- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Erste Liebe
Nach der Arbeit gehe ich noch auf ein Bier zu Phil. Er ist Brauer und hat immer zwei, drei Kästen in seiner Küche. Das Bier ist ungekühlt, er findet nur Anfänger trinken ihr Bier kalt. Nach einer Weile wühlt er einen Stapel Fotos aus der Kommode. Längst vergangene Parties, blasse Gesichter neben umgestürzten Bongs, Leute die aussehen als gehörten sie dringend ins Krankenhaus. Er öffnet eine Bildertasche und nach zehn oder zwanzig Londoner Sehenswürdigkeiten taucht ein Foto von Eva und mir auf. Wir sitzen Rücken an Rücken auf dem Stockbett der Kabine. Ich wusste nicht einmal, dass Phil den Moment fotografiert hatte. Ich bin noch ein Kind auf dem Bild. Damals war ich vierzehn, aber sehe aus wie acht oder neun. Eva dagegen wirkt wie eine junge Frau, dabei war sie selbst erst zwölf. Ihre Augen blicken an der Kamera vorbei und sie lächelt nicht. Trotzdem sieht sie süß aus mit ihren braunen Augen, braunen Haaren und einem viel zu weiten Leinenoberteil.
Die Rückfahrt, Dover – Rotterdam dauerte vom Einbruch der Nacht bis zum Sonnenaufgang. Wir ließen eine Flasche Apfellikör kreisen und wir rauchten so viel, dass Phil alle zwei Stunden neue Schachteln besorgte.
Unsere Gruppe besetzte den Teppich des Deckflurs, bis das Personal Verstärkung holte und uns verscheuchte. Einer bot seine Kabine an und so drängten wir uns auf die beiden Liegen des Stockbetts.
Ich saß Rücken an Rücken mit Eva. Wir gingen nicht soweit, zu sprechen oder Händchen zu halten, aber wir drückten unsere Rücken aneinander und taten so, als ob die Müdigkeit unsere Köpfe auf die Schultern des jeweils anderen sinken ließ. Ich roch ihre Haare und den milden Duft ihrer Haut.
Das war nicht wenig. Das war mehr, als ich bis dahin erlebt hatte und so kam es, dass nach kurzer Zeit, Minuten vielleicht, oder Stunden, wer weiß das schon, mein Herz einen neuen Rhythmus schlug.
In den Tagen nach der Ankunft zuhause schlief ich, ging in die Schule, aß, duschte, hörte die Smashing Pumpkins im Radio und blieb zugleich immer in dieser Kabine auf dem Schiff.
In mir flackerten beinahe abstrakte Vorstellungen von Nähe auf. Tanzen kam darin vor, gemeinsames Tanzen. Oder mit ihr auf dem Fußboden sitzen. Wie auf der Fähre, Rücken an Rücken gelehnt, ihre Wange an meiner.
Das Problem war, dass ich am Mittag nach der Überfahrt und der Ankunft des Busses in Nürnberg nicht den Mut besessen hatte, nach ihrer Adresse oder Telefonnummer zu fragen. Ich wusste nicht einmal ihren Nachnamen. Einen anderen Reiseteilnehmer fragen kam nicht in Betracht. Wenn meine Freunde davon Wind bekommen hätten, wäre der Spott heftig geworden. Zumindest glaubte ich das. Oder glaubte etwas in dieser Richtung. Oder hatte einfach nur vage Furcht vor Enttäuschung, vor dem Neuen, vor ihr.
Also geschah nichts. Ich hing weiter mit meinen Jungs rum, wir spielten Karten und zündeten Silvesterböller unter Kanaldeckeln oder vor fremden Haustüren.
Meist dachte ich an sie am Morgen, unter der Dusche und am Abend, vor dem Einschlafen. Genauso im Unterricht, wenn es um mäandernde Erdschichten ging oder um Trigonometrie. Nicht zu selten warfen mir Thorsten und Phil, meine Jungs, auch beim Kartenspiel einen Mangel an Aufmerksamkeit vor. Kurz, ich dachte ständig an sie, jede Sekunde, überall.
An einem Mittwoch täuschten Thorsten und ich Übelkeit vor, so dass wir um 11.15 Uhr die Schule verlassen durften. Phil war ohnehin die letzten Wochen nicht gegangen, seine Eltern hatten sich getrennt und mit der Entdeckung von Marihuana schmeckte ihm der Unterricht nicht mehr. So konnten wir uns schon um halb zwölf am Bahnhof im Mc Donald’s treffen. Wir pokerten um Zehnpfennigstücke und ab und zu holten wir uns eine neue Cola.
Gegen zwei ging die Tür auf und Nils betrat das Mac. Er war mit Phil und mir in England gewesen und stammte wie Eva aus Herzogenaurach. Wir schüttelten Hände, „was’n Zufall,“ er holte sich zwei Burger und setzte sich an den Tisch neben uns. „Übrigens,“ sagte er zu mir, „Eva würde dich gern mal wieder sehen. Sie hat mich nach deiner Nummer gefragt, aber die hatte ich ja nicht. Ich geb’ dir mal ihre.“
Er schrieb die Zahlen auf seine Serviette und reichte sie mir. Ich konnte nichts sagen. Ich tat so, als würde ich von meiner Cola trinken, aber das Schlucken war unmöglich geworden. Etwas wuchs in mir, brauchte Raum und schnürte Speise- und Luftröhre ab. Mir war wahnsinnig heiß. Ich senkte den Kopf, damit der Schirm meines Caps mein Gesicht verdeckte. Ein Gespräch zwischen den anderen kam nicht in Gang. Nils verabschiedete sich und stand auf.
Phil wartete bis er weg war und blickte mich an: „Die ist doch viel zu jung.“
„Wie alt isse denn?“, fragte Thorsten.
Phil zuckte mit den Schultern. „Zwölf glaub’ ich, oder jünger.“ Er drehte den Kopf wieder zu mir. „Des kannst net bringen. Schmeiß das Ding lieber gleich weg.“
Thorsten sah Phil an, dann mich und hob die Augebrauen: „Soll ich’s für dich machen?“
Ich hatte nach wie vor keine Stimme. Ich fühlte nicht, was die beiden sagten, aber von der Logik überzeugte es mich irgendwie. Ich versuchte meine Hand mit der Serviette zu heben und nach einer Weile gelang es mir. Thorsten nahm mir das Papierstück ab und steckte es in das große Maul des Mc Donald’s Mülleimers.
Ich hab sie dann nie wieder gesehen.
Ich blicke von dem Bild auf zu Phil. „Ihr Arschlöcher habt damals gesagt, sie sei zu jung für mich. Ihr Spinner.“
Phil sagt nichts und nimmt einen Zug von seinem Bier. Vielleicht denkt er, das ist alles nur Gerede. Und vielleicht ist es das auch.
Wir sprechen über die anstehende Silvesterparty. Und wie die letztes Jahr gewesen ist.
Nur das Foto, das halte ich noch fest und als Phil nach neuen Bieren greift, schiebe ich es in meine Jackentasche.