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Erst morgen
Er drehte die Zigarre in seinen Fingern und prüfte dabei das Deckblatt. Farbe und Struktur waren ohne Makel, was man bei dem Preis ohne Weiteres erwarten durfte. Zufrieden setzte er den Zigarrenschneider an und schnitt ein kurzes Stück vom geschlossenen Ende der Zigarre ab.
"Worüber wolltest du mit mir reden?"
Die Stimme gehörte seiner Enkelin, die ihm gegenüber an einem kleinen runden Tisch auf der Veranda saß. Er sah zur ihr hinüber, direkt in die blaugrauen Augen, die ihn jedes Mal an seine verstorbene Frau erinnerten. "Gleich, meine Liebe", antwortete er. Er zündete die Zigarre an und entließ dann eine beachtliche Wolke Rauch aus seinem Mund.
"Was glaubst du, wo Oma jetzt ist?"
Sie blickte ihn etwas verwundert an. "Wie meinst du das? Sie ist tot!"
Er musste etwas über ihre naive Antwort lächeln und antwortete: "Ich weiß, dass sie tot ist. Aber was heißt das? Wo ist ihre Persönlichkeit? Wohin geht das menschliche Bewusstsein, wenn der Körper stirbt?"
Sie lehnte sich zurück in den Sessel. Das Korbgeflecht ächzte etwas, als es sich ihrer Körperform anzupassen versuchte. Ihr Blick wurde ernst. "Bist du krank? Musst du sterben? Es geht doch bei der Frage um dich, oder?"
Er blickte etwas verlegen auf seine Zigarre und holte etwas tiefer Luft. "Deswegen habe ich dich um das Gespräch gebeten. Du versteht, was zwischen den Zeilen steht. Ja, ich werde sterben, das werden wir alle, aber ich hoffe nicht so bald."
Er sah auf und suchte ihren Blick. Seine Lippen versuchten ein beruhigendes Lächeln zu formen. "Nein, ich bin nicht krank." Er sah, dass das Lächeln nicht die erwünschte Wirkung hatte.
"Warum dann deine Frage?"
Er presste die Lippen aufeinander und ein flaues Gefühl im Magen stellte sich ein. Seine Augenwinkel wurden etwas feucht. Die Zigarre verlangte nach einem Zug, um nicht vorzeitig auszugehen. Die Worte kamen gleichzeitig mit wirbelnden Wölkchen aus seinem Mund. "Ich habe Angst - vor dem Tod!"
Sie starrte ihn regungslos an.
Er fragte erneut: "Also, was meinst du? Was passiert mit einem Menschen, wenn er stirbt?" Er blickte wieder auf seine Zigarre herab.
Leise antwortete sie. "Ich denke, dass der Geist auf einer anderen Ebene weiterexistiert. So etwas wie der Himmel, nur nicht unbedingt mit Engelsflügeln und Harfe spielen. Aber ohne Sorgen, Leid und Schmerzen."
"Du denkst? Aber du weißt es nicht!"
Ihre Stimme wurde etwas bestimmter, als sie antwortete: "Aber es muss etwas nach dem Tod geben. Was sollte sonst das Ganze? Das Leben, die Erde, das Universum. Dahinter muss etwas stecken, das wir nicht sehen. Das Denken und Fühlen kann nicht nur an den Körper gebunden sein. Es ist mehr als nur elektrische Ströme im Hirn. Das wurde uns gegeben und es wird auch nach dem Tod weiter existieren. Vielleicht anders, womöglich sogar besser."
"Aber du weißt es nicht. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Ich glaube, dass nach dem Tod nichts mehr kommt. Nichts. Ich bin einfach weg. Keine Gedanken. Kein Ich mehr. Einfach nur Leere, die ich noch nicht mal mehr als Leere begreife, weil ich nicht mehr bin." Er blickt auf und sah in ihr leicht verstörtes Gesicht.
Nach einem Augenblick fand sie ihre Sprache wieder. "Nirwana. Du sprichst vom Nirwana!"
"Nein, das tue ich nicht." Er zog erneut an seiner Zigarre. "Nirwana. 'Das höchste Glück'. Ein zynischer Begriff für etwas, vor dem ich unglaublichen Schiss habe. Nein. Für die Buddhisten mag das das Ziel sein. Ich habe einfach nur höllische Angst davor."
"Hast du denn mit Oma darüber gesprochen? Was hat sie dazu gesagt?"
"Sie hätte mich nicht verstanden. Nach ihrer Vorstellung sitzt sie jetzt mit den ebenfalls Gegangenen zu seiner Rechten und wartet auf mich."
Ihre Empörung über das gerade Gesprochene war kaum zu überhören. "Opa. Wie kannst du so von Oma sprechen. Sie war gläubig, ja, du bist es vielleicht nicht. Das gibt dir aber nicht das Recht, sie zu verhöhnen."
Er sah sie irritiert an und wurde sich erst langsam bewusst, was er gerade gesagt hatte. "Entschuldige, du hast recht." Sein Kopf fiel nach hinten an die Lehne des Sessels und er schloss die Augen. "Das wollte ich nicht. Es ist einfach diese Angst, die mich verrückt macht." Und mit zitternder Stimme fügte er hinzu: "Ich liebe sie immer noch. Ich vermisse sie."
Nach einer bedrückenden Stille fragte sie: "Opa. Wie hältst du das aus? Wie kommst du auf solche Gedanken?"
Die Glut der Zigarre hatte mittlerweile einen guten Zoll des Tabaks in einen weißen Aschezylinder verwandelt. Er tippe die Spitze leicht an den Boden des Aschenbechers und die Asche brach sauber kurz neben dem dünnen schwarzen Rand ab, der die Grenze zum noch unverbrannten, dunkelbraunen Tabak bildete. Der Aschefinger löste sich und offenbarte einen dunkelgrauen Kegel, der sofort begann heller zu werden. Bedrückt starrte er die Spitze der Zigarre an.
"Ich weiß nicht warum. Diese Gedanken kommen einfach und gehen erst wieder weg, wenn ich zu erschöpft bin zu denken. Und wie ich das aushalte? Keine Ahnung, ich muss einfach."
Ihr Stirn legte sich kraus und entspannte sich sich wieder als sie zum Reden ansetzte. "Denkst du -" Sie holte noch einmal laut Luft. "Denkst du manchmal daran, das zu - zu beenden?"
Er blickte ihr fest in die ängstlichen Augen. "Nein. Das ist keine Option" Er beugte seinen Oberkörper etwas nach vorne, um ihr Gesicht besser zu sehen, und fuhr fort. "Das ist es ja gerade. Ich möchte nicht sterben. Es würde für mich zwar im Ergebnis keinen Unterschied machen, ob ich ein paar Jahre früher oder später sterbe. Weg ist weg. Aber ich will nicht sterben. Irgendwie schizophren, oder?"
Sie senkte kurz ihren Blick, sah wieder auf in seine Augen, dann erneut nach unten auf ihr Glas auf dem Tisch. Sie sagte nichts.
Er fuhr fort: "Ich wünschte, ich könnte an Gott glauben. An ein Leben nach dem Tod. An ein Wiedersehen mit Oma, meinen Eltern, später auch deinen Eltern und mit dir. Es könnte so leicht und unbeschwert den Rest meines Lebens genießen. Ich beneide jeden, der daran glaubt. Aber ich kann es nicht. Ich wünschte, ich könnte, aber ich kann es einfach nicht."
Schweigend starrte sie weiter ihr Glas an, während er sein Hand hob und seine gesenkten Augen bedeckte. Sein Oberkörper zuckte in ungleichmäßigem Rhythmus vor und zurück.
Sie fand langsam ihre Stimme wieder: "Aber was ist mit deinem Leben? Alles das, was du erlebt hast. Ist da noch etwas, was du noch erleben willst? Ist das der Grund? Meinst du, etwas verpasst zu haben?"
Er löste die Hand wieder von seinem Gesicht und fuhr dabei mit Daumen und Mittelfinger je über ein Auge, bis sie sich über der Nasenwurzel begegneten. Mit geschlossenen Augen durchlebte er noch einmal seine Vergangenheit. Wie im Daumenkino wechselten die Bilder in rascher Folge.
"Ich weiß es nicht. Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Ich hatte ein schönes Leben. Meine Arbeit hat mir Spaß gemacht, was nicht jeder von sich behaupten kann. Ich hatte eine wunderbare und verständnisvolle Frau, habe zwei Kinder, auf die ich stolz sein kann und eine bildhübsche und intelligente Enkelin. Uns ging es finanziell gut, wir haben uns hier ein Nest gebaut und haben einiges von der Welt gesehen. Was sollte ich noch wollen?"
Er öffnete die Augen. Sie hatte sich vorgebeugt, die Unterarme auf den Oberschenkeln abgelegt. Sie sah in seine feuchten Augen. "Opa. Irgendwas muss doch der Grund für deine Angst sein. Es muss sich doch irgendetwas tun lassen, was dir hilft."
Die Zigarre ging langsam zu Neige und er legte den Rest in den Aschenbecher, damit sie langsam ausgehen konnte. "Vielleicht hast du Recht. Ich werde darüber nachdenken."
Sie fasste seine rechte Hand und zog sie etwas zu sich. Ihre Hände nahmen seine in die Mitte. "Bestimmt, Opa. Es muss etwas geben, das wir tun können."
"Danke, Sophie. Danke, dass du mir zugehört hast und versuchst, mich zu verstehen. Es tut gut, mit jemandem darüber zu reden."
"Jederzeit, Opa. Wenn du mich brauchst, bin ich für dich da."
Seine Mundwinkel schoben sich leicht nach oben. "Das Gespräch war anstrengend. Ich bin müde. Ich glaube, ich gehe jetzt zu Bett."
"Kann ich dich alleine lassen?", fragte sie etwas besorgt.
Sein Lächeln wurde etwas breiter. "Klar, ich komme zurecht." Sie erhob sich und umarmte ihn. Dann drehte sie sich zur Treppe und ging hinunter.
Auf der untersten Stufe blickte sie noch einmal zurück und rief: "Du irrst dich, Opa. Es geht weiter..."
Er räumte den Tisch ab und machte sich dann fertig zum zu Bett gehen. Im leicht zerknitterten Pyjama saß er schließlich auf der Bettkante und griff nach dem Röhrchen mit den Schlaftabletten auf dem Nachttisch, die Garanten für einen schnellen Schlaf ohne zu lange in unangenehmen Gedanken wach zu liegen. Er hielt das Röhrchen über seine Handfläche und schüttelte leicht. Zwei Tabletten fielen heraus und er starrte sie an. Sein Blick wanderte zum Röhrchen und er versuchte zu schätzen, wie viele noch darin waren.
"Hoffentlich hast du recht", murmelte er und schob eine Tablette zurück ins Röhrchen. "Du bist erst morgen dran!"