab nicht so ganz verstanden, was hier philosophisch ist. die geschichte liest sich flüssig und hat mir während des lesens gut gefallen. nur habe ich den schluss nicht verstanden. der erzählerin gefällt nicht, dass ihr freund sie für ein kind hält. und am ende ist es ihr ein trost, dass ihr freund alt wirkt. dabei müsste ihr doch dann der altersunterschied zwischen ihnen beiden umso mehr auffallen, sie müsste sich im vergleich zu ihm noch mehr als kind fühlen. oder ist das am ende eine art schadenfreude, weil er alt und die erzählerin jung ist? oder erfreut die erzählerin, dass der freund eingesteht, dass er nicht perfekt ist, weil er ihr schon zu perfekt schien? ich weiß irgendwie nicht was du mit den beiden letzten sätzen aussagen wolltest, vielleicht könntest du das dahingehend ändern, dass es klarer und eindeutiger wird, es sei denn, es macht dir spaß den leser zu verwirren.
darüber konnte ich mich schlapplachen: "Anja fragt nach deiner Auffassung schwarzer und weißer Magie, du erklärst es. Du weißt viel, sehr viel." die komik an dieser stelle rührt für mich wahrscheinlich daher, dass ich mich nicht in den gleichen subkulturen rumtreibe, wie die erzählerin und die bezeichnung von belesenheit zum thema magie als wissen einem zyniker wie mir sehr naiv erscheint. übrigens fehlt oben in dem ersten satz das wort "von"

 

hallo waldemar,

vielen dank fuer deine kritik :)

da dies mein erster text in dieser rubrik ist, freut es mich, wenn er dir gefallen hat. ich wollte die frage aufwerfen, ob die prot, auch wenn sie so naiv ist wie sie scheint, wirklich kein recht auf eine eigene persoenlichkeit hat. der freund, der ihr die vortraege vom erwachsen sein gehalten hat, stellt sich am ende ebenfalls als nicht erwachsen dar.
es ist ihr kein trost, dass er gealtert wirkt, sondern dass er selbst zugibt, nicht perfekt, erwachsen zu sein, denn so kommt er ihr in dem text ja vor. die prot ist in meinem alter, etwa, ein wenig juenger vermutlich, und als teenagerin sehr leicht zu verunsichern ;)
ich wollte damit die frage aufwerfen, ab wann das erwachsen sein beginnt. naja, zum nachdenken anregen wollte ich auch ;) aber das will man ja immer

das mit dem von habe ich korrigiert, ausserdem habe ich noch einen oder zwei saetze hinzugeschrieben am ende.

danke fuers lesen
lg, vita

 

"Ein bisschen komisch ist es schon - mir eine eigene Persönlichkeit abzusprechen und dann selbst zuzugeben, nicht erwachsen zu sein. Ich lächele dir zu.
"Ja, ich bin nie erwachsen geworden. Ich bin nur gealtert."

hi. du hast mit der zugabe das ganze verschlimmbessert. die reihenfolge passt nicht, weil du die reaktion auf seinen satz nicht vor seinem satz haben kannst. der neue satz müsste also eigentlich erst im anschluss kommen. der neue satz passt aber in dem stil nicht so recht zum rest. passender wäre "ich finde es ein bißchen komisch, dass du mir..." oder so. ich konnte deine geschichte deswegen nicht so verstehen, weil bei mir "erwachsen werden" ganz anders belegt ist als bei dir. ich empfinde "erwachsen werden" eher als etwas negatives, weil es bedeutet, dass man seine ideale, seine unschuld, eben seine naivität, verliert. ich denke, wenn die menschen diese dinge als erwachsene nicht verlieren würden, hätten wir eine bessere welt. ich glaube, dass das auch ein geschlechtspezifischer unterschied ist. es sind immer die frauen, die schon früh für erwachsen gehalten werden wollen, sich schminken etc. um reifer zu wirken, und es sind viele männer, die immer große kinder bleiben. dass der freund der erzählerin nicht erwachsen geworden ist, ist aus meiner sicht also seine positivste eigenschaft.
ich hab noch ein problem mit einer anderen stelle: "Ich war nur noch fliegende Haare und Bewegung, Schweiß und Blut und Tränen."
das mit dem schweiß ist klar. aber wieso blut und tränen? das problem mit den begriffen ist aber auch, dass sie eine häufig gebräuchliche metapher bilden, die du hier wahrscheinlich nicht beabsichtigt hast, sie wurde zum beispiel von der presse im zusammenhang von einer rede schröders benutzt, die dann zur blut-schweiß-und-tränen-rede gemacht wurde.

 

nochmal hallo,

ich habe es schon wieder veraendert ;)

die prot und ihr freund mit dem sie unterwegs ist haben auch unterschiedliche auffassungen vom "erwachsen sein". als was, das versteht die prot nicht. in ihrer jugend scheint ihr der zustand von "erwachsen sein" irgendwie als utopia - die schminke, all das was sie gemacht hat um auf das konzert zu kommen, waere nicht noetig gewesen, wenn sie an der tuer mit triumphierendem gesicht einen perso mit dem geburtsjahr 85 oder 84 haette vorzeigen koennen.

das mit dem blut-schweiss-und-traenen resultiert aus dem konzert. es ist ein metal-konzert, und in der ersten reihe verliert man ebenjenes.

natuerlich ist das nicht-erwachsen-sein des freundes eine positive eigenschaft, die prot denkt ja darueber nach, ob sie ihm sagen soll, dass sie ihn mag wie er ist.

du scheinst dich mit dem text ziemlich auseinanderzusetzen - ich werte das einfach mal als kompliment ^^

glg, vita

 

die letzte änderung hat das ganze endlich eindeutig gemacht.:)

noch was dazu:
das mit dem blut-schweiss-und-traenen resultiert aus dem konzert. es ist ein metal-konzert, und in der ersten reihe verliert man ebenjenes.

ich gehe auch öfters auf konzerte, allerdings mehr so punk. bin auch immer in der ersten reihe, habe da aber noch nie blut oder tränen verloren, ich bekomme immer nur blaue flecken, vor allem, wenn ich beim pogen hinfliege. könntest du mir erklären, wieso bei einem metal-konzert blut fliesst. und warum die leute beim moshen heulen, versteh ich auch nicht. wenn ich das so lese, denke ich, dass ich glück habe, dass ich nicht auf metalkonzerte gehe. :D

 

*lach*
naja, blut kann schon vorkommen. wenn man beim bangen hinfaellt, dann kann es einem passieren, dass ein paar leute ueber einen drueber trampeln. ich habe mir dabei einmal ganz ordentlich auf die zunge gebissen, und voila, blut und traenen ;)
es kann zu verletzungen und abschuerfungen kommen. natuerlich sind wir metaller wesentlich humaner zueinander als die komischen stinos "oh, da liegt was, wenn ich mich da draufstelle, kann ich daniel k besser sehen..." oder so, aber ich zumindest bin noch nie ohne abschuerfung davongekommen.
und die traenen...? die kommen schon, mit der extase der musik ^^

glg vita

 

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