Erster Versuch
Sie rannte.
Ihre Beine schmerzten schon lange, doch sie rannte weiter. Es war ihr wichtig, dass sie schneller war als alle anderen, in ihrer Hand hielt sie mit festem Griff, die kleine gläserne Ampulle umklammert. Die Menschen wichen ihr aus, wenn sie sahen mit welcher energischen Entschlossenheit, sie durch sie hindurchrennen würde, wenn sie müsste. Ein Sicherheitsbeamter hatte versucht sie aufzuhalten, Frank, so konnte sie ihn bei gutem Wissen bedauern, sie hat sein Namensschild gesehen, kurz bevor sie aufeinandergeprallt waren, lag jetzt auf dem Boden, vermutlich hatte der Aufprall ihrer rechten Schulter seine linke so zerfetzt, dass er jetzt Höllenqualen litt. Niemand konnte sie aufhalten, dass wusste sie und nutzte es zu ihrem Vorteil. Aus dem zwölfstöckigen Gebäude rannte sie die Rampe, eigentlich ausschließlich für Rollstuhlfahrer gedacht herunter, sie war schon im sechsten Stock angekommen, doch sie rannte weiter. Über Hindernisse sprang sie entweder drüber, oder rutschte unter ihnen hindurch, so hatte sie dank einer Bank, die oben vor dem Geländer des elften Stockes stand, den Absprung hinunter in das zehnte Stockwerk geschafft und sich somit einen Vorsprung ausgebaut. Sie weinte Frank nicht nach, er hatte sich für sein Schicksal entschieden, als einfacher Mensch, hatte er sich ihr in den Weg gestellt. Sie war die erste und letzte ihrer Art, dachte sie zumindestens, bis sie im dritten Stock einen jungen, keine neunzehn Jahre alten Schönling sah, ihm für einen Moment in die Augen schaute und seine Entschlossenheit sah, sie zu stoppen. Sie rannte an ihm vorbei, er ihr hinterher. Sie blickte zuerst nicht zurück, da sie unglaublich schnell war, doch spürte sie schon bald, dass dieser Junge ihr gleichauf war, er war nur noch ein paar Meter entfernt. Genauso wie der Ausgang, sie sah ihn, über einer Glastür schwebte die Neongrüne Tafel in der Luft, auf der „EXIT“ stand. Gleich hatte sie es geschafft, doch dann begann die Verriegelung der Ausgänge, langsam senkte sich ein eiserner Vorhang vor der Glastür. Es war knapp, sie gab ein letztes Mal alles, schmiss sich mit ihrer Geschwindigkeit auf den Boden, rutschte mit den Füßen vorran, auf den Ausgang zu, die Ampulle fest in beiden Händen, an ihre Brust gedrückt. Nicht wissend, ob sie es schaffen würde schloss sie die Augen und schrie. Sekunden später hörte sie einen Aufprall, öffnete die Augen und sah genau in die Sonne, sie hatte es geschafft. Der Aufprall muss wohl der Junge gewesen sein, der mit voller Geschwindikeit gegen die Verriegelung gedonnert war. Sie sah sich um, um sie herum riesiege Häuser, zu ihrer linken eine lange Einkaufsstraße voll mit Passanten, zu ihrer Rechten eine stark befahrene Verkehrsstraße und da kamen Sie auch schon, voller Panik drehte sie sich einmal im Kreis, sogar der eiserne Vorhang, fing wieder an sich zu heben. Also die Einkaufsstraße.
Sie rannte. Die Sonne ging schon fast unter, als sie endlich an ihrem Unterschlupf ankam. Sie trat gerade durch die Tür und brach direkt zusammen.
„Was soll das heißen? Sie ist entkommen? Weißt du eigentlich, dass diese eine Ampulle eine Macht besitzt, die noch nicht einmal Gott hatte. Ich will nicht wissen, was sie damit machen wird.“
„Sir, es tut mir leid, sie war zu schnell. Was war sie?“, der Schönling blickte in die Augen seines Vaters.
„Du hast mir immer gesagt, ich sei der einzige, was verschweigst du mir?“, Wut lag in seiner Stimme, sein Leben lang hieß es immer, er sei was besonderes, der eine. Dann kommt sie um die Ecke gerannt und alles ändert sich.
„Es ist ab sofort von oberster Priorität, dass du sie findest und sie aufhälst, du bist der einzige der dazu im Stande ist. Stoppe sie mein Junge, mehr brauchst du nicht wissen.“, Der kalten Mimik konnte der Schönling entnehmen, dass das Gespräch beendet war, seine Fragen wiedermal unbeantwortet.
„Sir.“, war das einzige was er noch zu sagen hatte, danach stand der Schönling auf und verließ den Raum.
Als sie wieder zu sich kam, war es mitten in der Nacht, sie lag auf dem Fußboden, an genau der Stelle, an der sie zusammengebrochen war. Die Ampulle immer noch fest in ihrer Hand umklammert. Als ihre Augen die Ampulle erfassten, konnte sie nicht anders als einfach lauf aufzulachen. Sie hatte es geschafft, sie hatte es wirklich geschafft, sie hatte die Ampulle. Es war nicht leicht, aber sie hatte es geschafft. Nur Aufstehen konnte sie noch nicht, ihre Beine gaben ihr keinen Halt, es war lange her, dass sie so um ihr Leben rennen musste. Also stellte sie die Ampulle auf den Boden und zog sich mit ihren Armen an dem kleinen Tisch hoch, dass sie mit dem Rücken gegen die Wand lehnend, sitzen konnte, knipste das einzige Licht in ihrer kleinen Hütte an und blieb sitzen. Immer wieder nickte sie ein, ließ den Kopf zur Seite fallen. So zog sich die Nacht vorüber, bis die Sonne anfing die Dunkelheit zu vertreiben, die Schatten der Nacht verschwanden nach und nach, flüchteten vor den, für sie tödlichen Sonnenstrahlen. Gegen Mittag schaffte sie es endlich aufzustehen, sie war ausgehungert und halb verdurstet, ging zur kleinen, halb zerfallenen Einbauküche riss den Wasserhahn auf und trank, bis sie spürte, wie das Wasser ihr wieder Leben einhauchte. Im Kühlschrank fand sie leider nichts, außer ein angebissenes Thunfischsandwich, es war ihr egal, sie brauchte Energie. Nachdem sie, wieder bei Kräften war, hob sie die Ampulle vom Fußboden auf und stellte sie auf den Tisch, neben ihren Laptop. Sie öffnete ihn und damit öffnete sich auch gleich ihr Email Konto, eine neue Mail : „Geschafft?“. Sie drückte auf den Antworten-Button und schrieb: „Geschafft!“, senden. Jetzt musste sie warten, bis ihr Auftraggeber ihr den Übergabeort und den Zeitpunkt schrieb. Es war ihr egal, was sie stahl und für wen sie es stahl, wenn die Bezahlung stimmte, war sie für alles zu haben, eine andere Art zu überleben kannte sie nicht. Als sie so dasaß und abwechselnd die Ampulle und den Bildschirm ihres Laptops anstarrte, dachte sie immer wieder zurück an die Verfolgungsjagd, ob es Frank wohl gut ging? Sie hatte Gewissensbisse, dass sie jemanden verletzten musste, aber er würde die beste medizinische Behandlung bekommen, er hatte es immerhin gewagt sich ihr in den Weg zu stellen. Frank war mutig. Es war zwar nicht das Schlimmste was ihr je bei einem Auftrag passiert war, aber schön war es auch nicht. Sein Schmerzensschrei hallte immer noch in ihrem Ohr nach. Sie dachte nicht lange an Frank, ihre Gedanken gingen über zu dem schnellen Schönling, der ihr fast gleich auf gewesen war. Wer war er? Und war er dasselbe wie sie? Sie wusste zwar nichts genaues über ihre Begabung, doch war sie sich lange Zeit sicher, dass sie die einzige war, die diese Begabung hatte. Anscheinend nicht.
„Ich will die Überwachungsvideos, ich will ihr Gesicht sehen!“, der Junge stand vor dem obersten Sicherheitsbeamte und sprach mit ihm, wie mit einem Hund, dem er befehlen konnte, was auch immer er wollte. Sitz, Platz, Spring, Stell dich tot. „Sofort!“, rief er.
Seine Wut total fehlplatziert, da der oberste Sicherheitsbeamte nicht sein Vater war. Ihm galt die Wut, doch das war in diesem Moment egal, er hatte einen Auftrag bekommen, von seinem Vater, diesem Eisblock. Wurde dieser Auftrag nicht erledigt, so müsste er sich vor ihm verantworten und es gab schönere Dinge, selbst durch einen Tunnel von Stacheldraht zu fallen und danach im salzigen Wasser des Meeres zu baden, war schöner, als seinem Vater schlechte Nachrichten zu bringen. In der Zeit in der das Team, des obersten Sicherheitsbeamten sich um den Auftrag kümmerte, ging der Schönling zur Krankenstation. Frank, einer der treuesten und ältesten Mitarbeiter, des Sicherheitsteams, vielleicht hatte er ihr Gesicht gesehen, vielleicht sogar erkannt.
Der Ton, des Empfangens einer neuen Email, riss sie aus ihren Tagträumen: „Übergabeort, wird der große Park auf der Westseite der Stadt, Mitternacht. Sei pünktlich.“
Es war schon elf Uhr, also hatte sie noch kurz Zeit sich zu duschen und ihren schwarzen Hoodie anzuziehen. Es war so weit, sie würde bezahlt werden.