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Erste Lieben
Ich kickte meine Schuhe auf den Boden, stellte mich auf die Fußspitzen und reckte den Hals. Hinter der Topfsammlung ragte aus einer roten Plastiktüte ein helles, nacktes Füßchen steif nach oben. Ich zog an dem kalten Teil, bis zuerst ein entblößter Hintern und dann ein Knäuel weißer Baumwollstoff zum Vorschein kam. Ungeduldig zerrte ich. Zwei verdrehte Ärmchen ragten empor. Ein Köpfchen schlug auf, begleitet von einem blechernen Piepsen. In einem spitzengesäumten Unterröckchen, sonst völlig nackt, lag sie in meinen Armen. Ich schaute auf das Gesicht, die geschlossenen Lider mit den dichten, zarten Wimpern wie schwarze Pinsel und die hellbraun aufgemalten Haare. Fest um den Bauch gefasst, beugte ich sie vor und zurück. Sie krächzte mir mit hoher Stimme „Mama“ entgegen und schaute mich mit großen, blauen Kulleraugen an. Über ein halbes Jahrhundert war vergangen und sie war immer noch wunderschön. Mein Puppenkind. Es war meine erste große Liebe.
Von meiner neu entdeckten Lieblingspuppe fiel mir partout der Name nicht ein. Doch ich mochte nicht weiter nachgrübeln, packte sie wieder ein und verschob alles Weitere auf einen sommerlichen Putztermin.
Einige Zeit später, donnerstags, telefonierte ich mit meinem Sohn. Er berichtete, dass er über das Wochenende ein Mädchen aus seiner Berufsschulklasse eingeladen hätte. Das ist nichts Besonders, Mädchen sind öfters bei ihm zu Gast. Aber ich bekomme sonst nur nebenbei von Besucherinnen erzählt und um meine Neugier im Ansatz zu stoppen, gerne mit dem Zusatz „alles rein platonisch“. Auf meine Nachfrage, ob „über das Wochenende“ auch bedeutet, dass er sie sonntags zum Mittagessen mitbringt, erhielt ich nur ungenaue Angaben: mal sehen, Essen sei ja genug da, nur keine Umstände. Ich bemerkte, dass es wohl ein besonderes Mädchen sei. „Na ja, irgendwie schon. Mal abwarten wie das Wochenende so läuft“, schloss er das Gespräch.
Diese Aussage bescherte mir eine unruhige Nacht und steigerte sich am Freitagvormittag zur Arbeitsunfähigkeit. Also aktivierte ich im Büro den Anrufbeantworter, startete mit dem Auto in Richtung Sohn und besorgte unterwegs Blumendekoration. In seiner Wohnung angekommen, ordnete ich das Wäschechaos, spülte Geschirr und putzte das WC. Mit dem Ergebnis, dass mein Sohn abends angesäuert anrief, ich hätte seinen eigenen Stil entfernt. Ich konterte, dass sein so genannter Wohnstil dem eines Saustalls gleicht. Zum Schluss der Debatte urteilte er, dass Saubermachen einer meinen besseren Ideen sei und somit ok. Jetzt müsste er sich aber auf den Weg machen und das Mädchen vom Bahnhof abholen.
Samstag hielt ich es bis 16 Uhr aus, dann rief ich bei ihm an. Er meldet sich nicht wie gewohnt mit einem knappen „Ja!“ sondern mit “Ja bitte?“. Das Zusatzwort genügte, um die Sachlage zu deuten: Sein Besuch war noch da. Ich daraufhin angestrengt ungezwungen: „Wollte nur mal fragen, ob alles in Ordnung ist.“ Er überraschend freundlich und locker: „Ja, wir machen es uns gemütlich. Tschüß bis Morgen.“ Der Hörer wurde schnell aufgelegt. Meine ungelenk formulierte Frage „Kommt ihr zu zweit…du zusammen…?“ hing in der Luft.
Am Sonntag kam er allein, spät und unausgeschlafen zum Mittagessen. Nach dem allgemeinen Hallo folgte gleich mein: "Na und?" Er: "Hab' ne’ Freundin!" Kürzer konnte man die Neuigkeit nicht zusammenfassen. Ich versuchte krampfhaft gelassen zu wirken. Was fragen, wenn man vor Ungeduld platzt und es nicht peinlich werden soll? „Wie war’s?“ ist schon zu viel. Meine Hinweise, dass mit aktuellem Stand Freitag sein Mineralwasser zur Neige ging und nur noch eine Rolle Klopapier vorrätig gewesen sei, war nicht minder unangemessen. Keine Reaktion von ihm. Aber wen interessieren irdische Anliegen, wenn man im Himmel schwebt?
Fast schweigsam nahmen wir das Essen ein. Mein Mann erkundigte sich nach beruflichen Dingen und erhielt knappe Antworten. Erst nach und nach kam der Steckbrief seiner Besucherin zum Vorschein: schönes, eher sehr schönes Mädchen, 18 Jahre, lange dunkle Haare, wohnhaft in Rüsselsheim, niedliche Wohnung. Wieder nach Hause gebracht, verbunden mit hohen Spritkosten bei leerem Kontostand. „Dann hattet ihr ja eine tolle Zeit“, sagte ich und plante, ein wenig Spritgeld zuzusteuern. Das war mir die Herzklopfen-Geschichte allemal wert.
Mein kleiner, großer Sohn war verliebt. Wie spannend! Mein Mann hatte kommentarlos zugehört. Er schaute mich verschmitzt lächelnd an. Seinem Blick nach zu urteilen, fühlten wir in diesem Moment das Gleiche. Wie schön es doch war, Schmetterlinge im Bauch noch gemeinsam zu spüren. Und wie gut es ist, seine Erinnerungen zu bewahren.
"Wie heißt sie eigentlich?" fragte ich. Mein Sohn strahlte über das ganze Gesicht: „Ihr Name ist so besonders wie sie. Sie heißt Sarah!" Und während ich antwortete: "Was für ein hübscher Name“, fiel es mir wieder ein: So heißt meine Lieblingspuppe auch.