- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Erstens kommt es anders...
Nach längerer Zeit, nach jetzt mittlerweile mehr als sechs Jahren, war ich, Mareike Andresen, wieder glücklich. Ich hatte mich vor etwa acht Jahren von meinem Mann Volker getrennt. Er hatte seinerzeit ein berufliches Angebot bekommen in die Staaten zu gehen, ein Angebot, was er keinesfalls ausschlagen wollte. Mich hatte er damals damit überrumpelt, doch ich wollte Deutschland nicht verlassen. Unsere Beziehung war schon seit längerer Zeit weit davon entfernt, als dass sie als rosig hätte bezeichnet werden können. Also fiel es mir auch nicht sonderlich schwer, ihn gehen zu lassen. Ich arbeitete einige Stunden in der Woche in einer kleine Boutique, die einer Freundin gehörte und kam finanziell mit dem was ich verdiente und dem, was Volker mir monatlich überwies gut zurecht.
Seit etwa 15 Monaten hielt ich eine Beziehung zu Nick aufrecht. Nick hatte ich kennengelernt, nachdem ich in einen Verkehrsunfall verwickelt war, bei dem mir ein Autofahrer aufgefahren war. Hauptwachtmeister Nikolas Becker hatte an diesem Tag Streifendienst und nahm den Unfall auf. Wie das Leben so spielt, war es zwischen uns beiden vom ersten Augenblick an geschehen.
Wir hatten eine wunderbare Zeit. Es war der zweite Frühling – Schmetterlinge im Bauch, deren Flüge nie enden wollten. So kam es uns zumindest vor. Die ersten Monate hatten wir fast ausschließlich nur Zeit für uns, unsere Außenwelt interessierte uns wenig. Wir gingen weiter unserer Arbeit nach und fieberten täglich dem Feierabend entgegen, um schnell wieder zusammen zu sein. Es war eine herrliche Zeit, wir kamen uns vor, als wären wir gerade 20 Jahre alt und so, wie unsere nächste Umgebung uns immer wieder kritisierte, schienen wir uns auch so zu benehmen.
Meine fast 16-jährige Tochter Stefanie hatte die Pubertät glücklicherweise gut hinter sich gebracht und fing so langsam an ihre eigenen Wege zu gehen. Meine anfänglichen Bedenken bezüglich des Verhältnisses zwischen Nick und Stefanie lösten sich dann von ganz allein. Nick, der mit seinen 30 Jahren immerhin 10 Jahre jünger war als ich, lernte trotz seines doch sehr jugendlichen Auftretens schnell mit den Allüren und Trotzphasen Stefanies gut umzugehen. Beide kamen gut miteinander zurecht und hatten ein sehr freundschaftliches Verhältnis zueinander, was auf mich eine beruhigende Wirkung hatte. Wir hatten beide unsere eigenen Wohnungen behalten, jedoch war Nick eher bei mir anzutreffen, als bei sich.
Ich war diese Beziehung mit einem leichten Beigeschmack eingegangen. Es lagen 10 Jahre zwischen uns. Für den einen sind 10 Jahre gar nichts, für den anderen Welten. Ich war eher ein Mensch, der der inneren Stimme vertraut, aber auch den Kopf nicht außer Acht lässt. In diesem Fall hatte die innere Stimme Oberhand gewonnen und ich versuchte mich einfach treiben zu lassen.
Beide hatten wir das Bedürfnis die Zeit anzuhalten, so dass alles so bliebe, wie es jetzt war. Von Anfang an hatten wir das Gefühl, als würden wir uns schon Jahrzehnte kennen. Einer wusste, wann es besser war den anderen in Ruhe zu lassen oder wann der andere es brauchte einfach nur in den Arm genommen zu werden. Wir ergänzten uns, wo wir nur konnten. Es wurde nie langweilig zwischen uns, jeder Tag begann so, als sei es der erste, den wir miteinander verbrachten. Es war, als hätte es jemanden gegeben, der uns beide füreinander gebacken hätte.
Auch wenn Nick mir sagte, er habe sich sozusagen ausgetobt, kamen von mir immer wieder Bedenken, dass ihm irgendetwas fehlte. Ich wusste nicht genau was es war, aber ich wollte, dass er auch einmal allein etwas auf die Beine stellte und ich hätte auch nichts dagegen gehabt, wenn er mit Freunden und Kollegen allein ausgegangen wäre. Schließlich unternahm ich auch etwas mit meinen Bekannten, mit denen Nick sehr wenig Umgang hatte, weil sie seiner Meinung nach zu spießig waren. Um Streitigkeiten aus dem Weg zu gehen, ging in dieser Beziehung jeder von uns seine eigenen Wege.
Irgendwann war der Knoten dann geplatzt, Nick ging abends auch mal alleine aus. Ich war sehr froh darüber, denn ich wollte nicht das Gefühl haben, dass er nur meinetwegen ständig bei mir war. Diese Treffen nahmen jedoch zu. Nick war nun fast jeden Abend weg und kam oftmals erst spät in der Nacht nach Hause. Ich machte mir jetzt doch meine Gedanken, fragte ihn aber vorerst nicht, wo er gewesen war, denn ich hatte ich ihn doch dazu angehalten dieses zu tun.
Aber wer mochte es sein, mit wem traf er sich? Eine andere Frau konnte es meiner Ansicht nach nicht sein, dann hätte er sich mir gegenüber doch sicher anders verhalten, wäre nicht mehr so liebevoll und zärtlich mit mir umgegangen. Was war es dann?
Nachdem jetzt des öfteren Telefonate für Nick bei mir eingingen und mir mein Gefühl sagte, dass die Stimmen dieser Freunde, wie sie sich selbst bezeichneten, sehr jungenhaft klangen, fragte ich ihn dann doch, mit wem er sich traf.
Seine Antwort auf meine Frage war dann sehr kurz und er meinte, es wären ein paar neue Kollegen von ihm, aber diese hätten ihm gleich gesagt, nachdem er von mir erzählt hatte. sie wollten mich sowieso nicht kennen lernen, ich wäre ihnen zu alt.
Zu alt? Ich dachte, ich hörte nicht richtig. Nachdem Nick nun mein verdutztes Gesicht sah, sagte er, um mich zu beruhigen: „Hey Kleines, mach Dir nichts draus. Sie sind eben ein bisschen jünger als wir. Sie meinen, Du könntest bei ihnen die Rolle ähnlich einer Mutter einnehmen und da haben sie eben ihre Probleme mit. Sonst ist da gar nichts.“
Mutterrolle? Mit was für jungen Kollegen mochte er sich nur treffen. Es ging mich aber weiter nichts an, also ließ ich ihn und hakte auch nicht weiter ein.
Es verging noch eine Weile und alles pendelte sich wieder ein. Nick ging nur noch hin und wieder aus und war dann meist schon so früh zu Hause, dass wir gemeinsam schlafen gingen. Ich dachte nicht mehr über die neuen Freunde nach, vielleicht hatte sich alles schon von selbst erledigt. Schließlich war er mir auch keine Rechenschaft schuldig.
Es vergingen die Wochen und alles war wieder so, wie es angefangen hatte – dachte ich.
- - -
Eine der vielen Gemeinsamkeiten, die Nick und mich verbanden, war, dass wir es genossen, an warmen Sommerabenden ausgiebig spazieren zu gehen. Auch an dem Abend, als sich mein weiteres Leben grundlegend ändern sollte.
Für diesen Abend hatten wir uns für einen Waldspaziergang entschieden. In „unserem“ Wald gab es eine Lichtung, von der aus es sicher keinen schöneren Blick auf den Sonnenuntergang gab. Hier konnten wir die Ruhe genießen, lagen im Gras und kuschelten uns aneinander, redeten und lagen manchmal einfach zur so da und träumten vor uns hin.
Aber heute sollte alles anders sein.
Auch heute kamen wir zu der Lichtung, auch heute legten wir uns ins Gras und auch heute kuschelten wir uns aneinander. Aber irgendetwas war heute anders. Ich hatte das Gefühl, als würden wir von irgendjemandem beobachtet.
Nick, der meine Unruhe bemerkte, fragte: “Was ist los? Warum bist zu so verkrampft? Geht Dir etwas im Kopf herum oder ist heute etwas vorgefallen, über das Du mit mir sprechen möchtest?“
Ich erwiderte kurz: „Nein, es ist nichts. Bestimmt nicht. Ich dachte nur, ich hätte etwas gehört.“ Mein Blick suchte die gesamte Umgebung ab, von der man hätte uns beobachten können, aber es war nichts zu sehen.
Mir war, als vernahm ich das Geräusch von zerbrechendem Geäst ganz in unserer Nähe. Leise hörte ich jetzt Stimmen. Von wo kamen sie? Wie viele mochten es sein? Sie waren schwer zu unterscheiden, vielleicht waren es drei. Es konnten aber auch vier oder fünf sein. Stimmen, von denen ich glaubte, nein ich wusste, diese schon einmal gehört zu haben...
- - -
Als ich aufwachte, befand ich mich in einem Krankenhaus, aber was war nur passiert? Ich konnte mich an nichts, aber auch an gar nichts erinnern.
Ich versuchte aufzustehen, was mir jedoch nur sehr schwer möglich war. Mein ganzer Körper, besonders die Beine schmerzten unendlich. Ich schob mein Nachthemd hoch und erschrak, als ich den oberen Teil der Schenkel ansah. Sie waren angeschwollen und übersäht von großflächigen blauen Flecken. Jetzt nach dem Aufstehen verspürte ich ein ziehendes Stechen im gesamten Unterleib. Schmerzen, ähnlich der, die ich noch von der Geburt meiner Tochter in Erinnerung hatte. Langsam schlich ich zu einem Spiegel, der über dem Waschbecken an der Wand hing. Ich tastete mich langsam vor, denn viel sehen konnte ich nicht. Meine Augen waren zugeschwollen – was war nur passiert?
Ein Blick in den Spiegel – wer war die Person, die ich in meinem Spiegelbild erblickte. War es ein Mann oder eine Frau? Durch den Verband, der meinen Kopf umhüllte und den noch sichtbaren Teil meines Gesichts fiel es schwer, eine geschlechtliche Zuordnung zu finden.
Mein rechtes Auge war noch als Auge zu bezeichnen und zu ersehen. Das linke hingegen bestand aus einer rot-bläulichen Masse mit einem kleinen Schlitz in der Mitte. Eine lange Wunde, die mit einigen Nähten verschlossen war, zog sich vom rechten Mundwinkel bis hinunter zum Kinn. Mein Gesicht sah aus, als wäre ich in einer Schlägerei verwickelt gewesen. Dies konnte aber niemals sein, ich und eine Schlägerei – undenkbar. Aber wo war ich hier? Wie lange war ich schon hier? Und vor allem, warum war ich hier?
Ich drehte mich zur Seite, um die Zimmertür zu öffnen, als ich bemerkte, dass sich auch mein rechter Arm in Gips befand.
Die Tür wurde geöffnet, ein weiß gekleideter, etwa 190 cm großer Mann trat ein, nach ihm noch zwei weitere und eine Krankenschwester, die einige Akten im Arm hielt. Ich erschrak. Aber warum erschrak ich? Er war ein sehr attraktiver dunkelhaariger Mann, etwa 38 Jahre alt mit strahlenden Augen und einem leichten Lächeln auf den Lippen.
Ich wich zurück, ich hatte Angst. Warum hatte ich Angst, kannte ich diese Menschen doch gar nicht.
Der gutaussehende Arzt fragte mich nach meinem Befinden und ob ich ihm in etwa erzählen könnte, was passiert war. Ich war nicht in der Lage dazu, irgendeine Silbe über die Lippen zu bringen. Mein Mund war trocken und ich hatte Angst. Ich wollte einfach nur weg, weit, weit weg.
Die Ärzte drehten sich nun zueinander und unterhielten sich, nein, sie redeten über mich. Sie redeten sehr leise, aber ich konnte einige Bruchteile des Gespräches mit anhören. Einer von Ihnen sprach von einer posttraumatischen Amnesie.
Ich dachte darüber nach, ob ich vielleicht einen Autounfall gehabt hätte. Ich nahm jetzt alle Kraft zusammen und fragte: „Was ist mit Nick? Wo ist Nick?“
Wenn wir beide zusammen wegfuhren, war ich es in erster Linie, die fuhr. Da Nick auf Streife immer hinter dem Steuer saß, überließ er die Fahrerei in seiner Freizeit dann doch eher mir.
Die Ärzte sahen sich an, als wäre ich das Weltwunder Nr. 8, das es geschafft hatte sprechen zu lernen.
„Nick? Wer ist Nick?“ fragte der gutaussehende Arzt, von dem ich erfuhr, dass er Dr. Steffens hieß.
„Nick! Er muss doch bei mir gewesen sein! Hauptwachtmeister Nicolas Becker! Wo ist er? Ist er schwer verletzt? Und was ist mit Stefanie, wo ist Stefanie?“
Dr. Steffens erwiderte etwas verwirrt: „Junge Frau, ich weiß weder, wer Sie sind, noch von wem Sie reden. Sie wurden vor fünf Tagen schwer verletzt auf einer Waldlichtung gefunden. Sie waren allein, es war niemand bei Ihnen!“
Die Krankenschwester, eine sehr nette, junge und hübsche Frau, eine von denen, die sich vor dem ärztlichen Personal sicher sehr in acht nehmen musste, schob Dr. Steffens bestimmt zur Seite, schüttelte mit dem Kopf und ging auf mich zu. „Nachdem Sie jetzt sehr lange bewusstlos waren, werden wir Sie jetzt erst einmal ganz in Ruhe und allein lassen. Hauptkommissar Martens wird sicher nachher noch bei Ihnen vorbeischauen, er war bisher jeden Tag hier, in der Hoffnung, Sie wären aufgewacht und könnten ihm weiterhelfen.“
Aber was wollte die Polizei von mir? Was hatte ich getan? Warum sagte mir niemand, was passiert war? Hatte ich nicht ein Recht darauf es zu erfahren?
Die Schwester zog eine Krankenakte hervor und wendete sich bevor sie ging mir noch einmal zu: „Können Sie mir noch einige Angaben über Ihre Personalien machen? Wir wollen doch, dass Ihre Akte auch einen Namen hat.“
Ich konnte ihr weder Angaben über meinen Vornamen geschweige denn Nachnamen machen, ich konnte mich an nichts erinnern. Sie zuckte nur mit den Achseln, so als ob sie mir nicht glaubte – keiner glaubte mir hier!
Ich war jetzt wieder allein. Ich zermaterte mir wieder und wieder den Kopf, bis er schmerzte.
Warum war ich im Wald allein? Ich war nie allein in den Wald gegangen.
Wo war Nick?
Wo war Stefanie?
Warum erinnerte ich mich an Nick und Stefanie, aber an sonst gar nichts?
Warum war mir die Anwesenheit der Krankenschwester recht, vor den Ärzten hatte ich jedoch Angst?
Und was hatte es mit der posttraumatischen Amnesie auf sich?
Es klopfte an der Tür. Bei jedem Geräusch zuckte ich zusammen. Die Tür wurde geöffnet und eine etwa 35-jährige Ärztin betrat das Zimmer. Sie hatte lange dunkelblonde Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Sie lächelte mich an, was jedoch etwas gedrungen wirkte. Ich atmete erleichtert auf. Frau Dr. Schwarz guckte mich erstaunt an „Was ist mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?“
„Doch, doch,“ entgegnete ich „ist schon OK. Ich dachte nur...“
„Was dachten Sie? Dass einer meiner Kollegen nach Ihnen sieht?“
„Ja, so ähnlich kann man es wohl bezeichnen.“ Ich fing an zu weinen. Ich weinte und wusste nicht warum.
War es, weil mir keiner sagte, was geschehen war?
War es, weil ich allein war und Nick und Stefanie nicht bei mir waren?
Wo waren sie?
Warum war er nicht bei mir, jetzt, wo es mir schlecht ging und ich ihn brauchte?
Warum war er im Wald nicht bei mir?
Warum hatte er mich allein gelassen?
Wer konnte mir nur diese Fragen beantworten?
Frau Dr. Schwarz war Gynäkologin. Sie setzte sich zu mir auf das Bett und legte ihre Hand beruhigend auf meine. „Sie wissen wirklich nicht, was geschehen ist?“ „Nein“ ich schüttelte nur mit dem Kopf.
„Meine Kollegen haben Ihnen erzählt, wie und wo Sie gefunden wurden?“
Ich nickte kurz und hoffte, dass Frau Dr. Schwarz mir mehr darüber erzählen konnte, warum ich hier war.
Die Ärztin sah mich an und sprach sehr leise: „Als Sie gefunden wurden, waren Sie blutüberströmt. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass Sie schwer körperlich misshandelt wurden.“ Jetzt senkte sie ihren Kopf, in ihren Augen lagen Tränen und sie schluckte, als sie weitersprach. „Wir haben auch weitere Untersuchungen vorgenommen. Man hat sich sexuell an Ihnen vergangen – Sie wurden vergewaltigt. Wir wissen noch nicht von wem, wir gehen davon aus, dass es sich um mindestens zwei handeln muss. Die Polizei hofft sehr auf Ihre Mithilfe, um die Täter dingfest machen zu können.“
Ich wollte schreien, ich brachte aber keinen Ton heraus. Ich zitterte am ganzen Körper und fing an zu stottern und stammeln. Frau Dr. Schwarz nahm mich wortlos in den Arm und gab mir das Gefühl, nicht allein zu sein. Jetzt wusste ich, warum ich solche Angst vor Dr. Steffens hatte. Es war nicht die Angst vor dem Arzt, es war die Angst vor dem Mann an sich.
An diesem Nachmittag kam Hauptkommissar Martens zu mir in die Klinik. Er war ein älterer, väterlicher Typ mit grauen Schläfen, dessen Nase eine zierliche Brille schmückte. Ihm jedoch konnte ich auch nicht mehr sagen, als ich im Krankenhaus schon erzählt hatte. Er hatte sehr viel Verständnis für mich und versuchte auch nicht mich weiter zu bedrängen. Er glaubte mir, dass ich ihm nicht mehr sagen konnte, als ich tat. Er gab mir Zeit. Zeit, die ich auch brauchte.
Sein Besuch hatte für mich die Bereicherung, dass ich jetzt wusste, wie ich hieß und wer ich war. Hauptkommissar Martens hatte mir von einem Polizeibeamten berichtet, der in einem leicht verwirrten Zustand bei ihm war, sich nach mir erkundigt und ihm diese Angaben über mich gemacht hatte.
Nick, es war Nick! Aber warum war er nicht zu mir gekommen? Ich war doch jetzt schon einige Tage hier. Er musste doch irgendetwas wissen. Was verheimlichte er mir und der Polizei? Wenn ich allein in dem Wald gewesen wäre, hätte er mich doch vermissen müssen. Was hatte er Stefanie erzählt, wo ich war?
In dieser Nacht versuchte ich immer und immer wieder, den Abend des 16. Juli Revue passieren zu lassen. Aber so sehr ich auch versuchte mich darauf zu konzentrieren, was geschehen war, wo und mit wem ich den Abend verbrachte, es gelang mir nicht. Irgendetwas in mir blockierte mich, wollte nicht, dass ich mich erinnerte. Das letzte was ich mir bildlich vor Augen führen konnte, war der Nachmittag, den ich mit Stefanie in einem Straßencafé verbrachte.
Am nächsten Vormittag kam Nick zu mir. Er betrat das Zimmer und hatte eine leicht gebückte Haltung. Obwohl er den Kopf gesenkt hielt, entging mir nicht, dass er leichenblass war. Ich konnte es mir nicht erklären warum. Nicht er war vergewaltigt worden, sondern ich. Er trat mir gegenüber und ich sah nicht den Nick, den ich kannte. Nein, was war aus diesem lebendigen, vor Lebenslust strotzenden Mann geworden. Aus dem Mann, mit den strahlenden Augen, dem Mann, der immer lachte, dem Mann, zwischen dem und mir vor einigen Monaten die Blitze zuckten und gar nicht mehr aufhören wollten. Ich sah nur eine armselige uniformierte Kreatur.
Nachdem ich mich so danach gesehnt hatte, ihn bei mir zu haben, hatte ich jetzt nur noch den Wunsch allein zu sein. Ich wollte, dass er ging. Ich wollte ihn nie mehr wiedersehen. In diesem Moment empfand ich nur noch Abscheu gegen diesen Mann. Ich wusste nicht warum, aber dieses Gefühl wurde immer stärker, je länger er blieb. Ich schrie ihn an, ich beschimpfte ihn bis aufs äußerste. Was war nur mit ihm geschehen? Keine Reaktionen, keine Gegenargumente. Er sagte nichts, gar nichts, er rührte sich nicht einmal. Er sah mich nicht einmal an, was mich noch rasender machte. Er stand vor mir, wie ein kleiner Junge, den man beim Stehlen erwischt hatte und der sich jetzt seine Bestrafung abholen sollte. Als ich dann in meiner Wut über sein Nichtstun nach einem Gegenstand suchte, den ich nach ihm hätte werfen können, blickte er zu mir hoch und sah mir in die Augen. Er weinte. Dann drehte er sich um und verließ wortlos das Zimmer.
Einige Minuten, nachdem Nick das Zimmer verlassen hatte, wurde mir bewusst, was ich getan hatte. So wie ich Nick gegenüber getreten war, war es nicht weiter verwunderlich, dass er mir nichts über das erzählt hatte, was für mich wichtig war. Vor allem auch, was mit meiner Kleinen war. Wo war Stefanie? Ich musste hier raus, ich musste sie finden, ich musste zu ihr!
- - -
In der Zeit, die ich jetzt in der Klinik verbrachte wurde Frau Dr. Michaela Schwarz so eine Art Freundin für mich. Sie versuchte mir zu helfen, wo sie nur konnte. Sie war immer für mich da, wenn ich jemanden brauchte. Die Polizei war ratlos und kam auch nicht weiter. Wie sollte sie auch, ich konnte mich nicht erinnern und Augenzeugen gab es nicht.
Durch Nick hatten wir über meine Person schon so einiges mehr erfahren. Michaela war auf meinen Wunsch hin zu mir nach Hause gefahren, um zu sehen, wie es Stefanie ging. Stefanie kam mich dann regelmäßig hier besuchen. Sie erzählte mir, dass Nick noch mit ihr zusammen in unserer Wohnung wohnte. Ich hatte immer sehr viel Vertrauen zu Nick, was das Verhältnis zu Stefanie anging, deshalb hatte ich es akzeptiert, dass er sich um Stefanie kümmerte, solange ich nicht in der Lage dazu war. Ich hingegen wollte ihn nicht mehr sehen.
Vielleicht hätte ich Stefanie danach fragen sollen, was Nick ihr erzählt hatte, als ich an dem Abend des 16. Juli nicht nach Hause kam. Weil ich sie jedoch nicht noch weiter beunruhigen wollte, schwieg ich darüber und sagte ihr auch nicht, was mir die Ärzte über die Untersuchungen berichtet hatten. Glücklicherweise fragte sie mich auch nicht danach. Nachdem ich Stefanie nie angelogen hatte und es auch in der Zukunft nicht vorhatte, war ich sehr froh darüber. Ich hätte nicht gewusst, was ich ihr hätte antworten sollen.
Ich, die ich ihr doch immer Wachsamkeit gepredigt hatte und ihr immer wieder eingetrichtert hatte, nie zu gutgläubig anderen gegenüber zu sein und dieses schon von Kleinkind an, ich war in genau diese Situation geraten.
Ich sprach mit ihr über etwaige Probleme, die sie betrafen und eher belanglose Sachen.
- - -
Es kam der Tag an dem es mir körperlich sehr viel besser ging und ich die Klinik hätte verlassen können. Während meiner Krankenhauszeit wurde ich vom ersten Tag an von Dr. Stefan Hansen mitbetreut. Er hatte sich auf die Psychiatrie spezialisiert und seine Aufgabe sollte es sein, mich dabei zu unterstützen, das was geschehen war, seelisch aufzuarbeiten. Aber was gab es da aufzuarbeiten, wo ich doch nicht einmal wusste, was geschehen war. Zudem, wie sollte mir ein Mann in dieser Situation helfen können?
Michaela hatte mir erzählt, dass Steve, so wurde er überall genannt, seit dem ersten Tag, an dem ich eingeliefert wurde, immer mal wieder reinschaute, ob er etwas für mich tun könnte.
Mir gegenüber hielt er sich sichtlich distanziert, er konnte sich sicher denken, wie ich auf das männliche Geschlecht reagieren würde.
Was sollte nun geschehen? Aus der Sicht von Michaela konnte ich nach Hause, Steve hingegen war strikt dagegen. Er war der Meinung, dass ich psychisch noch viel zu labil war, alleine klar zu kommen – was Männer so alles denken!
So wurde ich auf seine Veranlassung hin verlegt, verlegt auf die psychiatrische Abteilung, die Klapse, wie ich sie immer nannte.
Hier konnte man ja gar nicht gesund werden, was auch Steve schnell einsehen musste. Nachdem ich die ersten Tage das Zimmer mit zwei suizidgefährdeten jungen Mädchen teilte, die sich nicht gerade aufbauend verhielten, bekam ich dann ein Einzelzimmer.
Für Steve war es wichtig, dass er mich so immer unter seinen Fittichen hatte, zumindest bildete er es sich ein. Aber er war ein Mann und Männer hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht besonders nah an mich herangelassen. Da er als mein behandelnder Arzt wusste warum, hatte er dieses auch akzeptiert und wusste, wenn ich reden wollte, kam ich schon ganz von allein zu ihm. Wir redeten viel. Ich erzählte ihm mein ganzes Leben, zumindest das, an das ich mich zum gegenwärtigen Zeitpunkt erinnern konnte. Ich erzählte ihm von Nick. Was er für ein Mensch war, wie wir uns kennengelernt hatten und wie wir zueinander standen.
Seine Kollegen und das Pflegepersonal der Station, auf der ich lag, reagierten hingegen genau entgegengesetzt. Auf der einen Seite bemerkten sie, dass ich eine gewisse Sonderbehandlung einnahm, auf der anderen konnten oder wollten sie nicht akzeptieren, dass ich so abweisend auf jeden Mann reagierte. Sie waren sie der Meinung, ich wäre von der Psyche her kranker als angenommen und müsste ruhiggestellt werden. Sie pumpten mich mit irgendwelchen Medikamenten voll und ich fühlte mich ständig wie auf Wolke 7. So war es ihnen recht, eine Patientin, die zu allem ja und amen sagte, nicht aufmüpfig wurde und immer schön leise blieb. So pflegeleicht, wie sie es gerne sahen.
Steve kam von einer Fortbildung zurück und glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als sein erster Gang zu mir war. Er machte einen riesigen Aufstand und richtete sich jetzt häuslich in seinem Arbeitszimmer ein, damit er immer zugegen war und alles kontrollieren und koordinieren konnte. Ab jetzt wurde angeordnet, dass nur er meine Behandlung übernehmen durfte. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, warum er dieses alles tat und sich so für mich aufopferte.
Was mir von Anfang an klar war, war die Tatsache, dass diese Situation nicht sehr lange anhalten konnte. Steve konzentrierte seine Arbeit ausschließlich auf mich und bekam Probleme mit seinen Kollegen und den Vorgesetzten.
Er wurde vor die Wahl gestellt, entweder sollte ich wieder in den normalen Klinikalltag integriert werden, ansonsten hätte ich die Klinik verlassen müssen.
Nach ein paar Tagen kam Steve zu mir und erzählte mir davon. Er hatte sich mit Michaela kurzgeschlossen, die mittlerweile genau wie er der Ansicht war, dass es nicht zumutbar wäre mich nach Hause zu entlassen, bevor nicht geklärt und aufgeklärt war, was an dem besagten Tag wirklich vorgefallen war.
Michaela wohnte allein in einem kleinen Vorort in einem großen Haus, das sie von ihren Großeltern geerbt hatte. Es war ein Eckhaus, wie ich es mir immer gewünscht hatte, groß, hell, dessen Balkone liebevoll mit Blumen bepflanzt waren. Vor dem Haus befand sich ein kleiner Zierrasen, hinter dem Haus ein großer Garten, in dem nur noch eine Sandkiste, eine Schaukel und Kindergeschrei gefehlt hatten.
Beide sahen hier nur eine Alternative, kurzerhand quartierten sie mich bei Michaela ein und übernahmen somit die häusliche Betreuung. Steve wohnte direkt in der Stadt in einem kleinen Einzimmerappartement. Er packte ein paar Sachen und zog dann zu uns. Michaela hatte genügend Platz für uns alle drei, ohne dass wir uns gegenseitig gestört hätten.
Meine beiden Privatärzte, wie ich sie spaßig nannte, teilten sich ihre Schichten so ein, dass ich nie allein war. Einer von beiden war immer in meiner Nähe.
Ich hatte mein Zimmer im ersten Stock. Auf der einen Seite neben mir lag das Bad und auf der anderen hatte Steve sich eingerichtet. Michaela hatte ihr Reich im Erdgeschoss.
Was ich jetzt noch nicht wusste, war die Tatsache, dass Michaela nicht ganz uneigennützig dachte. Sie lebte allein und Steve war nicht gerade der Mann, den man als Vogelscheuche bezeichnete. Sie hatte sich nach einigen Diskussionen damit einverstanden erklärt, dass Steve in meiner Nähe wohnte, jedoch war sie nicht sehr glücklich darüber.
Für mich war Steve in dieser Zeit ein Mensch, der für mich da war, wenn ich ihn brauchte, der mir zuhörte und mich verstand – zumindest versuchte er es.
Ich genoss die Zeit mit den beiden. Wir hatten einen herrlichen Spätsommer und ich hatte das Gefühl, als wäre es nie anders gewesen – ich fühlte mich frei bis zu dem Tag, als...
- - -
Es war wieder ein schöner warmer Nachmittag. Ich vergnügte mich mit einem Buch im Garten, während Steve im Haus war, mich zeitweise beobachtete und hin und wieder gegen die Scheibe klopfte, um zu sehen, ob mit mir alles OK war. Sicher war es das, es konnte mir doch gar nicht besser gehen.
Wir hatten das Wochenende vor uns und Michaela wollte vom Dienst aus bei mir zu Hause vorbeifahren und Stefanie abholen. Sie sollte das Wochenende mit uns verbringen. Ich freute mich riesig auf sie.
Ich lag auf dem Rasen und wollte gerade meine Sachen zusammenpacken – Michaela wollte in etwa einer halben Stunde mit Stefanie da sein – als plötzlich an der Straße direkt vor dem Haus ein Auto hielt. Ich hätte es sicher nicht weiter beachtet, wenn der Fahrer nicht den Motor hätte laufen lassen. Ich ging ein paar Schritte zur Straße hinunter. Da stand das Auto, ein gelber Kleinwagen, den Fahrer konnte ich nicht sehen, aber von dem Beifahrer wusste ich, ich hatte ihn schon einmal zuvor gesehen. Ich wusste nicht, woher ich ihn kannte, aber ich wusste, es konnte keine angenehme Begegnung gewesen sein. Der Beifahrer grinste mich an, es war ein unangenehmes, ja sogar ekelerregendes Grinsen. Es dauerte einige Sekunden, dann fuhr der Wagen mit quietschenden Reifen los.
Ich stand wie angewurzelt da. Ich wusste nicht, wie ich mich bewegen sollte, ich war nicht in der Lage dazu. Nachdem Steve an die Scheibe klopfte und ich nicht reagierte, kam er aus dem Haus gerannt, stürzte auf mich, packte mich an den Schultern und sah in meine entsetzten Augen. Er packte mich fester, schüttelte mich an den Schultern und schrie mich an. Ich sah ihn nur an oder besser gesagt sah ich durch ihn hindurch. Alles schöne, was ich die letzte Zeit erlebt hatte, alles das, was ich zu verdrängen versucht hatte, zerbrach innerhalb von einigen Sekunden. Ich war nicht mehr Herr über mich selbst. Was waren das für Männer in diesem Auto? Warum hatten sie mich so verstört? Ich brach in mich zusammen und wie mir Steve später erzählte, fing ich an zu schreien und um mich zu schlagen, so dass er keine andere Möglichkeit sah, als mich mit Medikamenten ruhig zu stellen.
Als Michaela mit Stefanie nach Hause kam, war glücklicherweise schon alles vorbei. Stefanie hätte es nicht verkraftet mich in diesem Zustand zu sehen.
Steve hatte mich in mein Zimmer gebracht und saß neben mir auf einem Stuhl. Ich konnte ihn nur verschwommen wahrnehmen.
Er hatte mir sehr viel später einmal davon erzählt, dass ich in meinem Halbschlaf angefangen hatte wirres Zeug zu reden. Trotz allem hatte er all dieses aufgeschrieben, in der Hoffnung, es könnte durch mein Unterbewusstsein Aufschluss über die vorgefallenen Geschehnisse geben. Alles das, was mein Unterbewusstsein über die Zeit verdrängt hatte.
Immer wieder sagte mir mein Verstand, es war nur ein Zufall, dass der Wagen vor dem Haus hielt. Ich hatte mir alles nur eingebildet. Was sollten diese Männer von mir auch gewollt haben. Mein Innerstes sagte mir jedoch, es war kein Zufall, die wussten genau was sie taten und was sie wollten.
Michaela hatte den Vorschlag gemacht, mich unter Hypnose zu setzen. Erfahrungen hätten gezeigt, dass vom Unterbewusstsein verdrängte Vorkommnisse unter Hypnose freigegeben werden. Davon wollte Steve jedoch gar nichts wissen, er war strikt dagegen.
Schon am nächsten Tag hatte ich an den Vorfall schon fast nicht mehr gedacht, als Steve mich nach dem Frühstück beiseite nahm, er wollte mit mir über den gestrigen Tag reden. Er fragte mich, warum ich so verstört reagiert hatte, aber ich schob ihn beiseite, ich konnte es ihm nicht sagen. Nein, ich glaube, ich wollte nur nicht darüber reden. Jetzt spürte ich in mir wieder diese Angst. Angst vor allem und auch Angst vor ihm.
Die nächsten Tage ließ mich Steve in Ruhe, er wusste, je mehr er mich bedrängte, umso mehr würde ich ihn abweisen. Seit diesem Tag wachte er noch mehr über mich, mehr über meinen Schlaf. Ihm war scheinbar noch mehr daran gelegen alles zu ergründen als mir selbst. Wollte ich vielleicht gar nicht mehr wissen, was geschehen war an diesem Tag und vor allem mit mir?
Auch Steve wurde bewusst, dass unser Verhältnis zueinander seit dem Tag wieder distanzierter war. Er suchte mehr und mehr meine Nähe und nahm sich Sonderurlaub, um noch mehr für mich da zu sein. Dieses war allerdings alles zum Leidwesen von Michaela. Ich bemerkte, dass sie eifersüchtig auf mich wurde. In der Zeit zuvor waren beide bis auf die Wochenenden nie gemeinsam mit mir zusammen, so dass sie es nicht bemerkt hatte, wie sehr sich sein Leben ganz allein auf mich konzentrierte. Jetzt konnte sie es Tag für Tag beobachten.
Es waren nun einige Wochen vergangen, in denen wir bei Michaela wohnten. Dass es kein Dauerzustand werden dürfte, war von Anfang an besprochen. Zudem ging es mir von Tag zu Tag besser. Auf der einen Seite konnte ich mir ein Zusammenleben ohne die beiden kaum noch vorstellen, auf der anderen Seite freute ich mich selbstverständlich auf meine eigenen vier Wände, auf meine Stefanie und darauf, mich wieder ganz frei bewegen zu können. Mal einfach down zu sein und weinen zu können, ohne dass gleich jemand hinter mir stand und mich zur Rede stellte, warum ich dieses oder jenes gerade jetzt tat.
Jetzt trug ich schon eine ganze Weile mit mir herum das Thema anzusprechen und das auszusprechen, worüber wir alle drei schon eine Weile nachdachten. An einem Samstag Morgen beim Frühstück hatte ich das Gefühl, dass es der richtige Zeitpunkt war. Michaela war sehr erleichtert darüber, dass ich diejenige war, die den Anfang machte, sie hätte nicht gewusst, wie sie es hätte mir sagen sollen. Zudem schwebte ihr natürlich vor, Steve würde auch weiterhin bei ihr wohnen bleiben, so hätte sie ihn dann ganz für sich allein gehabt.
Steve hingegen reagierte da ganz anders, er blockierte und sagte dann sehr bestimmt, dass ich aus medizinischer Sicht noch lange nicht darüber hinweg wäre und noch lange seine Hilfe bräuchte.
Seine Hilfe – für wen hielt er sich eigentlich?
An diesem Tag redeten wir alle sehr wenig miteinander. Man merkte, es lag etwas in der Luft. Jeder von uns wollte irgendetwas sagen, aber keiner wusste was und vor allem wie.
Ich hielt mich in meinem Zimmer auf und las sehr viel.
In einer Ecke des Zimmers stand der Schreibtisch, an dem Steve so einige Nächte verbracht hatte, in denen er meinen Schlaf überwacht hatte. Nebenbei saß er an einer medizinischen Arbeit, mit der er sich schon seit längerem beschäftigte.
Ich weiß nicht warum, aber ich hatte das bestimmte Verlangen mir seine Aufzeichnungen auf seinem Schreibtisch anzusehen. Ich hatte Zeit und war ungestört – dachte ich.
Auf der einen Seite lag ein Block mit datierten und detaillierten Aufzeichnungen mit genauer Zeitangabe über etwaige Sachen, die ich im Schlaf gesprochen hatte. Dies alles war sehr aufschlussreich. Es tauchte immer wieder der Name Nick und Beschreibungen von seinen Freunden auf. Ich kann es mir nicht erklären, aber obwohl es wichtig hätte für mich sein sollen, was er aufgeschrieben hatte, interessierten mich diese Dinge ganz und gar nicht. Also legte ich die Aufzeichnungen relativ schnell wieder beiseite. Vielleicht wollte ich gar nicht wissen, was an diesem Abend geschehen war. Ich hatte nicht bemerkt, dass die Tür leise geöffnet wurde und Steve ins Zimmer trat. Als er mich am Schreibtisch sah verließ er wortlos das Zimmer und ließ die Tür leise ins Schloss zurückfallen, so leise, dass ich ihn nicht bemerkte.
Ich durchstöberte weiter seinen Schreibtisch. Aufzeichnungen über Krankheitsverläufe und ähnliches, alles Dinge für seine Arbeit. Aber hier, was war das, so eine Art Tagebuch.
Es waren nur lose Blätter, ich versuchte sie zu ordnen und zu sortieren. Das erste Datum war der 17. Juli, ein Tag nachdem man mich gefunden hatte!
- - -
Wir wollten meinen Auszug nicht überstürzen, hatten uns aber einen Zeitraum von zwei Wochen gesetzt. Mir ging es gut, wie selten zuvor und ich dachte nicht darüber nach, wie schnell die Zeit doch verging. Obwohl ich alles mittlerweile doch sehr locker sah, hatte ich immer wieder das Gefühl, als sah ich ständig und überall das kleine gelbe Auto. Da ich die beiden nicht weiter beunruhigen wollte, behielt ich dieses dann für mich. An manchen Tagen fuhr das Auto an unserem Haus vorbei, an anderen hielt es genau wie beim ersten mal direkt vor der Pforte. Was versuchten diese Männer damit zu bewirken? Wollten sie mir einfach nur Angst machen oder war es mehr? Auch wenn Steve und Michaela es mir nicht anmerkten, ich bekam es wieder mit der Angst. Sollte alles wieder von vorne anfangen?
Nun war der Tag gekommen, ich wollte wieder in meine Wohnung zurück. Ich wollte wieder mein eigenes Leben leben, wieder meiner Arbeit nachkommen und versuchen zu vergessen. Ich packte meine Sachen zusammen und verabschiedete mich von Michaela, die mich trotz allem schweren Herzens gehen ließ. Sie wusste, dass auch Steve das Haus verlassen wollte.
Die erste Hürde, die nun zu überwinden war, hieß Nick. Er wohnte noch in meiner Wohnung. Stefanie hatte ihm erzählt, dass ich an diesem Tag wieder nach Hause kommen würde. Er hatte jedoch noch keinerlei Anzeichen gezeigt, seine Sachen zu packen und auszuziehen. Stefanie saß nun zwischen zwei Stühlen. Auf der einen Seite wusste sie, wie es zwischen Nick und mir stand, auf der anderen wollte sie ihn als Freund nicht verlieren. Aber was geschehen war, war geschehen und auch er musste seine Konsequenzen ziehen.
Steve hatte mich nach Hause gebracht. Er wollte noch mit nach oben kommen, aber ich wollte es nicht. Ich wusste, dass Nick oben sein würde und es hätte sicher Streit gegeben. Als ich ausstieg sagte er mir noch, er würde solange unten im Auto sitzen bleiben, bis Nick mit seinen Sachen das Haus verließe.
Als ich das Treppenhaus hochging, blieb ich beim ersten Fenster stehen und winkte ihm noch einmal zu. Als ich bei dem nächsten Fenster ankam und raussah, war ich wie erstarrt. Da war es wieder, das Auto, der gelbe Kleinwagen mit dem mir bekannten Beifahrer.
Dieses mal konnte ich den Fahrer sehen, der mir auch nicht unbekannt war. Aber woher kannte ich diese Männer? Der Wagen hielt direkt vor unserer Haustür und es stiegen vier Männer im Alter zwischen 25 und 30 Jahren aus. Sie gingen in unser Haus. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, ich musste weg, irgendwie, nur weg.
Was wollten sie hier? Was wollten sie von mir?
Ich konnte nicht in meine Wohnung. Wenn sie wussten, dass ich hier war, wussten sie auch, wo ich wohnte. Ich musste nach oben, ganz nach oben. Ich setzte mich auf die Treppe und verhielt mich ganz still. Jemand klingelte. Es klingelte an meiner Tür. Ich dachte nur, nein Stefanie, nicht aufmachen. Mach bitte nicht auf. Die Tür wurde geöffnet und ich hörte mit Entsetzen die Stimme von einem der Männer: „Hi Nick, immer noch hier? Ich dachte, sie kommt zurück?“ Die Männer betraten die Wohnung, meine Wohnung und bevor Nick die Tür schloss, hörte ich ihn mit leicht betretener Stimme antworten: „Ich erwarte sie jeden Moment. Ist vielleicht nicht so prickelnd, wenn sie euch hier antrifft.“ Ich wusste, ich kannte die Stimme, es war die Stimme vom Telefon und ich kannte die Person, es war die Person, die mich aus dem Auto angegrinst hatte.
Aber was hatte Nick mit diesen Männern zu tun?
Hastig lief ich die Treppe wieder hinunter. Ich rannte zu Steve zum Auto, riss die Tür auf und schrie: „Fahr los! Jetzt fahr schon, bitte, fahr los!“
Steve, der nicht verstand, warum ich so apathisch war, fragte nicht weiter und fuhr los.
Ich fing an hysterisch zu werden, ich schrie und schrie. Er konnte nicht verstehen, was ich schrie und fuhr wieder zu Michaela zurück. Dieses mal war ich damit einverstanden, dass er mir ein leichtes Beruhigungsmittel gab.
Jetzt wusste ich es wieder. Ich hatte alles bildlich vor Augen. Ich wusste, was an diesem Abend geschehen war...
- - -
Obwohl Steve mir nur ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben hatte, schlief ich einige Stunden.
Als ich dann wieder aufwachte, saß er neben mir, er saß nicht auf einem Stuhl neben meinem Bett, er saß auf dem Bett und beobachtete mich.
Ich sah in seine Augen, aber es waren nicht die Augen, die ich kannte. Es waren Augen, die noch freundlicher, leuchtender und offener waren, als die, die ich zuvor gesehen hatte.
Es waren Augen, die in meine Seele sahen, das sahen, was sonst keiner sah.
In seinen Händen hielt er seine Aufzeichnungen, die er über meinen Schlaf gemacht hatte. Er hielt sie mir entgegen und sagte: „Hättest Du sie zu ende gelesen, hättest Du verstanden, warum ich nicht wollte, dass Du zurück gehst.“
Ich hatte in meinen Träumen alles erzählt, was vorgefallen war.
Die angeblichen Kollegen, die neuen Freunde von Nick, waren irgendwelche schrägen Typen, die er in einer Kneipe kennengelernt hatte. Er, gutgläubig, wie ich ihn kannte, hatte ihnen bei einem Trinkgelage sehr viel über uns und vor allem über mich erzählt. Sie sprachen über Dinge, die nur Nick und mich betrafen. Er erzählte ihnen unerklärlicherweise Dinge, die keinen anderen etwas angingen. Dinge, die ich nicht einmal mit Stefanie besprach. Sie wussten auch von Dingen, die wir unternommen hatten sowie auch von unseren allabendlichen Spaziergängen.
So waren diese vier Männer uns an jenem Abend gefolgt und hatten uns beobachtet. Sie hatten Nick überrumpelt, ihn an einen Baum gebunden und angefangen mich vor seinen Augen zu schlagen und zu misshandeln, bis sie dann in ihrem Rausch nicht umhin konnten, mich auch noch zu vergewaltigen.
Nachdem sie dann von mir abgelassen hatten, schnitten sie ihn los. Er stand so unter Schock, dass ich nur noch sah, wie er wegrannte. Bei der Polizei hat er dann anonym angerufen, wer weiß, wann ich sonst gefunden worden wäre.
Jetzt, wo mir wieder alles bewusst wurde, war mir, als roch das ganze Zimmer nach Alkohol. Ein Geruch, der zum einem vertraut, zum anderen so abstoßend auf mich wirkte, da ich das Gefühl nicht loswurde, als hätte ich den Atem dieser Männer vor mir.
Steve ging zum Telefon und rief Kommissar Martens an, der sofort in meine Wohnung fuhr, um die vier Männer, die mit Nick am Tisch saßen, auf ihn einredeten und ihm drohten, zu verhaften. Nick, der nicht ganz unschuldig an allem war, hatten die Beamten auch mitgenommen.
Steve musste noch einmal weg. Er nahm sein Tagebuch vom Schreibtisch „Ich fahre jetzt los und hole Stefanie“. Bevor er ging, gab er mir das Tagebuch. Demnach wusste er nicht, dass ich es schon einige Tage zuvor gelesen hatte.
Seit dem ersten Tag, an dem er bei mir war, hatte es bei ihm gefunkt, er hatte sich in mich verliebt.
Jetzt, nachdem mir wieder bewusst war, was mir an jenem Abend zugestoßen war, lag noch eine Menge Arbeit vor mir, die ich nicht allein bewältigen sollte. Ich hatte noch eine schwere Zeit mit Aussagen bei der Polizei und letztendlich die Gerichtsverhandlung vor mir, in der ich diesen schrecklichen Abend noch einige Male durchleben sollte.
Wie die Sache für Nick wohl ausgehen mochte?
Die Zeit, die Steve fort war, nutzte ich, das Tagebuch noch einmal von Anfang an zu lesen. Alles, was ihm in so manchen Momenten durch den Kopf ging, Gefühle, die er hatte, waren hier zu Papier gebracht. Kurz bevor die Haustür aufgeschlossen wurde, las ich seinen letzten Eintrag, den er aufschrieb, kurz bevor wir das Haus verließen:
„Ich hoffe, dass dieses Gefühl niemals so endet, wie das zwischen Nick und Dir!“